VwGH vom 23.10.2012, 2011/10/0201

VwGH vom 23.10.2012, 2011/10/0201

Beachte

Serie (erledigt im gleichen Sinn):

2012/10/0077 E

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Mizner und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Beschwerde des GG in K, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Feichtner, Rechtsanwalt in 6370 Kitzbühel, Josef-Pirchl-Straße 9, gegen den Bescheid der Tiroler Landesregierung vom , Zl. Va-456-47104/1/8, betreffend Mindestsicherung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Spruchpunkt 2. des Bescheides vom hat die Tiroler Landesregierung den Antrag des Beschwerdeführers vom auf Gewährung von Mindestsicherungsleistungen nach dem Tiroler Mindestsicherungsgesetz - TMSG, LGB. Nr. 99/2010, abgewiesen.

Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer lebe gemeinsam mit seiner volljährigen Tochter in einer Mietwohnung, für die eine monatliche Miete von EUR 365,82 sowie monatliche Heizkosten von EUR 80,-- zu leisten seien. Dafür werde eine monatliche Mietzinsbeihilfe von EUR 206,-- ausbezahlt. Der Beschwerdeführer beziehe aus einer geringfügigen Beschäftigung ein Einkommen von EUR 80,-- im Monat. Seine Tochter verdiene monatlich EUR 1.141,59. Die Tochter habe neben der Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Beschwerdeführer keine weiteren Unterhaltspflichten. Der Beschwerdeführer sei gemäß § 18a ASVG selbstversichert und habe dafür monatliche Aufwendungen von EUR 52,78.

Auf Grund der Haushaltsgemeinschaft mit der Tochter sei für den Beschwerdeführer der Mindestsatz gemäß § 5 Abs. 2 lit. b TMSG für Volljährige im gemeinsamen Haushalt in der Höhe von EUR 423,53 maßgeblich. Der Mietaufwand inklusive Betriebskosten entspreche den Kriterien des § 6 TMSG für einen Zweipersonenhaushalt und sei daher zur Gänze zu berücksichtigen. Gemäß § 18 Abs. 2 TMSG sei das Einkommen der Tochter, soweit es deren - fiktiv berechneten - Mindestsicherungsanspruch übersteige, als dem Beschwerdeführer zukommende Leistung Dritter zu berücksichtigen. Berücksichtige man, dass die Tochter die halben Wohnkosten (inklusive Heizkosten und abzüglich Mietzinsbeihilfe) in der Höhe von insgesamt EUR 119,91 zu tragen habe und berücksichtige man den auch für die Tochter maßgeblichen Mindestsatz von EUR 423,53, so ergebe sich ein fiktiver Mindestsicherungsanspruch der Tochter von EUR 543,44. Der diesen Betrag übersteigende Teil ihres Einkommens betrage EUR 598,15. Dieser Betrag sei bei der Berechnung des Mindestsicherungsanspruches des Beschwerdeführers als Leistung Dritter zu berücksichtigen. Der Mindestsicherungsanspruch des Beschwerdeführers betrage (unter Berücksichtigung des monatlichen Aufwandes für die Selbstversicherung in der Höhe von EUR 52,78) EUR 596,22. Dieser Anspruch werde durch die anzurechnende Leistung der Tochter gedeckt.

Über die ihrem gesamten Inhalt nach nur gegen den Spruchpunkt 2. dieses Bescheides gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Die hier maßgeblichen Bestimmungen des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes - TMSG, LGBl. Nr. 99/2010, haben (auszugsweise) folgenden Wortlaut:

" § 1. …

(4) Leistungen der Mindestsicherung sind so weit zu gewähren, als der jeweilige Bedarf nicht durch den Einsatz eigener Mittel und Kräfte sowie durch Leistungen Dritter gedeckt werden kann. Dabei sind auch Hilfeleistungen, die nach anderen landesrechtlichen oder nach bundesrechtlichen oder ausländischen Vorschriften in Anspruch genommen werden können, zu berücksichtigen.

§ 2. …

(6) Im gemeinsamen Haushalt mit anderen Personen lebt, wer mit diesen bei einheitlicher Wirtschaftsführung eine Wohnung teilt.

§ 17. (1) Vor der Gewährung von Mindestsicherung hat der Hilfesuchende öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Ansprüche auf bedarfsdeckende oder bedarfsmindernde Leistungen gegen Dritte zu verfolgen, soweit dies nicht offensichtlich aussichtslos oder unzumutbar ist.

(2) Mindestsicherung ist unbeschadet der Verpflichtung nach Abs. 1 als Vorausleistung zu gewähren, wenn der Hilfesuchende bis zur tatsächlichen Durchsetzung seiner Ansprüche anspruchsberechtigt im Sinn dieses Gesetzes ist. Die unmittelbar erforderliche Bedarfsdeckung ist jedenfalls zu gewährleisten.

§ 18. (1) Das Ausmaß der Leistungen der Mindestsicherung ist im Einzelfall unter Berücksichtigung des Einsatzes der eigenen Mittel und der Bereitschaft des Hilfesuchenden zum Einsatz seiner Arbeitskraft sowie der bedarfsdeckenden oder bedarfsmindernden Leistungen Dritter zu bestimmen.

(2) Zu den bedarfsdeckenden oder bedarfsmindernden Leistungen Dritter zählt neben den Leistungen, auf die der Hilfesuchende einen Anspruch nach § 17 Abs. 1 hat, auch das Einkommen der mit ihm in Lebensgemeinschaft lebenden Person oder der mit ihm im gemeinsamen Haushalt lebenden und ihm gegenüber unterhaltsverpflichteten Personen, soweit dieses den Mindestsatz nach § 5 Abs. 2 lit. b zuzüglich des auf diese Person entfallenden Wohnkostenanteiles übersteigt. Von diesem Einkommen sind allfällige Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Dritten in Abzug zu bringen.

(3) Hat der Hilfesuchende auf eine bedarfsdeckende oder bedarfsmindernde Leistung keinen Anspruch nach § 17 Abs. 1, so ist diese bei der Bestimmung des Ausmaßes der Mindestsicherung nur zu berücksichtigen, soweit sie

a) regelmäßig in einem Ausmaß erbracht wird, das wesentlich zur Deckung der Grundbedürfnisse des Hilfesuchenden beiträgt, oder

b) in einem Ausmaß erbracht wird, das wesentlich zur Bewältigung außergewöhnlicher Schwierigkeiten des Hilfesuchenden beiträgt.

§ 19. (1) Die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 5 kann gekürzt werden, wenn der Mindestsicherungsbezieher

c) seine Ansprüche gegenüber Dritten nicht in zumutbarer Weise verfolgt,

…"

§ 143 ABGB hat folgenden Wortlaut:

"(1) Das Kind schuldet seinen Eltern und Großeltern unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse den Unterhalt, soweit der Unterhaltsberechtigte nicht imstande ist, sich selbst zu erhalten, und sofern er seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht gröblich vernachlässigt hat.

(2) Die Unterhaltspflicht der Kinder steht der eines Ehegatten, eines früheren Ehegatten, von Vorfahren und von Nachkommen näheren Grades des Unterhaltsberechtigten im Rang nach. Mehrere Kinder haben den Unterhalt anteilig nach ihren Kräften zu leisten.

(3) Der Unterhaltsanspruch eines Eltern- oder Großelternteils mindert sich insoweit, als ihm die Heranziehung des Stammes eigenen Vermögens zumutbar ist. Überdies hat ein Kind nur insoweit Unterhalt zu leisten, als es dadurch bei Berücksichtigung seiner sonstigen Sorgepflichten den eigenen angemessenen Unterhalt nicht gefährdet."

Zunächst sei ausgeführt, dass die zitierten Bestimmungen des TMSG entgegen dem nicht weiter konkretisierten Beschwerdevorbringen sehr wohl in der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über eine bundesweite bedarfsorientierte Mindestsicherung, BGBl. I Nr. 96/2010, Deckung finden, und zwar in den Art. 2 Abs. 2 sowie 13 Abs. 1 und Abs. 2.

Der Beschwerdeführer bringt vor, die Verfolgung des Unterhaltsanspruches gegen seine Tochter sei offenbar aussichtslos, weshalb die Mindestsicherung gemäß § 17 Abs. 2 TMSG als Vorausleistung zu erbringen sei. Selbst wenn sich nach § 143 ABGB ein Unterhaltsanspruch errechnen würde, so wäre eine gerichtliche Durchsetzung auf Grund des der Tochter zustehenden Aufrechnungsrechtes aussichtslos. Der Beschwerdeführer habe nämlich seinerseits die Unterhaltsverpflichtung gegenüber der Tochter insofern vernachlässigt, als er einen Sonderbedarf in Form von Ausbildungs- und Führerscheinkosten nicht abgedeckt habe. Der Beschwerdeführer habe eine entsprechende Forderung seiner Tochter anerkannt. Ein Schuldschein und ein Zahlungsbefehl seien aktenkundig. Auf Grund dieser Vernachlässigung seiner Unterhaltspflicht habe der Beschwerdeführer auch den Unterhaltsanspruch gegenüber seiner Tochter verwirkt. Überdies könnte ein Unterhaltsanspruch gegen die Tochter gemäß § 143 ABGB keinesfalls in der von der belangten Behörde angenommenen Höhe von mehr als der Hälfte des Einkommens der Tochter bestehen. Die gemäß § 2 Abs. 6 TMSG für das Vorliegen eines gemeinsamen Haushalts erforderliche einheitliche Wirtschaftsführung habe die belangte Behörde ohne Grundlage angenommen.

Zunächst sei zum letztgenannten Einwand des Beschwerdeführers festgehalten, dass er damit keinen relevanten Verfahrensmangel aufzuzeigen vermag, bringt er doch keine Umstände vor, aus denen sich eine getrennte Wirtschaftsführung der in Haushaltsgemeinschaft lebenden Familienangehörigen ergeben könnte.

Beim Unterhaltsanspruch von Eltern gegen Kinder gemäß § 143 ABGB handelt es sich um einen privatrechtlichen Anspruch auf bedarfsdeckende oder bedarfsmindernde Leistungen im Sinn von § 17 Abs. 1 TMSG. Einen solchen Anspruch hat ein Hilfesuchender daher zu verfolgen, soweit das nicht offensichtlich aussichtslos oder unzumutbar ist.

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu den Sozialhilfegesetzen der Bundesländer können Forderungen des Hilfsbedürftigen gegenüber Dritten nur dann und nur insoweit zu den - vor Inanspruchnahme der Sozialhilfe einzusetzenden - eigenen Mitteln gezählt werden, als sie verfügbar, d.h. liquide oder doch rasch liquidierbar sind. Entscheidend ist, ob der Hilfesuchende die erforderliche Leistung auf Grund seines Anspruches so rechtzeitig erhalten kann, dass er in seinem Bedarf nicht gefährdet wird. Andernfalls hat der Sozialhilfeträger in Vorlage zu treten (vgl. etwa das zum Steiermärkischen Sozialhilfegesetz ergangene Erkenntnis vom , Zl. 2009/10/0174).

Dieser Grundsatz wird im TMSG durch § 17 Abs. 2 zum Ausdruck gebracht, wonach die Mindestsicherung bis zur tatsächlichen Durchsetzung des Anspruches des Hilfesuchenden als Vorausleistung zu gewähren ist und die unmittelbar erforderliche Bedarfsdeckung jedenfalls zu gewähren ist. Wenn der Mindestsicherungsbezieher seine Ansprüche gegenüber Dritten nicht in zumutbarer Weise verfolgt, so kann gemäß § 19 Abs. 1 lit. c TMSG die Leistung gekürzt werden.

Gemäß § 18 Abs. 2 TMSG zählt zu den bedarfsmindernden Leistungen Dritter - "neben den Leistungen, auf die der Hilfesuchende einen Anspruch nach § 17 Abs. 1 hat" - auch das Einkommen von unterhaltspflichtigen Haushaltsangehörigen, soweit es die für diese Person zu berechnende Mindestsicherungsleistung übersteigt. Daraus folgt, dass das den eigenen Mindestsicherungsanspruch übersteigende Einkommen eines unterhaltspflichtigen Haushaltsangehörigen auf den Mindestsicherungsanspruch des Unterhaltsberechtigten auch insoweit anzurechnen ist, als es den Unterhaltsanspruch übersteigt. Diese Anrechnung setzt aber - fallbezogen - gemäß § 18 Abs. 3 lit. a TMSG voraus, dass die den Rechtsanspruch übersteigende Unterhaltsleistung tatsächlich regelmäßig erbracht wird.

Diese Rechtslage hat die belangte Behörde insofern verkannt, als sie die Ansicht vertrat, der Teil des Einkommens der Tochter, der deren Mindestsicherungsanspruch übersteigt, sei jedenfalls auf die Mindestsicherungsleistung des Vaters anzurechnen.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde daher zunächst zu prüfen haben, ob die Tochter des Beschwerdeführers diesem tatsächlich den ihren eigenen Mindestsicherungsanspruch übersteigenden Teil ihres Einkommens regelmäßig zur Verfügung stellt. Sollte dies nicht der Fall sein, so wird die belangte Behörde zu beurteilen haben, ob und in welcher Höhe die Tochter dem Beschwerdeführer nach Maßgabe der Voraussetzungen des § 143 ABGB Unterhalt schuldet.

In diesem Zusammenhang sei zum Vorbringen, der Beschwerdeführer habe seinen Unterhaltsanspruch verwirkt, festgehalten, dass nicht jede Unterhaltspflichtverletzung des Elternteiles das Tatbild einer "gröblichen Verletzung" darstellt, die gemäß § 143 Abs. 1 ABGB die Unterhaltspflicht des Kindes ausschließt. Es muss sich vielmehr um eine nach Ausmaß bzw. Dauer qualifizierte Verletzung handeln (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/10/0279). Mit dem bloßen Vorbringen, der Beschwerdeführer habe einen Sonderbedarf seiner Tochter für Ausbildungs- und Führerscheinkosten nicht gedeckt, wird eine solche gröbliche Vernachlässigung nicht dargetan.

Die Höhe der Unterhaltsverpflichtung eines Kindes gegenüber einem Elternteil richtet sich nach den Lebensverhältnissen sowohl des verpflichteten Kindes als auch des berechtigten Vorfahren und ist grundsätzlich mit 22 % der Bemessungsgrundlage des unterhaltspflichtigen Kindes anzunehmen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/10/0304), wobei gemäß § 143 Abs. 2 ABGB mehrere Kinder den Unterhalt anteilig nach ihren Kräften zu leisten haben.

Weiters sei festgehalten, dass die nach dem Beschwerdevorbringen bestehende Gegenforderung der Tochter an rückständigen Unterhaltsleistungen, für die bereits ein Zahlungsbefehl existiere, die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen gegen die Tochter nicht unzumutbar macht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes widerspricht die Aufrechnung des aus einer rückwirkenden Unterhaltsherabsetzung resultierenden Rückforderungsanspruches des Unterhaltsschuldners mit dem Anspruch des Unterhaltsberechtigten auf laufenden Unterhalt dem Zweck des § 293 Abs. 3 EO, der darin liegt, eine Umgehung der Pfändungsbeschränkungen zu verhindern und dem Unterhaltsberechtigten zeitbezogen das Existenzminimum zu sichern (vgl. etwa das Urteil vom , 8 Ob 32/06y). Diesem Zweck widerspräche es, die Aufrechnung des laufenden Unterhaltsanspruchs mit dem Anspruch des nunmehrigen Unterhaltspflichtigen auf rückständige Unterhaltsleistungen aus der Vergangenheit zuzulassen.

Schließlich sei noch ausgeführt, dass § 23 Abs. 3 lit. a TMSG, wonach u.a. Kinder nicht zum Kostenersatz verpflichtet sind, der Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen eines Kindes bei der Bemessung der Mindestsicherungsleistung eines Elternteiles nicht entgegensteht.

Auf Grund der dargestellten Verkennung der Rechtslage durch die belangte Behörde war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am