OGH vom 18.10.2016, 3Ob97/16k

OGH vom 18.10.2016, 3Ob97/16k

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr.

Hoch als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin Dr. Lovrek, die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch und die Hofrätin Dr. Kodek als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Neumayer, Walter Haslinger Rechtsanwälte-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei R***** eGen, *****, vertreten durch Haslinger/Nagele Partner Rechtsanwälte GmbH in Linz, wegen 40.250,11 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom , GZ 4 R 32/16b 24, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom , GZ 26 Cg 97/14i 20, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger erwarb am und am über Beratung der Beklagten, seiner Hausbank, Anleihen der A***** GmbH zum Nennwert von jeweils 20.000 EUR. Aufgrund der Insolvenz der Emittentin erlitt er mit diesem Investment einen Totalverlust.

Der Kläger begehrte von der Beklagten die Zahlung des von ihm investierten Betrags zuzüglich Spesen Zug um Zug gegen Übergabe der erworbenen Anleihen, hilfsweise die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden. Er stützte sich einerseits auf fehlerhafte Anlageberatung durch die Beklagte und andererseits auf ein ihm nach den §§ 5 f KMG zustehendes Rücktrittsrecht. Der Kapitalmarktprospekt sei in mehrfacher Hinsicht unrichtig, unvollständig und irreführend gewesen und habe nicht alle nach der Verordnung (EG) Nr 809/2004 der Kommission vom erforderlichen Mindestangaben enthalten. Die (im Einzelnen dargelegten) fehlenden bzw unrichtigen veröffentlichungspflichtigen Angaben hätten spätestens in einem Nachtrag zum Prospekt richtiggestellt werden müssen.

Die Beklagte wendete ein, sie habe den Kläger nicht unrichtig beraten. Dieser habe auch kein Rücktrittsrecht nach den §§ 5 und 6 KMG, weil der ihm ausgehändigte Kapitalmarktprospekt alle erforderlichen Inhalte aufweise. Außerdem sei er selbst dann nicht zum Rücktritt berechtigt, wenn der erstellte und veröffentlichte Prospekt fehlerhaft gewesen sein sollte. Der Kläger habe kein Vorbringen erstattet, anhand dessen die Rechtzeitigkeit eines allenfalls zulässigen Rücktritts beurteilt werden könnte.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es verneinte die vom Kläger behauptete Fehlberatung und setzte sich mit dem Bestehen des behaupteten Rücktrittsrechts nach §§ 5 f KMG nicht auseinander.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Das Erstgericht habe eine Fehlberatung zu Recht verneint. Ein Rücktrittsrecht nach den §§ 5 und 6 KMG bestehe nach der Rechtsprechung (5 Ob 56/11p) und der Lehre dann nicht, wenn ein Prospekt – wenn auch mit fehlerhaftem Inhalt – erstellt und veröffentlicht worden sei. Hier sei unstrittig ein Kapitalmarktprospekt veröffentlicht worden. Deshalb bestünde auch dann kein Rücktrittsrecht, wenn der Prospekt, wie vom Kläger behauptet, in wesentlichen Teilen irreführend, unvollständig und unrichtig gewesen sein sollte. Abgesehen davon setze ein Rücktrittsrecht des Anlegers voraus, dass er das Wertpapier oder die Veranlagung während des öffentlichen Angebots erworben habe. Der Kläger habe die Anleihen aber erst nach dem Ablauf des im Prospekt Beilage ./D ersichtlichen Angebotszeitraums gekauft.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nicht zu, weil der konkrete Umfang der Beratungs- und Aufklärungspflichten von Banken und Anlageberatern eine Frage des Einzelfalls sei.

In seiner außerordentlichen Revision kommt der Kläger auf den behaupteten Beratungsfehler nicht mehr zurück, sondern stützt sich nur noch auf sein Rücktrittsrecht. Das Berufungsgericht habe übersehen, dass der veröffentlichte Kapitalmarktprospekt dann, wenn er in wesentlichen Bestandteilen irreführend, unvollständig und unrichtig sei, durch einen Nachtrag gemäß § 6 KMG zu korrigieren sei. Von einem öffentlichen Angebot sei immer dann auszugehen, wenn es – direkt oder indirekt – an die Allgemeinheit erfolge, also der intendierte Adressatenkreis – wie hier – prinzipiell unbeschränkt sei.

Die Beklagte beantragt in ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung , der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1.1. Gemäß § 5 Abs 1 KMG können Anleger, die – wie der Kläger – Verbraucher im Sinn des § 1 Abs 1 Z 2 KSchG sind, von einem prospektpflichtigen Angebot oder vom Vertrag zurücktreten, wenn sie ihr Angebot ohne vorhergehende Veröffentlichung eines Prospekts oder der Angaben nach § 6 KMG abgegeben haben. § 6 Abs 1 und 2 KMG lauteten in der hier maßgeblichen (zum Zeitpunkt der Investments des Klägers geltenden) Fassung der KMG Novelle 2005 (BGBl I Nr 78/2005) wie folgt:

„§ 6 (1) Jeder wichtige neue Umstand oder jede wesentliche Unrichtigkeit oder Ungenauigkeit in Bezug auf die im Prospekt enthaltenen Angaben, die die Beurteilung der Wertpapiere oder Veranlagungen beeinflussen könnten und die zwischen der Billigung des Prospekts und dem endgültigen Schluss des öffentlichen Angebots oder, wenn diese früher eintritt, der Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt auftreten bzw festgestellt werden, müssen in einem Nachtrag (ändernde oder ergänzende Angaben) zum Prospekt genannt werden. […]

(2) Anleger, die nach dem Eintritt eines Umstandes, einer Unrichtigkeit oder Ungenauigkeit im Sinne des Abs 1, aber vor Veröffentlichung des darauf bezogenen Nachtrages bereits einen Erwerb oder eine Zeichnung der Wertpapiere oder Veranlagungen zugesagt haben, haben das Recht, ihre Zusagen innerhalb einer Frist von zwei Bankarbeitstagen nach Veröffentlichung des Nachtrags zurückzuziehen. § 5 ist sinngemäß anzuwenden. Handelt es sich bei den Anlegern hingegen um Verbraucher im Sinne von § 1 Abs 1 Z 2 KSchG, so ist auch die in § 5 Abs 4 genannte Frist anzuwenden.“

1.2. Während § 5 Abs 1 KMG nur für Verbraucher-Anleger gilt, steht das durch die KMG Novelle 2005 eingeführte Rücktrittsrecht nach § 6 Abs 2 KMG allen Anlegern zu.

2. Ein Rücktritt nach § 5 Abs 1 KMG ist nach der Rechtsprechung gegenüber dem jeweiligen Vertragspartner zu erklären, unabhängig davon, ob dieser selbst die Prospektpflicht verletzt hat oder nicht, sofern er beim Vertrieb der Wertpapiere im eigenen Namen tätig wurde; nur dann, wenn die beklagte Bank als reiner Vermittler oder Vertreter fungiert, besteht ihr gegenüber kein Kaufvertrag, von dem der Anleger zurücktreten könnte (2 Ob 32/09h; RIS Justiz RS0125648). Nichts anderes kann für einen Rücktritt nach § 6 Abs 2 KMG gelten. Dass die Beklagte nur als Vermittlerin oder Vertreterin tätig geworden wäre, hat sie nicht einmal behauptet, sodass ihre Passivlegitimation zu bejahen ist.

3.1. In der vom Berufungsgericht zitierten Entscheidung 5 Ob 56/11p wurde – unter Berufung auf Kalss/Oppitz/Zollner , Kapitalmarktrecht I § 10 Rz 102 und Zib in Zib/Russ/Lorenz , KMG § 5 Rz 6 – die Auffassung vertreten, dass der Anleger dann nicht zum Rücktritt berechtigt sei, wenn ein Prospekt erstellt und veröffentlicht worden und (nur) sein Inhalt fehlerhaft sei.

3.2. Kalss/Oppitz/Zollner (Kapitalmarktrecht 2 § 7 Rz 44 und § 11 Rz 137 unter Berufung auf Kalss in Perner/Rubin/Spitzer/Vonkilch , Festschrift für Attila Fenyves [2013] [richtig:] 178) begründen ihre Ansicht mit der systematischen Parallele zu dem in § 5 KMG geregelten Rücktrittsrecht wegen Fehlens (und nicht bloßer Fehlerhaftigkeit) des Prospekts und mit dem Verhältnis zur Prospekthaftung gemäß § 11 KMG, die die Fehlerhaftigkeit und nicht das Fehlen einer Information sanktioniere.

3.3. Nach Zib in Zib/Russ/Lorenz , KMG § 5 Rz 6 bestehe bei Erwerb von Wertpapieren nach Veröffentlichung eines Prospekts mit wesentlich fehlerhaftem Inhalt zwar kein Rücktrittsrecht nach § 5 Abs 1 KMG, eine solche Unrichtigkeit des Prospekts sei allerdings gemäß § 6 KMG durch einen Prospektnachtrag zu korrigieren und ziehe ein Rücktrittsrecht aller Anleger nach sich. In gewissem Widerspruch dazu führt dieser Autor allerdings an anderer Stelle (§ 5 Rz 13) aus, dass „das Rücktrittsrecht“ (ersichtlich gemeint: nach § 5 KMG) auch dann bestehe, wenn bei wichtigen neuen Umständen, wesentlicher Unrichtigkeit oder Ungenauigkeit der Prospektangaben der von § 6 KMG geforderte Nachtrag zum Prospekt nicht veröffentlicht worden sei.

3.4. Nach dem klaren Wortlaut des § 5 Abs 1 KMG besteht ein Rücktrittsrecht (nur) der Verbraucher-Anleger auch dann, wenn sie ihr Angebot „ohne vorhergehende Veröffentlichung […] der Angaben nach § 6“, also eines erforderlichen Nachtrags zum Prospekt, abgegeben haben. Ein solcher Nachtrag nach § 6 KMG hat immer dann zu erfolgen, wenn ein wichtiger neuer Umstand oder eine wesentliche Unrichtigkeit oder Ungenauigkeit im Bezug auf die Prospektangaben auftritt bzw festgestellt wird. Angesichts dieser Rechtslage kann die zu 5 Ob 56/11p vertretene Auffassung, die Veröffentlichung eines fehlerhaften Kapitalmarktprospekts schließe die Möglichkeit eines Rücktritts des Anlegers aus, nicht für Fälle gelten, in denen eine Nachtragspflicht im Sinn des § 6 Abs 1 KMG besteht bzw bestand.

4.1. Der Kläger behauptet Unrichtigkeiten des Prospekts, die nicht erst nach dessen Erstellung und Billigung auftraten, sondern von Anfang an vorlagen (und der Emittentin bekannt sein mussten). Es stellt sich deshalb die Frage, ob auch in einer solchen Konstellation ein Rücktrittsrecht des Anlegers (nach § 5 Abs 1 bzw § 6 Abs 2 KMG) in Betracht kommt.

4.2. Kalss/Oppitz/Zollner (Kapitalmarktrecht 2 § 7 Rz 44) vertreten – anders als noch in der ersten Auflage dieses Werks (§ 10 Rz 59) – die Ansicht, das Rücktrittsrecht gemäß § 6 KMG bestehe nur bei völliger Unterlassung eines Nachtrags wegen [nachträglich] geänderter oder neuer Umstände, nicht aber auch wegen der Berichtigung [urspünglich] falsch dargestellter Angaben.

4.3.1. Demgegenüber weist Russ in Zib/Russ/Lorenz , KMG § 6 Rz 4 darauf hin, dass § 6 KMG – anders als noch in seiner Fassung vor der KMG Novelle 2005 – hinsichtlich der Nachtragspflicht nicht zwischen später eintretenden Umständen und schon ursprünglich unrichtigen Prospektangaben unterscheide. An anderer Stelle ( Russ , Gedanken zur kapitalmarktrechtlichen Prospektaktualisierung, in Brandl/Kalss/Lucius/Oppitz/Saria , Finanzierung über den Kapitalmarkt [2006] 53 [54, 73]) verweist er zur Begründung seiner Ansicht, dass der Emittent nicht nur zur Aktualisierung unrichtig gewordener, sondern auch zur Richtigstellung bereits anfänglich unrichtig gewesener und zur Ergänzung ursprünglich fehlender Prospektangaben verpflichtet sei, auf das für Kapitalmarktprospekte geltende Vollständigkeits , Berichtigungs und Aktualisierungsgebot.

4.3.2. In diesem Sinn argumentiert auch Oberndorfer (Die Prospektpflicht nach dem KMG [2014] 176 f): Die in § 6 KMG normierte Nachtragspflicht könne in eine Aktualisierungs- und eine Berichtigungspflicht aufgeteilt werden. Beide Pflichten stünden in einem engen Zusammenhang mit dem prospektrechtlichen Vollständigkeitsgebot, das sich insbesondere aus § 7 KMG ergebe. Durch die Nachtragspflicht werde die Aktualität und Richtigkeit des Prospekts für den Zeitraum gewährleistet, in dem Anleger die angebotenen Wertpapiere oder Veranlagungen erwerben könnten oder bis der Handel an einem geregelten Markt beginne und die sekundärmarktrechtlichen Informationspflichten, insbesondere die Ad hoc Publizität, eingriffen. In diesem Zeitraum habe der Prospekt vollständig und richtig zu sein, weshalb nicht nur neue Umstände, sondern auch anfänglich unrichtige oder fehlende Angaben zu ergänzen bzw zu berichtigen seien.

4.3.3. Zuletzt trat Graf (Zur Nachtragspflicht des Emittenten gemäß § 6 KMG bei anfänglicher Kenntnis der Unrichtigkeit des Prospekts, ecolex 2015, 836 [837 ff]) der in Punkt 4.2. referierten Auffassung von Kalss/Oppitz/Zollner entschieden entgegen: Deren Position sei schon mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht in Einklang zu bringen, weil § 6 Abs 1 KMG nicht nur von neu auftretenden Umständen spreche, sondern auch davon, dass wesentliche Unrichtigkeiten und Ungenauigkeiten der Prospektangaben festgestellt würden; das Gesetz differenziere also eindeutig zwischen der ursprünglichen und der auf neu eintretende Umstände zurückzuführenden nachträglichen Fehlerhaftigkeit. Dieses Ergebnis werde auch durch eine Berücksichtigung der systematischen Zusammenhänge des Gesetzes bestätigt. Die Feststellung der ursprünglichen Fehlerhaftigkeit des Prospekts löse eine Verpflichtung des Emittenten zur Information des Publikums aus. Das Rücktrittsrecht des Anlegers bei gleichzeitiger Anwendbarkeit des § 11 KMG stelle keinen Widerspruch zum Rechtsfolgensystem des KMG dar, sondern vielmehr dessen logische Konsequenz, weil mit der Prospekthaftung das Erstellen eines fehlerhaften Prospekts sanktioniert werde, während das Rücktrittsrecht des Anlegers Konsequenz der Unterlassung der Prospektberichtigung sei. Die Verneinung eines Rücktrittsrechts wegen eines bereits von Anfang an bestehenden Prospektfehlers widerspräche auch dem Gesetzeszweck; bestünde doch eine gravierende Schutzlücke, wenn ein Emittent, den kein Verschulden an der ursprünglichen Fehlerhaftigkeit des Prospekts treffe, im Nachhinein Kenntnis davon erlange. Die Ansicht von Kalss/Oppitz/Zollner hätte in einer solchen Konstellation nämlich zur Folge, dass dem Anleger keinerlei Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden: Weder könnte er vom Vertrag zurücktreten noch hätte er die Möglichkeit, Prospekthaftungsansprüche geltend zu machen, weil diese ein Verschulden des Emittenten voraussetzten. Das Ziel des § 6 Abs 1 KMG, dass die Anleger ihre Veranlagungsentscheidung soweit wie möglich auf Basis aktueller und korrekter Informationen treffen könnten, würde vereitelt, wenn die Berichtigungspflicht sanktionslos verletzt werden könnte. Der Zweck der Nachtragspflicht erfordere deshalb die Geltung des Rücktrittsrechts auch bei anfänglicher Kenntnis der Fehlerhaftigkeit des Prospekts. Wer wissentlich einen fehlerhaften Prospekt zur Billigung oder Kontrolle einreiche, handle aufgrund der Verpflichtung, nur fehlerfreie Prospekte vorzulegen, vorsätzlich rechtswidrig. Einen solchen Emittenten von der Nachtragspflicht zu befreien, hätte zur Folge, dass ein wissentlich rechtswidrig handelnder Emittent besser behandelt würde als einer, dem höchstens Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könne. Die gebotene unionsrechtskonforme Auslegung spreche ebenfalls für das Bestehen eines Rücktrittsrechts in einer solchen Konstellation, weil § 6 Abs 2 KMG den europarechtlichen Vorgaben, nämlich § 16 ProspektRL (2003/71/EG), nahezu wörtlich entspreche. Nach einhelliger Ansicht sei die ProspektRL so auszulegen, dass das Rücktrittsrecht nicht nur im Fall einer Aktualisierungspflicht, sondern auch dann bestehe, wenn die Voraussetzungen für eine Berichtigung gegeben seien.

4.4. Dazu wurde erwogen:

4.4.1. Der Wortlaut des § 6 Abs 1 KMG wie auch des damit umgesetzten Art 16 ProspektRL 2003/71/EG spricht klar für die Ansicht, dass auch bereits ursprünglich vorhandene wesentliche Unrichtigkeiten bzw Unvollständigkeiten ein Rücktrittsrecht des Anlegers begründen können.

4.4.2. Während im ersten, von der Kommission am vorgelegten Vorschlag für diese Richtlinie (ABl C 240 E vom , 272) im damaligen Art 14 unter der Überschrift „Ergänzende Angaben zum Prospekt“ nur auf „jede wichtige neue Gegebenheit, die die Beurteilung der Wertpapiere beeinflussen könnte und in der Zeit auftritt oder gemeldet wird, die ab der Genehmigung des Prospekts und dem endgültigen Abschluss des Angebots läuft“ abgestellt wurde, erfasst Art 16 des von der Kommission am vorgelegten geänderten Vorschlags (ABl C 20 E vom , 122), der Art 16 der letztlich erlassenen Richtlinie 2003/71/EG im Wesentlichen entsprach, darüber hinaus „jeden erheblichen Fehler bzw Ungenauigkeit in Bezug auf die im Prospekt enthaltenen Informationen“. Nach den Materialien wurde der Anwendungsbereich von Art 16 ausgeweitet, um wesentliche Fehler und andere inkorrekte Informationen richtig stellen zu können (ABl C 20 E vom , 128). Auch die historische Auslegung spricht also dafür, dass schon ursprünglich bestehende Umstände von der Nachtragspflicht ebenfalls erfasst sind.

4.4.3. Nach Erwägungsgrund 10 der Richtlinie dient sie der Sicherstellung des Anlegerschutzes und der Markteffizienz. Zufolge Erwägungsgrund 18 kommen vollständige Informationen über Wertpapiere und deren Emittenten (zusammen mit den Wohlverhaltensregeln) dem Anlegerschutz zugute; darüber hinaus stellen diese Informationen ein wirksames Mittel dar, um das Vertrauen in die Wertpapiere zu erhöhen und so zur reibungslosen Funktionsweise und zur Entwicklung der Wertpapiermärkte beizutragen. Nach Erwägungsgrund 19 sind Anlagen in Wertpapieren mit Risiken behaftet, weshalb Schutzmaßnahmen zur Absicherung der Interessen der derzeitigen und potenziellen Anleger erforderlich sind, um sie in die Lage zu versetzen, eine fundierte Bewertung der Anlagerisiken vorzunehmen und somit Anlageentscheidungen in voller Kenntnis der Sachlage treffen zu können. Auch die teleologische Auslegung führt daher zum Ergebnis, dass sich die Nachtragspflicht (und das korrespondierende Rücktrittsrecht) auch auf bereits ursprünglich unrichtige Prospektangaben bezieht.

4.4.4. Der erkennende Senat schließt sich deshalb den referierten Literaturmeinungen an, die ein Rücktrittsrecht des Anlegers auch im Fall einer bereits ursprünglich bestehenden Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Prospekts bejahen.

5. Das Rücktrittsrecht nach § 5 Abs 1 KMG kann nach der Rechtsprechung unbefristet jederzeit ausgeübt werden, solange kein Prospekt veröffentlicht wurde (RIS Justiz RS0125646). Während § 5 Abs 4 KMG normiert, dass das Rücktrittsrecht eine Woche nach der Veröffentlichung des Prospekts erlischt, regelt § 6 Abs 2 KMG (in der hier anzuwendenden wie auch in der aktuellen Fassung) nur, dass der Rücktritt innerhalb einer bestimmten Frist „nach Veröffentlichung des Nachtrags“ erklärt werden kann. Ob ein Anleger, der nicht Verbraucher ist, schon vor Veröffentlichung des Nachtrags zurücktreten kann (so Russ in Zib/Russ/Lorenz , KMG § 6 Rz 24 mwN), muss hier nicht näher untersucht werden, weil der Kläger als Konsument jedenfalls das ihm nach § 5 Abs 1 KMG zustehende Rücktrittsrecht, das sich ausdrücklich auch auf den hier behaupteten Fall der Verletzung der Nachtragspflicht nach § 6 KMG bezieht, ausüben kann.

6.1. Nach § 6 Abs 1 KMG besteht die Nachtragspflicht des Emittenten nur bis zum endgültigen Schluss des öffentlichen Angebots oder der Zulassung zum Handel an einem geregelten Markt. § 6 Abs 2 KMG stellt (in der hier anzuwendenden Fassung) hingegen nur darauf ab, dass der Anleger den Erwerb oder die Zeichnung der Wertpapiere oder Veranlagungen nach dem Eintritt eines Tatbestands des Abs 1, aber vor Veröffentlichung des darauf bezogenen Nachtrags zugesagt hat. Ausgehend von diesem Gesetzeswortlaut stellt sich deshalb die Frage, ob dem Anleger – sofern der gebotene Nachtrag nicht bis zum genannten Stichtag veröffentlicht wurde – auch dann ein Rücktrittsrecht zusteht, wenn er die Wertpapiere oder Veranlagungen nicht während des öffentlichen Angebots, sondern außerhalb dieses Zeitraums erworben hat.

6.2. Dies ist zu verneinen: Da nämlich die Prospektpflicht nur für die Dauer des öffentlichen Angebots gilt, kann sich auch das daran anknüpfende Rücktrittsrecht nur auf den Erwerb der Wertpapiere oder Veranlagungen während dieses Zeitraums beziehen ( Kalss in Festschrift Fenyves 177). In diesem Sinn wurde auch in der – in Weiterentwicklung der ProspektRL 2003/71/EG erlassenen – ProspektRL 2010/73/EU in Erwägungsgrund 23 zur Erhöhung der Rechtssicherheit klargestellt, dass das Widerrufsrecht an die zeitliche Einordnung des neuen Umstands, der Unrichtigkeit oder der Ungenauigkeit gekoppelt ist, durch den bzw die ein Nachtrag erforderlich wird, und voraussetzt, dass dieses auslösende Ereignis eingetreten ist, solange das Angebot noch gültig und die Lieferung der Wertpapiere noch nicht erfolgt war.

6.3. Ob dem Kläger – das Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der §§ 5 und 6 KMG vorausgesetzt – ein Rücktrittsrecht zusteht, hängt also davon ab, ob er die Anleihen während des öffentlichen Angebots erworben hat.

6.4. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist diese Frage nicht schon deshalb zu verneinen, weil der im Prospekt Beilage ./D angegebene Angebotszeitraum damals schon abgelaufen war; hat sich doch die Emittentin ausdrücklich die Verkürzung oder Verlängerung des Angebotszeitraums vorbehalten. Nach den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 969 BlgNR 22. GP, 4) endet das öffentliche Angebot einerseits spätestens dann, wenn die Platzierung abgeschlossen ist, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn die vom Anbieter insgesamt verkaufte Anzahl von Wertpapieren der Gesamtzahl der Wertpapiere der Emission entspricht, und andererseits auch dann, wenn die Zulassung des öffentlich angebotenen Wertpapiers zum Handel an einem geregelten Markt erfolgt, wobei die Verpflichtung zur Erstellung und Billigung allfälliger Nachträge oder Prospekte im Fall weiterer Angebote dieser Wertpapiere jedoch unberührt bleibt. Die Prospektpflicht nach dem KMG erfasst jedes – nicht nur das erstmalige – öffentliche Angebot. Da der Prospekt aber weiterhin als Einmalprospekt konzipiert ist, ist ein Prospekt gemäß § 6a KMG nach seiner Veröffentlichung zwölf Monate lang für öffentliche Angebote oder Zulassungen zum Handel an einem geregelten Markt gültig, sofern er um etwaige gemäß § 6 KMG erforderliche Nachträge ergänzt wird ( Gruber , Das öffentliche Angebot im KMG, ZFR 2007, 22 [31]).

7.1. Der Kläger hat in erster Instanz (wie auch die Beklagte) kein Vorbringen zur Frage erstattet, ob er die Anleihen während des Zeitraums des öffentlichen Angebots erworben hat. Zur Vermeidung einer im Sinn des § 182a ZPO unzulässigen Überraschungsentscheidung ist ihm im fortgesetzten Verfahren Gelegenheit zu geben, sein Vorbringen insoweit zu ergänzen.

7.2. Sofern das Beweisverfahren ergeben sollte, dass der Kläger die Anleihen vor dem endgültigen Schluss des öffentlichen Angebots bzw der Eröffnung des Handels an einem geregelten Markt erworben hat, wäre darüber hinaus durch geeignete Beweisaufnahmen zu klären, ob die vom Kläger ins Treffen geführten Fehler des Prospekts verpflichtend aufzunehmende Prospektangaben betreffen, deren Kenntnis geeignet ist, die Beurteilung der Wertpapiere zu beeinflussen; ob es sich dabei also um Umstände handelt, die ein nach ausschließlich sachlichen, somit nach kapitalmarktrelevanten Kriterien urteilender Anleger als anlageentscheidend erachten kann ( Russ in Zib/Russ/Lorenz , KMG § 6 Rz 9 ff mwN).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2016:0030OB00097.16K.1018.000