OGH 27.04.2023, 9Ob110/22z
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungstext
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, den Hofrat Dr. Hargassner, die Hofrätin Mag. Korn und den Hofrat Dr. Thunhart als weitere Richter in der Familienrechtssache der Antragsteller 1.) T*, und 2.) Dr. A*, beide: *, beide vertreten durch Dr. Edwin Grubert, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die Antragsgegner 1.) M*, vertreten durch Dr. Nikolaus Mair, Rechtsanwalt in Innsbruck, und 2.) S*, beide: *, wegen Unterhalt, infolge des Revisionsrekurses der Antragsteller gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom , GZ 55 R 30/22y-28, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom , GZ 3 FAM 48/21v; 3 FAM 49/21s; 3 FAM 52/21g und 3 FAM 53/21d-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Akten werden dem Erstgericht zurückgestellt.
Text
Begründung:
[1] Erstantragstellerin und Zweitantragsteller sind Mutter und Vater der Erstantragsgegnerin (in Folge: Tochter) und des Zweitantragsgegners (in Folge: Sohn). Die Eltern begehren von den Kindern, gestützt auf § 234 ABGB, mit den verbundenen Anträgen Unterhalt.
[2] Für die Tochter wurde im Verfahren erster Instanz ein Verfahrenshelfer bestellt. Der Sohn nahm am Verfahren erster Instanz unvertreten teil.
[3] Das Erstgericht wies die Anträge der Eltern ab. Der Beschluss des Erstgerichts wurde dem Antragstellervertreter und dem Vertreter der Tochter, nicht aber dem Sohn zugestellt.
[4] Gegen die Entscheidung des Erstgerichts erhoben die Eltern Rekurs. Der Rekurs wurde dem Vertreter der Tochter, nicht aber dem Sohn zugestellt. Eine Rekursbeantwortung wurde nicht erstattet.
[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs nicht Folge und ließ den Revisionsrekurs zu. Der Beschluss des Rekursgerichts wurde dem Antragstellervertreter und dem Vertreter der Tochter, nicht aber dem Sohn zugestellt.
[6] Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts erhoben die Eltern den Revisionsrekurs. Dieser wurde dem Vertreter der Tochter, nicht aber dem Sohn zugestellt.
Rechtliche Beurteilung
[7] Die Aktenvorlage ist verfrüht.
[8] Da dem Sohn bisher weder die Entscheidung zweiter Instanz noch der Revisionsrekurs der Eltern zugestellt wurde, hatte er im Revisionsrekursverfahren kein rechtliches Gehör. Damit haftet dem rekursgerichtlichen Verfahren ein Verstoß gegen § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der auch im Revisionsrekursverfahren analog § 55 Abs 3 AußStrG von Amts wegen wahrzunehmen wäre (RS0119971 [T3]).
[9] Nach § 58 Abs 1 Z 1 und Abs 3 iVm § 71 Abs 4 AußStrG ist bei einem solchen schweren Verfahrensmangel vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im [Revisions-]Rekursverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, der bisher nicht gehörten Partei Gelegenheit zu geben, sich am Revisionsrekursverfahren zu beteiligen und ihre materiellen und/oder prozessualen Rechte geltend zu machen oder auch nicht (RS0123128). Mit Rücksicht auf § 58 Abs 2 AußStrG ist davon auszugehen, dass auch eine Beteiligung am Rechtsmittelverfahren ohne Geltendmachung der Gehörsverletzung deren Heilung bedeutet (10 Ob 18/19y mwN).
[10] Gemäß § 6 Abs 1 AußStrG müssen sich die Parteien im Revisionsrekursverfahren in Verfahren, in denen einander Anträge zweier oder mehrerer Parteien gegenüberstehen können, durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. Auch für das vorliegende Verfahren herrscht daher in dritter Instanz Anwaltspflicht (RS0119968 [T16]).
[11] Das Erstgericht wird daher neben der vorliegenden Entscheidung auch die Entscheidung des Rekursgerichts samt Rechtsmittelbelehrung (§ 152 Geo) und den Revisionsrekurs der Eltern dem Sohn zuzustellen haben. Die Akten werden nach Ablauf der Fristen erstens zur allfälligen Erhebung eines Revisionsrekurses (bzw im Fall des Einbringens eines Revisionsrekurses durch den Sohn nach Ablauf der Frist zur Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung dazu) und zweitens zur Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung (bzw nach Einbringen einer Revisionsrekursbeantwortung durch den Sohn) neuerlich vorzulegen sein.
Entscheidungstext
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Entscheidungsdatum:
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner, die Hofrätin Mag. Korn und den Hofrat Dr. Annerl als weitere Richter in der Familienrechtssache der Antragsteller 1.) T*, und 2.) Dr. A*, beide: *, beide vertreten durch Dr. Edwin Grubert, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die Antragsgegner 1.) M*, vertreten durch Dr. Nikolaus Mair, Rechtsanwalt in Innsbruck, und 2.) S*, beide: *, wegen Unterhalt, infolge des Revisionsrekurses der Antragsteller gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom , GZ 55 R 30/22y-28, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom , GZ 3 FAM 48/21v; 3 FAM 49/21s; 3 FAM 52/21g und 3 FAM 53/21d-18, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
[1] Erstantragstellerin und Zweitantragsteller sind Mutter und Vater der Erstantragsgegnerin (in Folge: Tochter) und des Zweitantragsgegners (in Folge: Sohn). Eltern und Kinder sind österreichische Staatsbürger.
[2] Die 1957 geborene Mutter zog mit dem 1940 geborenen Vater und den beiden mittlerweile volljährigen Kinder von Syrien nach Österreich. Die Mutter ging nie einer Beschäftigung nach und widmete sich der Kindererziehung und Haushaltsführung. Der Vater arbeitete ua in Deutschland und den USA. Er hat keinen Anspruch auf Alterspension in Österreich. Beide Eltern beziehen die Mindestsicherung. Sie haben kein Vermögen und leben in einer Mietwohnung, für die monatlich 791,81 EUR brutto zu zahlen sind.
[3] Der Sohn verdient zumindest ab Juli 2021 als Dienstnehmer einer Universität auf Vollzeitbasis monatlich netto 2.157,14 EUR, dies 14-mal jährlich, seit Februar 2022 verdient er ca 2.200 EUR netto (14-mal jährlich). Die Tochter hat in Syrien das Studium der Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen, das in Österreich anerkannt wurde. Sie absolvierte darüber hinaus eine Ausbildung zur Buchhalterin. Bis Ende Oktober 2021 arbeitete sie bei einer Bäckerei 35 Stunden pro Woche als Verkäuferin und verdiente 833,95 EUR netto, dies 14-mal jährlich. Sie löste dieses Arbeitsverhältnis infolge der Arbeitsbedingungen und ihrer sich verschlechternden Deutschkenntnisse auf. Eine vollzeitbeschäftigte Verkäuferin verdient bei dieser Bäckerei 1.400,39 EUR netto, dies 14-mal jährlich. Vom bis Ende Februar 2022 absolvierte die Tochter das freiwillige Sozialjahr, wofür sie monatlich ein Taschengeld von 260 EUR erhielt. Sie musste das freiwillige Sozialjahr aus finanziellen Gründen vorzeitig beenden, ist nunmehr beim AMS als arbeitssuchend gemeldet und auch eigeninitiativ auf Arbeitsplatzsuche.
[4] Mit den am beim Erstgericht eingebrachten, verbundenen Anträgen begehren die Eltern, gestützt auf § 234 ABGB, die Zahlung von monatlich jeweils 179,72 EUR Unterhalt von der Tochter und von monatlich jeweils 276,83 EUR Unterhalt vom Sohn. Die Behörde habe die von ihnen bezogene Mindestsicherung mit der Begründung gekürzt, dass sie ihren Unterhaltsanspruch gegenüber ihren volljährigen Kindern geltend zu machen hätten. Eine am abgeschlossene Unterhaltsvereinbarung zwischen Eltern und Kindern habe die Behörde als nicht angemessen erachtet. Sachgerecht sei die Zuerkennung eines Unterhalts in Höhe von jeweils 22 % des monatlichen erzielten bzw bei Anspannung erzielbaren Nettoeinkommens der Kinder.
[5] Die Kinder wandten ein, dass die Eltern sie nicht unterstützt und der Vater keinen ausreichenden Unterhalt bezahlt hätten. Der Sohn habe neben seiner Ausbildung arbeiten müssen, um diese finanzieren zu können. Er unterstütze die Eltern finanziell und gewähre darüber hinaus Naturalunterhalt. Die Tochter habe ihren Arbeitsplatz ohne Verschulden verloren und absolviere ein freiwilliges soziales Jahr, wofür sie lediglich ein Taschengeld erhalte.
[6] Das Erstgericht wies die Anträge der Eltern ab. Grundsätzlich seien die Kinder im vorliegenden Fall den Eltern gegenüber zur Zahlung von Unterhalt gemäß § 234 ABGB verpflichtet. Eine Unterhaltsverwirkung durch gröbliche Vernachlässigung der Unterhaltspflicht durch den Vater sei nicht gegeben. Unter Berücksichtigung der den Eltern gezahlten Mindestsicherung von insgesamt rund 1.300 EUR sei von einer teilweisen Selbsterhaltungsfähigkeit der Eltern auszugehen. Die Mindestsicherung sei als Eigeneinkommen der Eltern zu berücksichtigen, weil die Kinder des Mindestsicherungsbeziehers gemäß § 23 Abs 3 TMSG nicht zum Kostenersatz verpflichtet seien. Es bestehe kein Anspruch auf Doppelversorgung. Ausgehend vom Einkommen des Sohnes und des erzielten – und teilweise unter Berücksichtigung des Anspannungsgrundsatzes erzielbaren – Einkommens der Tochter ergebe sich daher im vorliegenden Fall rechnerisch eine Unterhaltsverpflichtung der Kinder, die niedriger sei, sodass die Kinder keinen Geldunterhalt schulden.
[7] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Eltern gegen diese Entscheidung nicht Folge. Auch das Tiroler Mindestsicherungsgesetz sei vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt. Seine Regelungen zeigten, dass durch die Gewährung von Mindestsicherung grundsätzlich keine Entlastung des Unterhaltspflichtigen bewirkt werden soll. Dies gelte jedoch nicht im vorliegenden Fall, in dem die Kinder gemäß § 23 Abs 3 TMSG von der Kostenersatzpflicht ausgenommen seien, sodass die Mindestsicherung als Eigeneinkommen zu qualifizieren sei. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil offen bleibe, ob mit diesem Ergebnis dem Subsidiaritätsgedanken des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes Rechnung getragen werde.
[8] Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts erhoben die Eltern Revisionsrekurs, mit dem sie die Stattgebung ihrer Anträge, hilfsweise die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen anstreben. Die Kinder beteiligten sich nicht am Revisionsrekursverfahren.
Rechtliche Beurteilung
[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
[10] Die Revisionsrekurswerber wenden sich gegen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die ihnen bezahlte Mindestsicherung als Eigeneinkommen anzusehen sei, weil die Kinder gemäß § 23 Abs 3 TMSG nicht zum Ersatz der Kosten herangezogen werden könnten. Dem stehe der sich aus § 1 Abs 4 TMSG innewohnende Grundgedanke der Subsidiarität der Leistungen nach dem Tiroler Mindestsicherungsgesetz entgegen. Insbesondere normiere dieses in § 24 TMSG eine aufgeschobene Legalzession.
[11] Dem kommt Berechtigung zu:
[12] 1.1 Der Oberste Gerichtshof hat jüngst in der Entscheidung 5 Ob 213/22t in einem vergleichbaren Fall eines Unterhaltsanspruchs einer Mutter gegen ihre Tochter nach § 234 ABGB zu den auch hier anzuwendenden Bestimmungen des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes ua ausgeführt:
„[22] 3.3. Das hier anzuwendende Tiroler Mindestsicherungsgesetz (TMSG), LGBl 2010/99, ist vom Grundsatz der Subsidiarität geprägt (ErläutRV zu LGBl 2010/99, 4 und 32 f): Leistungen der Mindestsicherung sind so weit zu gewähren, als der jeweilige Bedarf nicht durch den Einsatz eigener Mittel und Kräfte sowie durch Leistungen Dritter gedeckt werden kann (§ 1 Abs 4 TMSG).
[23] Gemäß den §§ 15 und 16 TMSG hat der Hilfesuchende vor der Gewährung von Mindestsicherung sein eigenes Einkommen und Vermögen einzusetzen und seine Bereitschaft zum Einsatz seiner Arbeitskraft zu zeigen oder sich um eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit zu bemühen. Gemäß § 17 TMSG hat der Antragsteller außerdem vor der Gewährung von Mindestsicherung – soweit zumutbar und nicht offensichtlich aussichtslos – alle öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Ansprüche auf bedarfsdeckende oder bedarfsmindernde Leistungen gegen Dritte zu verfolgen (Abs 1), wenngleich jedem Anspruchsberechtigten die Mindestsicherung bis zur tatsächlichen Durchsetzung seiner Ansprüche als Vorausleistung zu gewähren ist (Abs 2).
[24] Der Bezieher von Mindestsicherung ist gemäß § 22 Abs 1 TMSG unter anderem dann zum Ersatz der für ihn aufgewendeten Kosten verpflichtet, wenn und soweit er nach dem Bezug der Mindestsicherung zu Vermögen gelangt, das nicht aus eigener Erwerbstätigkeit erwirtschaftet wurde. Dritte sind gemäß § 23 Abs 1 TMSG zum Ersatz der für den Mindestsicherungsbezieher aufgewendeten Kosten verpflichtet, wenn dieser ihnen gegenüber im Bezugszeitraum Ansprüche auf Leistungen nach § 17 Abs 1 TMSG, also insbesondere Unterhaltsansprüche, hatte. Nicht zum Kostenersatz verpflichtet sind a) die Kinder, Enkelkinder und Großeltern des (früheren) Mindestsicherungsbeziehers und b) die Eltern des (früheren) Mindestsicherungsbeziehers hinsichtlich jener Leistungen, die dieser nach dem Erreichen seiner Volljährigkeit bezogen hat (§ 23 Abs 3 TMSG). § 24 TMSG regelt den Übergang der Ansprüche des Mindestsicherungsbeziehers auf Leistungen nach § 17 Abs 1 TMSG auf das für die Gewährung der Mindestsicherung zuständige Organ (Legalzession); eine schriftliche Anzeige an den Dritten bewirkt den Übergang des Anspruchs auf den Rechtsträger der Mindestsicherung.
[26] 3.4. In der Zusammenschau zeigen diese Regelungen des TMSG, namentlich jene über die Kostenersatzpflicht Dritter und den Übergang von Rechtsansprüchen, dass durch die Gewährung von Mindestsicherung keine grundsätzliche Entlastung des Unterhaltspflichtigen bewirkt werden soll (3 Ob 201/20k). Die unterhaltspflichtigen Kinder, Enkelkinder, Großeltern und Eltern (großjähriger Kinder) sind zwar von der unmittelbaren Kostenersatzpflicht gegenüber dem Rechtsträger der Mindestsicherung ausgenommen, die Legalzession des Unterhaltsanspruchs bleibt aber nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes trotz dieses Ausschluss[es] zulässig (vgl 4 Ob 29/14i [Oö BMSG]; 4 Ob 113/22d [Oö SOHAG]). Das gegenteilige Verständnis widerspräche dem von der Subsidiarität geprägten Gesetzeszweck. Auch den Gesetzesmaterialien sind keine Anhaltspunkte für eine solche Reduktion des Anwendungsbereichs der Bestimmung über den Übergang von Rechtsansprüchen zu entnehmen.
[27] Das Tiroler Mindestsicherungsgesetz sieht demnach eine „aufgeschobene“ Legalzession vor, die nach den dargestellten Grundsätzen der Rechtsprechung die Anrechnung der dem Unterhaltsberechtigten gewährten Sozialleistungen als dessen Eigeneinkommen ausschließt. Bei Bezug einer Mindestsicherung nach dem TMSG bleibt daher der volle Unterhaltsanspruch bestehen; die vom Unterhaltsberechtigten bezogene Mindestsicherung ist bei Bemessung des Unterhalts im Verhältnis zum Unterhaltsverpflichteten nicht als Eigeneinkommen zu berücksichtigen.“
[13] 1.2 Auch in einer weiteren Entscheidung – 1 Ob 60/23i – vertrat der Oberste Gerichtshof die Rechtsansicht, dass das Tiroler Mindestsicherungsgesetz eine „aufgeschobene“ Legalzession vorsehe, die die Anrechnung der dem Unterhaltsberechtigten gewährten Sozialleistungen als dessen Eigeneinkommen ausschließt. Im Fall des Bezugs einer Mindestsicherung nach dem TMSG bleibt daher der volle Unterhaltsanspruch bestehen (Rz 35; mwH auf die damit im Einklang stehende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs in Rz 36).
[14] 1.3 Dieser überzeugenden Rechtsansicht schließt sich auch der erkennende Senat an. Die Entscheidung 9 Ob 21/17d wird im gegebenen Zusammenhang nicht aufrecht erhalten.
[15] 2. Ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht hat sich das Rekursgericht mit der im Rekurs der Eltern erhobenen Beweisrüge betreffend die Feststellung über den mittlerweiligen Antritt des Wehrdienstes des Sohnes und die Höhe dessen Besoldung nicht auseinandergesetzt. Dies führt hier jedoch nicht zu einer Zurückverweisung an das Rekursgericht, weil sich die vom Erstgericht vorgenommene Berechnung der Unterhaltsansprüche der Eltern aus einem anderen rechtlichen Grund als erörterungsbedürftig erweist:
[16] 3.1 Gemäß § 234 Abs 1 ABGB schuldet das Kind seinen Eltern und Großeltern unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse den Unterhalt, soweit der Unterhaltsberechtigte nicht imstande ist, sich selbst zu erhalten, und sofern er seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht gröblich vernachlässigt hat.
[17] 3.2 Nach den bisherigen Verfahrensergebnissen ist davon auszugehen, dass den Eltern die Selbsterhaltungsfähigkeit fehlt, weil sie lediglich die – hier außer Acht zu lassende – Mindestsicherung beziehen und daher nicht in der Lage sind, die ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse zu befriedigen (RS0047912 [T3]).
[18] 3.3 Weiters ist im konkreten Fall (RS0123336) davon auszugehen, dass den Eltern keine gröbliche Vernachlässigung ihrer Unterhaltspflichten gegenüber den Kindern vorzuwerfen ist.
[19] 3.4 Die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren Eltern und Großeltern ist der Ausnahmefall; sie ist subsidiär zur Unterhaltspflicht gegenüber eigenen Kindern (4 Ob 49/13d mwH). Dem Vorfahren wird der angemessene, nicht bloß der notdürftige Unterhalt geschuldet (1 Ob 156/97s; RS0107948). Allerdings hat ein Kind gemäß § 234 Abs 3 Satz 2 ABGB nur insoweit Unterhalt zu leisten, als es dadurch bei Berücksichtigung seiner sonstigen Sorgepflichten den eigenen angemessenen Unterhalt nicht gefährdet („beneficium competentiae“, RS0103493). Mehrere gleichrangige unterhaltspflichtige Nachkommen sind nach ihren Kräften anteilig zur Unterhaltsleistung verpflichtet. Sie haften daher anteilig nach Kräften und nicht solidarisch (RS0107953; 5 Ob 213/22t Rz 17 mwH).
[20] 4.1 Für die Berechnung der Unterhaltshöhe ist das Erstgericht von einem Richtwert von 22 % der Bemessungsgrundlage für die Höhe des Unterhaltsanspruchs ausgegangen, wobei es diesen Prozentsatz auf 20 % reduzierte, weil beide Kinder beiden Eltern Unterhalt zu zahlen hätten. Dies wird damit begründet, dass dieser Prozentsatz umgekehrt auch bei der Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber erwachsenen Kindern regelmäßig angewendet wird (vgl VwGH 2002/10/0119; 2011/10/0201 ua; Neuhauser in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 234 Rz 8 FN 41 mwH; ebenso Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10 225).
[21] 4.2 Allerdings hat das Erstgericht selbst auf davon abweichende Lehrmeinungen hingewiesen:
[22] Barth/Neumayr (in Klang, ABGB³ [ex] § 143 ABGB Rz 11) und ebenso Weinrichter (Zum Unterhaltsanspruch von Aszendenten insb bei deren Heimunterbringung - Interpretation des § 143 ABGB als „Sonderbedarfsregel“, iFamZ 2007, 232) weisen darauf hin, dass es an der dieser Rechtsprechung zugrunde gelegten Symmetrie zwischen Aszendenten- und Deszendentenunterhalt fehle. Der Gesetzeswortlaut des § 143 (nunmehr: § 234) ABGB setze einen niedrigeren Standard fest als § 140 (nunmehr iW § 231) ABGB, dürfe doch der eigene angemessene Unterhalt des Kindes nicht gefährdet sein. Überdies finanziere die aktuell erwerbstätige Generation die gegenwärtigen Leistungen des Sozialsystems für Pensionisten. Es spreche daher mehr dafür, die Unterhaltshöhe danach festzulegen, was ein pflichtbewusster Verpflichteter in der gleichen Situation ausgeben würde. In der Regel seien auf dieser Grundlage nicht 22 % der Unterhaltsbemessungsgrundlage zu zahlen.
[23] Auch Stabentheiner/Reiter (in Rummel/Lukas, ABGB4 § 234 Rz 4) stehen einer schematischen Anwendung dieses Prozentsatzes bei der Unterhaltsbemessung kritisch gegenüber. Die aus dem Kindesunterhaltsrecht herrührende Prozentsatzmethode knüpfe an eine andere Situation an, nämlich Geldunterhaltspflicht des einen und Betreuung des anderen Elternteils. Dies passe nicht für den Kontext des § 234 ABGB. Der Unterhalt sei unter Abwägung der Gegebenheiten des Einzelfalls individuell festzusetzen.
[24] Stefula (in KBB7 § 234 ABGB Rz 4) weist auf diese Meinungsdivergenzen hin und führt aus, dass sich das Ausmaß der Unterhaltspflicht nach den Lebensverhältnissen sowohl des verpflichteten Kindes als auch des bedürftigen Eltern- bzw Großelternteils richtet. Geschuldet werde insofern ein angemessener, nicht bloß ein notdürftiger Unterhalt.
[25] Gitschthaler (Unterhaltsrecht4 Rz 1220 f) lehnt eine Berechnung nach der Prozentwertmethode ab und betont ebenfalls, dass Kindes- und Ehegattenunterhalt einerseits und Eltern- bzw Großelternunterhalt andererseits nicht gleichrangig seien. Darüber hinaus sei auch die Bedarfslage regelmäßig nicht vergleichbar, wobei außerdem der Wortlaut des § 234 ABGB gegenüber jenem des § 231 ABGB einen niedrigen Standard des Aszendenten nahelege. Da die Unterhaltsansprüche der Kinder den Eltern gegenüber primär im Unterhaltsrecht, jene der Eltern ihren Kindern gegenüber jedoch im Umlageverfahren des Pensionsversicherungsrechts begründet seien, belaste ein Zuspruch angemessenen Unterhalts die Kinder doppelt; zuzuerkennen sei daher nur ein mit dem Ausgleichszulagenrichtsatz begrenzter Billigkeitsunterhaltsanspruch, vergleichbar jenem nach § 68a EheG.
[26] 4.3 Festzuhalten ist mit der überwiegenden Lehre und der jüngsten Rechtsprechung (5 Ob 213/22t Rz 15; 1 Ob 60/23i Rz 30) daran, dass die Kinder verpflichtet sind, den Eltern angemessenen und nicht nur notdürftigen Unterhalt zu zahlen, wie dies in der Entscheidung 1 Ob 156/97s auch näher begründet wurde. Auch Schwimann/Kolmasch weisen darauf hin, dass die Prozentkomponente – wie alle Prozentkomponenten – nicht mehr als ein ungefährer Richtwert sei und führen aus, dass die Verpflichtung, angemessenen Unterhalt zu zahlen bedeutet, dass die Unterhaltshöhe zur Deckung der angemessenen Bedürfnisse der Eltern ausreichen muss (Unterhaltsrecht10, 225). Überzeugend gegen die schlichte Berechnung des Unterhaltsanspruchs nach einer Prozentkomponente spricht jedoch das Argument, dass der Unterhaltsanspruch der Eltern nach § 234 ABGB nicht vergleichbar zu jenem „erwachsener“ Kinder gegenüber ihren Eltern ist.
[27] 4.4 Kinder sollen nach den Wertungen des § 234 ABGB Eltern nur dann Unterhalt leisten, wenn diese nicht imstande sind sich selbst zu erhalten und die Kinder in der Lage, einen Verdienst zu erzielen, der ihren eigenen angemessenen Unterhalt sichert und ihnen die Leistung von Unterhalt an die Eltern ermöglicht. § 234 setzt damit einen niedrigeren Standard fest alos § 231 ABGB, indem der eigene angemessen Unterhalt des Kindes nicht gefährdet sein darf. Um Unterhaltszahlungen an die Eltern leisten zu können, müssen Kinder in aller Regel einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, sodass sie Beiträge in das Sozialversicherungssystem – insbesondere auch in das Pensionsversicherungssystem – und Steuern leisten, mit denen ebenfalls wiederum Sozialleistungen (wie zB die von den Ländern zu finanzierende Sozialhilfe) finanziert werden. Die gesetzliche Pensionsversicherung wird – auch nach Umstellung auf individuelle Pensionskonten – im Umlageverfahren finanziert: Die laufenden Einzahlungen dienen der Finanzierung der laufenden Auszahlungen (vgl nur Tomandl in Tomandl, System des österreichischen SV-Rechts [25. ErgLfg] 22 ff). Dazu kommen Sozialversicherungsleistungen wie Pflegegeld, Mindestsicherung ua wie Gitschthaler (siehe oben Pkt 4.2) ausführt, belastet die Kinder ein Zuspruch angemessenen Unterhalts insofern „doppelt“.
[28] 4.5 Es ist daher sachgerecht, die Berechnung des angemessenen Unterhaltsanspruchs der Eltern gemäß § 234 ABGB immer konkret an den individuellen Lebensverhältnissen der bedürftigen Eltern und der unterhaltspflichtigen Kinder im Einzelfall zu orientieren. Eine Berechnung nach einer Prozentwertmethode kann in diesen Fällen lediglich ein ungefährer Richtwert sein.
[29] 5.1 Das Erstgericht hat zwar Feststellungen über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie die Sorgepflichten beider Kinder getroffen, um die Leistungsfähigkeit beider Kinder beurteilen zu können (vgl 1 Ob 156/97s). In weiterer Folge nahm es jedoch eine Berechnung des Unterhaltsanspruchs der Eltern schematisch nach der Prozentwertmethode vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass jedes der beiden Kinder je 20 % seines (im Fall der Tochter: „angespannten“) Nettoeinkommens an jeden der beiden Eltern zu zahlen hätte, jedes Kind daher 40 % seines Nettoeinkommens an beide Eltern. Ausgehend von seiner Rechtsansicht, die Mindestsicherung sei als Eigeneinkommen abzuziehen, traf das Erstgericht jedoch keine Feststellungen aus denen sich erstens die im konkreten Fall angemessenen Bedürfnisse der Eltern ergeben und auch beurteilen lässt, ob durch die Leistung einer solchen monatlichen Unterhaltszahlung der eigene angemessene Unterhalt der Kinder gefährdet wäre (§ 234 Abs 3 Satz 2 ABGB). Dies erfordert eine Ergänzung des Verfahrens erster Instanz.
[30] 5.2 Zum Unterhaltsbedarf der Eltern (zu deren angemessenen Bedürfnissen) steht bisher fest, dass die Kosten deren Mietwohnung in Höhe von 791,81 EUR brutto pro Monat zu zahlen sind. Weitere Feststellungen zu den Bedürfnissen der Eltern in ihrer konkreten Lebenssituation fehlen, sind aber erforderlich, um ihren angemessenen Unterhaltsbedarf beurteilen zu können. In diesem Zusammenhang steht bisher zwar fest, dass der Sohn den Eltern erwachsende Kosten (für Reparatur- und Arztrechnungen, für Strom, Heizung und Medikamente, für Fernseh- und Handygebühren) trägt. Beide Kinder unterstützen die Eltern soweit es geht, fahren sie zu Ärzten und die Mutter zu Deutschkursen. Die Kinder übernehmen die wöchentlichen Einkäufe der Eltern. Die Tochter unternimmt wöchentlich etwas mit der Mutter, lädt sie ein und „kauft ihr immer wieder etwas“. Sie übergibt der Mutter monatlich 100 EUR für „Einkäufe und dergleichen“ und unterstützt die Mutter im Haushalt „beim Kochen und Putzen“. Ob und in welcher Höhe diese Leistungen der Kinder Auswirkungen auf den Unterhaltsbedarf der Eltern haben, lässt sich nach diesen Feststellungen aber nicht abschließend beurteilen.
[31] 5.3 In einem weiteren Schritt wird zu prüfen sein, ob der rechnerisch geschuldete angemessene Unterhalt den eigenen angemessenen Unterhalt der Kinder gefährdet. In diesem Zusammenhang steht bisher fest, dass der Sohn monatliche Ausgaben von 300 EUR für Lebensmittel, 200 EUR für Kleidung, 200 EUR für Tankkosten, 200 EUR für Freizeitaktivitäten, 50 bis 100 EUR für technische Geräte sowie 200 EUR für Urlaube und sonstige Privatausgaben hat. Die Tochter belegt einen Führerscheinkurs, wofür noch 800 EUR an Kurskosten offen sind, sie muss 4.270 EUR für eine Zahnregulierung bezahlen. Ab April 2022 beginnt sie eine Dolmetschausbildung, wofür Kurskosten von 350 EUR zu zahlen sind. Für den Deutschkurs der Stufe C 1 hat sie 500 EUR zu bezahlen. Sohn und Tochter leben gemeinsam in einer Mietwohnung, für die monatlich 750 EUR Miete und Betriebskosten sowie 100 EUR für Strom und Heizung zu zahlen sind. Diese Kosten teilten sich die Geschwister bis , seither trägt sie der Sohn allein. Ob und welche dieser Aufwendungen tatsächlich der Befriedigung des eigenen angemessenen Unterhalts der Kinder dienen, wird ebenso wie die Frage, ob allenfalls weitere, diesem Zweck dienende Aufwendungen von ihnen geleistet werden müssen, im fortzusetzenden Verfahren festzustellen sein, um beurteilen zu können, ob und in welchem Ausmaß die Leistung eines angemessenen Unterhalts an die Eltern ohne Gefährdung des angemessenen Unterhalts der Kinder möglich ist.
[32] Diese Umstände machen eine Ergänzung des Verfahrens in erster Instanz erforderlich, weshalb dem Revisionsrekurs im Sinn des Aufhebungsantrags Folge zu geben war.
[33] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 78 AußStrG.
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Rechtsgebiet | Zivilrecht |
ECLI | ECLI:AT:OGH0002:2023:0090OB00110.22Z.0427.000 |
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Fundstelle(n):
LAAAF-67656