VfGH vom 04.03.2005, B831/04
Sammlungsnummer
17482
Leitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch Ausnahme von - der Vollversicherungspflicht nach dem ASVG unterliegenden - Geschäftsleitern einer Kreditgenossenschaft von der Arbeitslosenversicherung; Unterlassung jeglicher Auseinandersetzung mit der Frage der Bedeutung der Dienstnehmereigenschaft für das Arbeitslosenversicherungsrecht
Spruch
Die beschwerdeführenden Parteien sind durch die angefochtenen Bescheide insoweit in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden, als diese die Arbeitslosenversicherungspflicht betreffen.
Die Bescheide werden insoweit aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihrer Vertreter die mit insgesamt € 2.844,-- bestimmten Kosten der Verfahren binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. Die Wiener Gebietskrankenkasse stellte am
fest, dass die jeweils erstbeschwerdeführenden Geschäftsleiter der
zweitbeschwerdeführenden Kreditgenossenschaft wohl der
Vollversicherungspflicht (nach dem ASVG), nicht jedoch der
Arbeitslosenversicherungspflicht unterliegen. Die Einsprüche gegen
die Ausnahme von der Arbeitslosenversicherungspflicht blieben
erfolglos; die angefochtenen Berufungsbescheide bestätigen nunmehr
die Einspruchsbescheide des Landeshauptmannes. Die
(Voll-)Versicherungspflicht folge seit aus § 4 Abs 1 Z 6
ASVG - "Vorstandsmitglieder (Geschäftsleiter) von
Aktiengesellschaften ... und hauptberufliche Vorstandsmitglieder
(Geschäftsleiter) von Kreditgenossenschaften" -, sodass § 4 Abs 1 Z 1
ASVG ("... Dienstnehmer") auf sie keine Anwendung finde. Das
Arbeitslosenversicherungsrecht enthalte keine der Z 6 entsprechende Bestimmung.
Gegen diesen Bescheid wenden sich die vorliegenden Beschwerden, die eine Verletzung des Gleichheitssatzes rügen. Die Geschäftsleiter seien Dienstnehmer im Sinne des AlVG wie des ASVG und es fehle ein sachlicher Grund, sie aus der Arbeitslosenversicherung auszunehmen. Sollte das ASVG, worin die 55. Novelle die bis dahin in Z 6 enthaltene Subsidiaritätsklausel aufgehoben habe, diese Auswirkung haben, sei die Novelle mit Verfassungswidrigkeit belastet.
Der Verfassungsgerichtshof hat die belangte Behörde eingeladen, insbesondere darzulegen, warum sie sich nicht näher mit der Frage befasst hat, ob die Erstbeschwerdeführer Dienstnehmer im Sinne des § 1 Abs 1 lita Arbeitslosenversicherungsgesetz sind. Dazu führt die Behörde in einem nachgereichten Schriftsatz wieder nur aus, dass Geschäftsleiter, weil sie nicht Dienstnehmer im Sinne des ASVG seien, auch nicht solche nach dem AlVG sein könnten.
II. Die Beschwerden sind begründet. Die angefochtenen Bescheide verletzen die beschwerdeführenden Parteien im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz.
1. Nach § 4 Abs 1 ASVG idF BGBl. I 138/1998 sind in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung versichert (vollversichert) - soweit keine Ausnahme besteht -
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"1. | die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigten Dienstnehmer; | |||||||||
... | ||||||||||
6. | Vorstandsmitglieder (Geschäftsleiter) von Aktiengesellschaften, Sparkassen, Landeshypothekenbanken sowie Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und hauptberufliche Vorstandsmitglieder (Geschäftsleiter) von Kreditgenossenschaften". |
Nach § 1 Abs 1 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG), BGBl. 609, sind für den Fall der Arbeitslosigkeit unter anderem versichert (arbeitslosenversichert)
"a) Dienstnehmer, die bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigt sind,
...
soweit sie in der Krankenversicherung auf Grund gesetzlicher Vorschriften pflichtversichert sind ..."
Ob die Erstbeschwerdeführer Dienstnehmer im Sinne des AlVG sind, wurde im Verwaltungsverfahren nicht geprüft. Da die Vollversicherungspflicht nach ASVG festgestellt wurde, steht jedoch fest, dass sie aufgrund gesetzlicher Vorschriften (auch) in der Krankenversicherung pflichtversichert sind.
2. Die im Verwaltungsverfahren ergangenen Entscheidungen stellen bei Prüfung der Arbeitslosenversicherungspflicht ausschließlich darauf ab, dass die Erstbeschwerdeführer der Vollversicherungspflicht nach dem ASVG nicht als Dienstnehmer (§4 Abs 1 Z 1), sondern als Geschäftsleiter kraft der Sonderbestimmung der Z 6 des § 4 Abs 1 unterliegen. Diese Bestimmung wurde durch die 54. Novelle, BGBl. I 139/1997, aus dem bisherigen § 4 Abs 3, der bestimmte selbständig Tätige in das ASVG einbezogen hatte, als Z 6 in § 4 Abs 1 übernommen. In § 4 Abs 3 vor der 54. Novelle hatte die sonst wörtlich gleich lautende Bestimmung (als Z 10) noch den Beisatz
"..., alle diese, soweit sie in dieser Tätigkeit nicht schon auf Grund anderer bundesgesetzlicher Vorschriften in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung pflichtversichert sind".
Diesen Beisatz (zuletzt in § 4 Abs 1 Z 6) hat die 55. Novelle, BGBl. I 138/1998, entfallen lassen (Z2). Seine Streichung motiviert die Regierungsvorlage (1234 BlgNR XX. GP, 24) so:
"Die Subsidiaritätsregelung im Rahmen des mit in Kraft tretenden (neuen) § 4 Abs 1 Z 6 ASVG, wonach die Vollversicherung von Vorstandsmitgliedern (Geschäftsleitern) der in dieser Bestimmung genannten Gesellschaften nur dann eintritt, wenn auf Grund dieser Tätigkeit nicht schon eine anderweitige Pflichtversicherung begründet wurde, kann im Hinblick auf die im Zuge der Einbeziehung sämtlicher Erwerbseinkommen in die Sozialversicherung durch das ASRÄG 1997, BGBl. I Nr. 139, getroffene klare Abgrenzung zwischen (die Pflichtversicherung begründender) selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit ersatzlos entfallen."
Die belangte Behörde geht selbst davon aus, dass bis zum In-Kraft-Treten der 55. Novelle Geschäftsleiter als Dienstnehmer (nach § 1 Abs 1 lita AlVG) arbeitslosenversichert sein konnten; seit komme das aber nicht mehr in Betracht, weil die Z 6 in § 4 Abs 1 ASVG geändert worden sei. Sie legt allerdings nicht dar, warum der Umstand, dass - möglicherweise - die Versicherungspflicht der Geschäftsleiter nicht (mehr) auch aus der Z 1, sondern nur (mehr) aus der Z 6 abzuleiten ist, zum Wegfall der Arbeitslosenversicherung geführt haben soll. Weder dem Gesetzestext (des Arbeitslosenversicherungsgesetzes) noch den Materialien zur ASVG-Novelle ist eine solche Absicht des Gesetzgebers zu entnehmen. Auch der Dienstnehmerbegriff des ASVG (§4 Abs 2) ist insoweit gleich geblieben. Dass die Regierungsvorlage die Subsidiaritätsklausel der Z 6 des Abs 1 im Hinblick auf die angenommene klare Abgrenzung zwischen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit für entbehrlich (!) gehalten hat, legt eine solche Absicht gerade nicht nahe.
Auch wenn man annimmt, dass der Dienstnehmerbegriff der Z 1 in § 4 Abs 1 ASVG durch die Z 6 dahin modifiziert wurde, dass diese als Spezialtatbestand der Versicherungspflicht jenem allgemeinen vorgehe, könnte dieser - im Ergebnis wenig bedeutungsvolle - Schluss nur innerhalb des Systems des ASVG gelten; ohne besonderen Anhaltspunkt und nähere Begründung könnte er nicht auf das Arbeitslosenversicherungsrecht übertragen werden: dieses benützt zwar denselben Dienstnehmerbegriff wie das ASVG, übernimmt dessen allfällige Modifikation aber gerade nicht. Daraus, dass Geschäftsleiter ohne Prüfung auf ihre Dienstnehmereigenschaft in die Vollversicherung einbezogen werden, lässt sich offenkundig nicht schließen, dass sie auch ohne Prüfung ihrer Dienstnehmereigenschaft aus der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen sein sollen.
3. Die Beschwerden rügen die angefochtenen Bescheide als gleichheitswidrig. In der Tat bedürfte die Ausnahme von Dienstnehmern aus der Arbeitslosenversicherung einer sachlichen Rechtfertigung. Ob die Auslegung der Behörden dem Gesetz fälschlich einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder gar das Gesetz selbst gleichheitswidrig ist, kann hier aber deshalb nicht erörtert werden, weil die Behörde jegliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bedeutung der Dienstnehmereigenschaft als solcher für das Arbeitslosenversicherungsrecht unterlassen und ohne jede Begründung aus dem Wortlaut, systematischen Zusammenhang und/oder Sinn und Zweck des Arbeitslosenversicherungsgesetzes ausschließlich Überlegungen zum ASVG angestellt und diese - bei gegenteiligem Ergebnis, nämlich Ausschluss aus einer sonst (möglicherweise) gegebenen statt Einbeziehung in eine sonst (meist) fehlende Versicherungspflicht - auf das Arbeitslosenversicherungsrecht bezogen hat (weshalb auch die tatsächlichen Verhältnisse ungeklärt geblieben sind).
Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, diesen Verfahrensmangel zu supplieren und Vermutungen über den Inhalt des Arbeitslosenrechts und die möglicherweise in diesem oder jenem Bereich der Sozialversicherung verfolgten Ziele nachzugehen, um nirgends ausgesprochene Rechtsfolgen auf ihre Sachlichkeit prüfen zu können. Vielmehr hat die belangte Behörde durch die Unterlassung jeglicher nachvollziehbarer Begründung in der (schon allein wegen des auch sie allenfalls treffenden Gebots verfassungskonformer Auslegung von Gesetzen) wesentlichen und entscheidenden Frage des Verfahrens Willkür geübt und ihren Bescheid mit Gleichheitswidrigkeit belastet.
Der Bescheid ist daher in dem der Sache nach bekämpften Umfang aufzuheben.
Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs 4 erster Satz VfGG).
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. Da die gegen gleichartige Bescheide gerichteten Beschwerden im Zuge einer gemeinsamen Rechtsvertretung eingebracht wurden, war (nur) der einfache Pauschalsatz erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 270,-- zuzusprechen (vgl. ua., mwH, und vom , B1249/03 ua.). In den zugesprochenen Kosten sind darüber hinaus Umsatzsteuer in der Höhe von € 414,-- sowie Eingabengebühren gemäß § 17a VfGG in der Höhe von € 360,-- enthalten.