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VfGH vom 17.06.2020, E370/2020

VfGH vom 17.06.2020, E370/2020

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht mangels einer den rechtsstaatliche Erfordernissen genügenden Begründung einer mündlich verkündeten Entscheidung des Bundesfinanzgerichtes betreffend Abgaben nach der BAO

Spruch

I.Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 2 StGG und Art 7 B-VG verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II.Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Mit Bescheid vom zog das Finanzamt den Beschwerdeführer als ehemaligen Direktor der *** gemäß § 9 und 80 BAO für Abgabenschuldigkeiten aus den Jahren 2007, 2008 und 2009 in der Höhe von insgesamt € 2.536.628,25 zur Haftung heran.

2. Mit Beschwerdevorentscheidung vom wies die belangte Behörde die gegen den Bescheid vom erhobene Beschwerde ab. In Entsprechung des Vorlageantrages des Beschwerdeführers vom legte die belangte Behörde die Beschwerde dem Bundesfinanzgericht zur Entscheidung vor.

3. Mit Erkenntnis vom gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde insoweit Folge, als das Bundesfinanzgericht die Haftung des Beschwerdeführers auf einen Betrag in Höhe von insgesamt € 1.483.997,18 einschränkte. Im Übrigen wies das Bundesfinanzgericht die Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für zulässig.

Das Bundesfinanzgericht verkündete die Entscheidung mündlich in der Verhandlung am ; die schriftliche Ausfertigung der mit datierten Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am zugestellt.

4. In der vorliegenden, auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 7 B-VG, durch die Entscheidung des Bundesfinanzgerichtes vom und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof.

5. Das Bundesfinanzgericht legte die Gerichts- bzw Verwaltungsakten vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002). Darüber hinaus begründet das Unterlassen jeglicher Begründung nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes Willkür (VfSlg 12.477/1990, 15.409/1999, 15.696/1999, 17.050/2003, 18.925/2009, 19.519/2011).

3. Ein solches willkürliches Verhalten des Bundesfinanzgerichtes liegt vor:

3.1. Das Bundesfinanzgericht verkündete seine Entscheidung mündlich in der Verhandlung am . In der Niederschrift über den Verlauf der mündlichen Senatsverhandlung vom hielt das Bundesfinanzgericht die bei der mündlichen Verkündung des Erkenntnisses anwesenden Personen sowie (stichwortartig) den Spruch über die teilweise Stattgabe der Beschwerde und die Zulässigkeit der ordentlichen Revision fest.

Zu den Entscheidungsgründen ist in der Niederschrift ausschließlich folgender Absatz festgehalten:

"Zur Begründung wurden Ausführungen zu 2 Schienen hinsichtlich der amtswegigen Verjährungsprüfung getätigt: 1) hinterzogene Abgabe, sollte dies durch den VwGH nicht anerkannt werden, 2) alternative Festsetzungsverjährungsberechnung mit Verfolgungshandlungen und Verlängerungshandlungen zur Ausforschung eines Abgabepflichtigen, Feststellungen zum Abgabenanspruch, Vortrag eines angenommenen chronologisch dargestellten Sachverhaltes mit Anmerkungen zu relevanten Daten im zeitlichen Zusammenhang, mit Beweiswürdigung zum festgestellten Sachverhalt, Bemessungsgrundlagen, Anerkennung des Vorabgewinns als Betriebsausgabe, Ausführungen zum Ort der Geschäftsleitung gegliedert nach Tagesgeschäften der ***, Entscheidungsträgern und Ort der Entscheidungsfindung, Uneinbringlichkeit bei der Primärschuldnerin, Stellung als Vertreter, schuldhafte Pflichtverletzung, Entrichtungspflicht mit Berechnung fiktiver Fälligkeitstage, als weiterer Revisionspunkt, Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Abgabenausfall, Ermessensübung weiterer österreichischer Vertreter der Primärschuldnerin, Zu drei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung wurde eine o. Rev. zugelassen."

3.2. Diese stichwortartige Aufzählung wird den rechtstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher – mündlich verkündeter – Entscheidungen nicht gerecht:

3.2.1. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hat ein mündlich verkündetes Erkenntnis die tragenden Elemente der Begründung zu enthalten. Die schriftliche Ausfertigung der Entscheidung kann den Mangel des Fehlens der wesentlichen Entscheidungsgründe in der mündlichen Verkündung des Erkenntnisses nicht beseitigen (vgl zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren VfSlg 20.267/2018; ua; , E3875/2019 ua). Eine fehlende oder schwerwiegend mangelhafte Begründung belastet eine Entscheidung mit Willkür (vgl zB VfSlg 13.302/1992, 17.642/2005; ; , B130/2014).

In der Bundesabgabenordnung ist eine Pflicht zur Begründung der mündlich verkündeten Entscheidung des Bundesfinanzgerichtes (anders als in § 29 Abs 1 VwGVG) zwar nicht ausdrücklich vorgesehen (vgl in diesem Zusammenhang § 93 iVm § 93a BAO), bereits aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit sind jedoch auch mündlich verkündete Entscheidungen gemäß § 277 Abs 4 BAO zu begründen: Die Entscheidung des Bundesfinanzgerichtes wird mit ihrer mündlichen Verkündung rechtlich existent und ist vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes bekämpfbar (vgl dazu Fischerlehner, Das Abgabenverfahren², 2016, § 277 BAO, Rz 7; Ellinger/Sutter/Urtz, Bundesabgabenordnung, 16. Lfg. 2018, § 277 mwN aus der Rsp). Der Rechtsschutz durch Beschwerde nach Art 144 B-VG wie auch die Revision an den Verwaltungsgerichtshof liefe ins Leere, wäre nicht bereits die mündlich verkündete Entscheidung (im Wesentlichen) zu begründen und damit einer Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof bzw den Verwaltungsgerichtshof zugänglich.

3.2.2. Die Ausführungen zur Begründung des mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesfinanzgerichtes in der Niederschrift vom erschöpfen sich in der Auflistung einiger Rechtsfragen, ohne sich mit diesen aber auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Die mündlich verkündete Entscheidung ist daher inhaltlich weder für den Adressaten der Entscheidung noch für den Verfassungsgerichtshof nachvollziehbar. Es ist anhand der stichwortartigen Aufzählung auch nicht erkennbar, ob das Bundesfinanzgericht damit seine Entscheidung über die Beschwerde des Einschreiters oder die Zulässigkeit der ordentlichen Revision an den Verwaltungsgerichtshof begründet. Den zitierten Ausführungen in der Niederschrift kommt nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes keinerlei Begründungswert zu.

Die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses mit vollständiger Begründung erfolgte zwar und wurde dem Beschwerdeführer am zugestellt; dies kann aber den Mangel des Fehlens der wesentlichen Entscheidungsgründe in der mündlichen Verkündung des Erkenntnisses nicht beseitigen. Insgesamt widerspricht eine derartige Vorgangsweise den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art 2 StGG und Art 7 B-VG verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2020:E370.2020
Schlagworte:
Verhandlung mündliche, Entscheidungsverkündung, Entscheidungsbegründung

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