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OGH vom 21.04.2016, 9ObA23/16x

OGH vom 21.04.2016, 9ObA23/16x

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky und Robert Hauser in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei T***** M*****, vertreten durch Held Berdnik Astner Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei Ing. J***** P*****, vertreten durch Siegl, Choc Axmann Rechtsanwaltspartnerschaft in Graz, wegen 3.531,03 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 14. Jänner (richtig:) 2016, GZ 6 Ra 87/15h 12, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 32 Cga 79/15h 8, keine Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist beim Beklagten seit als Fahrschullehrerin angestellt. Nach der Geburt ihres ersten Kindes am entschied sie sich für die gehaltsbezogene Kinderbetreuungsgeldvariante 12+2 sowie für eine zweijährige Karenz. Während der Karenz war sie vom bis als Fahrschullehrerin mit einem monatlichen Bruttogehalt von 2.117 EUR beim Beklagten tätig. In dieser Zeit war ihr Ehemann in Karenz.

Am gebar sie ihr zweites Kind. Unstrittig trat der Versicherungsfall der zweiten Mutterschaft nach dem ASVG am ein. Die Klägerin befand sich daher zu diesem Zeitpunkt und auch zu Beginn der 32. Woche vor dem Eintritt des Versicherungsfalls () zwar noch in Karenz, bezog jedoch aufgrund der von ihr gewählten Variante kein Kinderbetreuungsgeld mehr, war deshalb nicht mehr pflichtversichert und hatte folglich auch keinen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch auf Wochengeld.

Die Klägerin begehrte vom Beklagten einen Betrag von 3.531,03 EUR brutto, der nur dem Grunde nach strittig ist. Da sie nicht mehr der Pflichtversicherung unterliege, schulde ihr der Beklagte gemäß § 8 Abs 4 AngG die Entgeltfortzahlung. Ein dementsprechender Schutz der ArbeitnehmerInnen sei auch auf supranationaler Ebene aus den Grundrechten abzuleiten.

Der Beklagte bestritt und wandte ein, die Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers nach § 8 Abs 4 AngG könne nicht dadurch ausgelöst werden, dass eine Arbeitnehmerin einen längeren Karenzanspruch gegenüber ihrem Arbeitgeber geltend mache, sich aber für eine kürzere und meist lukrativere Variante des Kinderbetreuungsgeldes entscheide. Auf diese Wahl habe er keinen Einfluss gehabt. Es dürfe auch nicht zu seinen Lasten gehen, dass sich die Klägerin nicht über den Zeitraum des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld hinaus selbst krankenversichert habe und ihr deshalb das Wochengeld von der Gebietskrankenkasse verwehrt werde. § 8 Abs 4 AngG sei im Hinblick auf die Einführung des Kinderbetreuungsgeldes teleologisch zu reduzieren und im Übrigen durch das MSchG als lex specialis gegenstandslos geworden.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren unter ausführlicher Analyse des Wochengeldanspruchs und seines Verhältnisses zu § 8 Abs 4 AngG statt. Es kam zusammengefasst zum Ergebnis, dass der Klägerin mangels Anspruch auf Wochengeld der für sechs Wochen nach der Geburt geltende Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 8 Abs 4 AngG zustehe, der auch von § 14 MSchG nicht verdrängt werde.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Beklagten nicht Folge und teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Mit Einführung des Kinderbetreuungsgeldes sei § 8 Abs 4 AngG zwar weitgehend verdrängt, nicht aber hinfällig geworden. Dies ergebe sich auch aus der mit in Kraft getretenen Neuregelung des § 8 Abs 4 AngG, der den Anspruch nun zur bewussten Entlastung der ArbeitgeberInnen ausschließe. Die Wahl einer der gesetzlich verankerten Bezugsvarianten könne der Klägerin nicht vorgeworfen werden. Die Revision sei nicht zulässig.

In seiner dagegen erhobenen außerordentlichen Revision beantragt der Beklagte die Abänderung der Urteile der Vorinstanzen im Sinn einer Klagsabweisung.

Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurück , in eventu abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Zulassungsausspruch zulässig :

Die Frage, ob einer Angestellten, die aufgrund des gewählten kurzen Bezugs von Kinderbetreuungsgeld (12+2) keinen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch auf Wochengeld mehr hat, nach der Entbindung für sechs Wochen ein arbeitsvertraglicher Entgeltfortzahlungsanspruch gegen den Arbeitgeber zusteht, wurde in der Entscheidung 10 ObS 37/15s ausdrücklich offen gelassen. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass eine Entscheidung dazu trotz der zwischenzeitig erfolgten Änderung des § 8 Abs 4 AngG durch das Arbeitsrechts Änderungsgesetz 2015, BGBl I 52/2015, noch für andere gleichgelagerte Fälle von Bedeutung ist („Wochengeldfalle“, s ARD 6412/20/2014; Stupar , Wochengeld und Entgeltfortzahlung während Elternkarenz, ecolex 2015, 885). Die Revision ist jedoch nicht berechtigt .

1. Den Erwägungen zu einem Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 8 Abs 4 AngG ist voranzustellen, dass ein Karenzurlaub mit dem Eintritt eines absoluten Beschäftigungsverbots bei einer neuerlichen Schwangerschaft beendet wird. Ein Karenzurlaub kann nämlich für jene Zeiträume, für die ein Beschäftigungsverbot nach den §§ 3, 5 MSchG besteht, nicht in Anspruch genommen werden. Es wird daher bei einer neuerlichen Schwangerschaft mit dem Beginn des Beschäftigungsverbots der Karenzurlaub verdrängt (RIS Justiz RS0070590; 10 ObS 37/15m).

2. § 8 Abs 4 erster Satz AngG lautete in der bis zum geltenden Stammfassung:

(4) Weibliche Angestellte behalten den Anspruch auf das Entgelt während sechs Wochen nach ihrer Niederkunft; während dieser Zeit dürfen sie zur Arbeit nicht zugelassen werden. [...]

Soweit auch § 14 MSchG einen gegen den Arbeitgeber gerichteten Entgeltfortzahlungsanspruch enthält, bezieht sich dieser nicht auf die Zeit des absoluten Beschäftigungsverbots nach § 5 Abs 1 MSchG (acht Wochen nach der Entbindung), in die der hier zu beurteilende Zeitraum (sechs Wochen nach der Entbindung) fällt. § 8 Abs 4 AngG steht daher mit § 14 MSchG nicht in Normenkonkurrenz ( Mahr , Der arbeitsrechtliche Entgeltanspruch bei neuerlicher Schwangerschaft im verlängerten Karenzurlaub, ZAS 1990, 83, Pkt 3.1.1.).

3. Die Elternkarenz als solche begründet keinen Anspruch auf finanzielle Leistung des Sozialversicherungsträgers. BezieherInnen von Kinderbetreuungsgeld nach dem KBGG sind jedoch gemäß § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG in der Krankenversicherung teilversichert, wenn nach § 28 KBGG ein Krankenversicherungsträger nach diesem Bundesgesetz zuständig ist. Zu den Geldleistungen aus der Krankenversicherung zählt auch das für acht Wochen vor bis acht Wochen nach dem errechneten Geburtstermin beziehbare Wochengeld aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft nach § 162 ASVG (§ 117 Z 4 lit d ASVG). Darüber hinaus sind die Leistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft auch zu gewähren, wenn der Versicherungsfall nach Beendigung der Pflichtversicherung eintritt und der Beginn der 32. Woche vor dem Eintritt des Versicherungsfalls in den Zeitraum des Bestands der beendeten Pflichtversicherung, die mindestens 13 Wochen bzw drei Kalendermonate ununterbrochen gedauert haben muss, fällt (§ 122 Abs 3 ASVG).

4. Nach hA wird § 8 Abs 4 AngG durch die Regelungen des MSchG und des ASVG weitgehend verdrängt (s Drs in Neumayr/Reissner , ZellKomm 2 § 8 AngG Rz 160 mwN; Melzer-Azodanloo in Löschnigg AngG I 9 § 8 Rz 222 mwN; Burger in Reissner , AngG 2 § 8 Rz 71 mwN; aA Stupar , ecolex 2015, 885). Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht in allen Fällen eines aufrechten (karenzierten) Dienstverhältnisses ein sozialversicherungsrechtlicher Anspruch auf Wochengeld besteht. Schon in der Entscheidung 9 ObA 132/87 (= RIS-Justiz RS0027973) wurde festgehalten, dass die Bestimmung durch das MSchG zwar „im wesentlichen gegenstandslos geworden“ ist, sie jedoch ihre Wirksamkeit nicht für solche Arbeitnehmerinnen verloren hat, „die nicht der Pflichtversicherung nach dem ASVG unterliegen und zufolge der Unentgeltlichkeit ihres Arbeitsverhältnisses keinen Anspruch auf Wochengeld haben“. Der Entgeltfortzahlungsanspruch wird auch dann bejaht, wenn eine Arbeitnehmerin wegen einer geringfügigen Beschäftigung (§ 5 Abs 2 ASVG) nicht in der Krankenversicherung pflichtversichert ist ( Drs in Neumayr/Reissner ZellKomm 2 § 8 AngG Rz 161; Burger in Reissner AngG 2 § 8 Rz 72; M. Schwarz , Geringfügig beschäftigter Angestellter wird das Wochengeld von der Sozialversicherung und dem Dienstgeber verweigert, DRdA 1984, 162 Pkt III.) oder wenn sie aufgrund einer längeren Karenzierung nicht dem Krankenversicherungsschutz des ASVG unterliegt und deshalb keinen Anspruch auf Wochengeld hat ( Drs in Neumayr/Reissner , ZellKomm 2 § 8 AngG Rz 160f; dies mit weiteren Beispielen in Mosler/Müller/Pfeil , Der SV Komm § 166 ASVG Rz 21). Schließlich können selbst Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld vom Anspruch auf Wochengeld ausgeschlossen sein, wenn das Kinderbetreuungsgeld ohne Vorbeschäftigung gebührt ( Schober in Sonntag , ASVG 6 § 162 Rz 12). Von einer Verdrängung der Entgeltfortzahlungspflicht des § 8 Abs 4 AngG kann daher nur dann ausgegangen werden, wenn ein Wochengeldanspruch der pflichtversicherten (oder nach § 19a ASVG selbstversicherten) Angestellten besteht ( Burger-Ehrnhofer in Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Thomasberger , MutterschutzG und Väter-KarenzG,§ 5 S 155; s auch Burger-Ehrnhofer , Mutterschutz bei geringfügiger Beschäftigung, RdW 2004, 746, Pkt 2.1.; Mahr , ZAS 1990, 83, Pkt 3.1.).

5. Das Verhältnis des sozialversicherungsrechtlichen Anspruchs auf Wochengeld und des arbeitsvertraglichen Entgeltfortzahlungsanspruchs nach § 8 Abs 4 AngG gibt keinen Grund zur Annahme, dass dieser Bestimmung auch in jenen Fällen derogiert wurde, in denen kein Anspruch auf Wochengeld (mehr) gegeben ist. Die Derogation einer gleichrangigen Norm setzt die Identität des Regelungsgegenstands und das Vorliegen eines kontradiktorischen Widerspruchs zwischen den Normen voraus. Zur vollständigen Aufhebung einer älteren Bestimmung kommt es jedoch nur, wenn der Tatbestand des älteren Gesetzes vollständig in demjenigen des jüngeren Gesetzes enthalten ist und letzteres unvereinbare Rechtsfolgen vorsieht (s nur Kodek in Rummel/Lukas , ABGB 4 § 9 Rz 5). Da ein derartiges Derogationsverhältnis hier jedoch nicht vorliegt, kann von einer umfassenden Verdrängung oder materiellen Derogation des § 8 Abs 4 AngG nicht ausgegangen werden.

6. Entgegen der Ansicht des Beklagten hat daran auch die Einführung des Kinderbetreuungsgeldes mit den zusätzlich zur ursprünglichen Langvariante (30+6) eingeführten kürzeren Bezugsvarianten nichts geändert, weil der Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 8 Abs 4 AngG nicht an den Wegfall des Kinderbetreuungsgeldes geknüpft ist, sondern weiterhin wie in anderen, oben beispielhaft dargelegten Fällen aus dem Fehlen eines sozialversicherungsrechtlichen Anspruchs auf Wochengeld resultiert. Zutreffend hat das Berufungsgericht auch darauf hingewiesen, dass der Klägerin die Wahl einer der vom Gesetzgeber eingeräumten Varianten des Kinderbetreuungsgeldbezugs frei stand und nicht als „Verschulden“ oder Verzicht auf den gesetzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch angesehen werden kann, wenn der mit dem Bezug des Kinderbetreuungsgeldes verbundene Versicherungsschutz ausgelaufen ist. Dass der Klägerin auch eine andere, den Versicherungsschutz wahrende Variante zum Bezug von Kinderbetreuungsgeld (30+6) offen gestanden wäre, führt noch nicht zur Unanwendbarkeit des § 8 Abs 4 AngG, wenn tatsächlich die Variante 12+2 gewählt wird.

7. Die Erwägungen des Beklagten dazu, dass es eine unverhältnismäßige Benachteiligung des Arbeitgebers wäre, wenn sich eine Arbeitnehmerin bei Inanspruchnahme einer längeren Karenz für eine kurze (und meist lukrativere) Variante des Kinderbetreuungsgeldes entscheidet und dadurch die Entgeltfortzahlungspflicht ausgelöst wird, sind sozialpolitischer Natur. Der Gesetzgeber hat ihnen mit dem Arbeitsrechtsänderungsgesetz 2015, BGBl I 2015/152, Rechnung getragen und § 8 Abs 4 AngG nunmehr mit Wirksamkeit zum dahin abgeändert, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch nicht für Zeiten besteht, „während derer ein Anspruch auf Wochengeld oder Krankengeld nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, BGBl Nr 189/1955, besteht. Ebenso bestehen diese Ansprüche nicht, wenn sich die Angestellte vor dem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 1 oder Abs 3 des Mutterschutzgesetzes 1979 (MSchG), BGBl Nr 221/1979, in einer Karenz nach dem MSchG oder einer mit dem Dienstgeber zur Kinderbetreuung vereinbarten Karenz befindet. […]“.

Die geänderte Bestimmung ist mit in Kraft getreten (Art 2 Z 5 ArbRÄG 2015). Eine Rückwirkung wurde nicht angeordnet. Nach den Erläuterungen (AB 948 BlgNR XXV. GP 2 f) dient die Novellierung dazu, „um den/die Arbeitgeber/in deren Entgeltfortzahlungspflicht ebenso wie die Verpflichtung der Arbeitnehmerin während der Karenz ruht zu entlasten“. Diese Begrifflichkeit spricht aber dafür, dass auch der Gesetzgeber nicht von einer bloßen Klarstellung der bisherigen Rechtslage ausging, sondern den Arbeitgeber von der bis dahin bestehenden Verpflichtung gerade befreien wollte. Festgehalten wird weiter in den Erläuterungen, dass andere Karenzen, die aufgrund spezieller arbeitsrechtlicher Normen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie wie etwa Familienhospizkarenz, Pflegekarenz oder Bildungskarenz angetreten wurden, nicht umfasst sind.

8. Der Beklagte vermisst schließlich eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob durch den einmaligen Bezug von Wochengeld das aus § 8 Abs 4 AngG abgeleitete Recht nicht konsumiert und ein weiterer Bezug alleine dadurch schon ausgeschlossen sei. Für eine Berechtigung dieser Erwägung bestehen jedoch keine Anhaltspunkte.

9. Zusammenfassend ist die Revision des Beklagten nicht berechtigt, sodass ihr keine Folge zu geben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:OGH0002:2016:009OBA00023.16X.0421.000