VwGH vom 24.04.2014, 2010/15/0159
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofrätin Dr. Büsser sowie die Hofräte MMag. Maislinger, Mag. Novak und Dr. Sutter als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Zaunbauer, über die Beschwerde des Finanzamtes Salzburg-Land in 5026 Salzburg-Aigen, Aignerstraße 10, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Salzburg, vom , Zl. RV/0311-S/08, miterledigt RV/0308-S/08, betreffend u. a. Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 303 Abs. 4 BAO hinsichtlich Umsatzsteuer 2003 und 2004 sowie Umsatzsteuer 2003 und 2004 (mitbeteiligte Partei: E GmbH in H), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird im Umfang der Anfechtung (somit hinsichtlich Wiederaufnahme der Verfahren sowie Umsatzsteuer 2003 und 2004) wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
Mit dem angefochtenen Bescheid sprach die belangte Behörde u. a. über eine Berufung gegen die im Anschluss an eine abgabenbehördliche Prüfung erlassenen Wiederaufnahmebescheide betreffend Umsatz- und Körperschaftsteuer 2003 und 2004 ab. Die Berufung gegen die Wiederaufnahme der Körperschaftsteuerverfahren wies sie als unbegründet ab, wohingegen sie der Berufung gegen die Wiederaufnahme der Umsatzsteuerverfahren Folge gab.
Die Verfügung der Wiederaufnahme liege im Ermessen der Behörde. Bei einer Wiederaufnahme, die sich zu Ungunsten des Abgabepflichtigen auswirke, sei in der Begründung der positiven Ermessensentscheidung darzutun, aus welchen Gründen bei der vorzunehmenden Interessensabwägung den Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit gegenüber jenen der Billigkeit der Vorzug eingeräumt worden sei.
Bei bloß geringfügigen Auswirkungen seien amtswegige Wiederaufnahmen in der Regel nicht zu verfügen. Die Geringfügigkeit sei anhand der steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmegründe und nicht auf Grund anderer rechtlicher Beurteilungen im Sachbescheid vorzunehmen. "Das Gewicht eines Wiederaufnahmsgrundes, der sich auf mehrere Jahre auswirkt, ist in der Regel nicht je Verfahren, sondern in seiner Gesamtheit zu beurteilen (; Ritz, BAO3, § 303 Tz.41)".
Im Rahmen der abgabenbehördlichen Prüfung sei
u. a. hervorgekommen, dass die Mitbeteiligte, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Repräsentationsaufwendungen im Sinne des § 20 Abs. 1 Z 3 EStG 1988 iVm § 12 Abs. 1 Z 3 KStG 1988 sowie Privataufwendungen ihrer Gesellschafter als Betriebsausgaben verbucht und die auf solche Aufwendungen entfallende Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend gemacht habe. Die daraus resultierenden Änderungen führten bei der Körperschaftsteuer 2003 und 2004 zu Gewinnzurechnungen von etwa 3.700 EUR (2003) und 3.100 EUR (2004). In beiden Jahren seien Gewinne von etwa 5.000 EUR erklärt worden. Daraus werde bereits deutlich, dass die Änderungen keineswegs geringfügig seien, sondern Umstände gewichtiger Art darstellten, die die Abgabenbehörde zu einer Ermessensübung dahingehend berechtige, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens verfügt werde.
Die aus den Wiederaufnahmegründen resultierende Körperschaftsteuer betrage für 2003 etwa 1.260 EUR. Diesen Betrag habe der Verwaltungsgerichtshof als weder absolut noch relativ geringfügig bezeichnet (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom , 2006/15/0257).
Bei der Umsatzsteuer führten die Wiederaufnahmegründe im Jahr 2003 zu einer Kürzung der Vorsteuer von gerundet 172 EUR. Dies seien 9% der beantragten Vorsteuern von 1.832,38 EUR und lediglich 2% der Umsatzsteuerzahllast von 9.912 EUR. Dieser Betrag sei als geringfügig anzusehen und könne eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht rechtfertigen.
Gleiches gelte für das Umsatzsteuerverfahren 2004. Die Vorsteuerkürzung aus den Wiederaufnahmegründen betrage hier zumindest 285 EUR, höchstens jedoch 368 EUR. Dem stehe eine Vorsteuerkürzung von 10.056,67 EUR gegenüber, die aus der geänderten rechtlichen Beurteilung eines Wohnmobils durch die Abgabenbehörde resultiere. Die aus den neu hervorgekommenen Tatsachen resultierende Vorsteuerkürzung betrage 2,2% bzw. maximal 2,9% der beantragten Vorsteuern von 12.546,46 EUR. Wenn auch die Vorsteuerkürzung aus neuen Tatsachen im Jahr 2004 höher sei als 2003, so sei der Betrag dennoch relativ und absolut geringfügig. Ein derart geringer Betrag sei nicht geeignet, die Wiederaufnahme des Verfahrens mit den damit verbundenen steuerlichen Gesamtauswirkungen zu rechtfertigen.
Dagegen richtet sich die vom Finanzamt gemäß § 292 BAO idF vor dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013, erhobene Beschwerde. Das Finanzamt bekämpft den angefochtenen Bescheid insoweit als der Berufung gegen den Bescheid über die Wiederaufnahme der Umsatzsteuerverfahren 2003 und 2004 Folge gegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben wurden. Begründend dazu weist es auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hin, dass die steuerlichen Auswirkungen bei mehreren Verfahren nicht je Verfahren, sondern insgesamt zu berücksichtigen seien, sowie darauf, dass Verhältnismäßigkeitsüberlegungen nur im Falle der Geringfügigkeit der neu hervorgekommenen Tatsachen in die Ermessensentscheidung einzubeziehen seien.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Erstattung einer Gegenschrift und Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:
Gemäß § 303 Abs. 4 BAO idF vor dem FVwGG 2012 ist die Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter den Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a und c und in allen Fällen zulässig, in denen Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden sind, und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.
Bei der amtswegigen Wiederaufnahme nach § 303 Abs. 4 BAO ist zwischen der Rechtsfrage, ob der Tatbestand einer Wiederaufnahme des Abgabenverfahrens gegeben ist, und der Frage der Durchführung der Wiederaufnahme, die im Ermessen der Behörde liegt, zu unterscheiden. Wenn die Rechtsfrage dahingehend geklärt ist, dass ein Wiederaufnahmegrund tatsächlich gegeben ist, hat die Behörde in Ausübung ihres Ermessens zu entscheiden, ob die Wiederaufnahme zu verfügen ist. Dabei sind der Sinn des Gesetzes (Art. 130 Abs. 2 B-VG idF vor BGBl. I Nr. 51/2012, nunmehr Art. 133 Abs. 3) und § 20 BAO als Ermessensrichtlinien zu berücksichtigen (vgl. Gassner , ÖStZ 1986, 51 f, und beispielsweise das hg. Erkenntnis vom , 90/14/0044, Slg 6882/F).
Wiederaufnahmegründe liegen im Beschwerdefall (auch) hinsichtlich Umsatzsteuer 2003 und 2004 unbestritten vor. Strittig ist sohin, ob die belangte Behörde ihr Ermessen dem Gesetz entsprechend geübt hat.
Gemäß § 20 BAO sind Ermessensentscheidungen innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen des Ermessens nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen. Dabei ist dem Begriff "Billigkeit" die Bedeutung von Angemessenheit in Bezug auf berechtigte Interessen der Partei und dem Begriff "Zweckmäßigkeit" das öffentliche Interesse, insbesondere an der Einhebung der Abgaben, beizumessen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , 2006/15/0257, mwN).
Eine derartige Interessensabwägung verbietet bei Geringfügigkeit der neu hervorgekommenen Tatsachen in der Regel den Gebrauch der Wiederaufnahmemöglichkeit. Die Geringfügigkeit ist dabei an Hand der steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmegründe und nicht auf Grund der steuerlichen Gesamtauswirkungen zu beurteilen, die infolge Änderungen auf Grund anderer rechtlicher Beurteilungen im Sachbescheid vorzunehmen wären. Nur im Falle der Geringfügigkeit neu hervorgekommener Tatsachen hat die Behörde Verhältnismäßigkeitsüberlegungen - insbesondere auch in Bezug auf das Ergebnis der neuen Sachentscheidung - in ihre Ermessensentscheidung einzubeziehen (vgl. nochmals das hg. Erkenntnis vom , 2006/15/0257, mwN).
Bei Ausübung des Ermessens sind alle im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme in Betracht kommenden Umstände zu berücksichtigen. Hierzu ist festzuhalten, dass die Mitbeteiligte laut angefochtenem Bescheid in den Jahren 2003 und 2004 Repräsentationsaufwendungen im Sinne des § 20 Abs. 1 Z 3 EStG 1988 iVm § 12 Abs. 1 Z 3 KStG 1988 sowie Privataufwendungen ihrer Gesellschafter als Betriebsausgaben verbucht und die auf solche Aufwendungen entfallende Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend gemacht hat. Diese - im Rahmen einer abgabenbehördlichen Prüfung neu hervorgekommenen -
Tatsachen führten zu einer Verkürzung der Umsatz- und Körperschaftsteuer. Die steuerlichen Auswirkungen (Beseitigung der Verkürzung) haben allein in Bezug auf die Körperschaftsteuer 2003
1.260 EUR betragen, was, wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, weder absolut noch relativ geringfügig ist (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , 2009/15/0016, vom , 2006/15/0079, sowie - ein weiteres Mal - vom , 2006/15/0257). Der Verwaltungsgerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, dass bei mehreren Verfahren die steuerlichen Auswirkungen nicht je Verfahren, sondern insgesamt zu berücksichtigen sind (vgl. z.B. die hg. Erkenntnisse vom , 2009/15/0016, mwN, und vom , 98/13/0143 wo es u.a. um die Wiederaufnahme der Umsatz- und Einkommensteuerverfahren 1988 bis 1991 ging), was im Streitfall schon allein deswegen geboten ist, weil es sich bei den in Bezug auf Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer neu hervorgekommenen Tatsachen um im Wesentlichen gleich gelagerte Fakten handelt.
Die Auswirkungen der dargestellten Wiederaufnahmegründe sind somit nicht geringfügig. Dazu kommt auch noch der Umstand, dass die Wiederaufnahmegründe die Verlagerung von Kosten der privaten Lebensführung von Gesellschaften in den Bereich der Betriebsausgaben und Vorsteuern einer Körperschaft betreffen.
Daraus folgt, dass die belangte Behörde bei ihrer Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens das ihr eingeräumte Ermessen nicht im Sinne des Art. 130 Abs. 2 B-VG ausgeübt hat. Damit hat sie den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG im Umfang der Anfechtung (somit hinsichtlich Wiederaufnahme der Verfahren sowie Umsatzsteuer 2003 und 2004) aufzuheben war.
Die zitierten Bestimmungen über das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof waren gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG in der bis zum Ablauf des geltenden Fassung anzuwenden.
Wien, am