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VwGH vom 20.04.1995, 92/13/0076

VwGH vom 20.04.1995, 92/13/0076

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde des Präsidenten der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland gegen den Bescheid (Berufungsentscheidung) der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Berufungssenat II) vom , Zl. 6/1-1173/90-10, betreffend Wiederaufnahme der Verfahren hinsichtlich gesonderte Feststellung von Einkünften 1979 und Gewerbesteuer 1979 der mitbeteiligten Partei G in A, vertreten durch Dr. U, Rechtsanwalt in W, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte erzielte im Jahr 1979 aus einer Tätigkeit, die im Zusammenbau von Einrichtungsgegenständen bestand, Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Im Abgabenverfahren brachte er vor, einen Teil seiner Einnahmen unter der Bezeichnung "Fremdarbeiten" an eine Person namens St. weitergegeben zu haben, die nach Art eines Subunternehmers für den Mitbeteiligten tätig geworden sei.

Da diese Person nicht ausfindig gemacht werden konnte, wurde den angeblich weitergeleiteten Beträgen unter Bezugnahme auf die Bestimmung des § 162 BAO die Abzugsfähigkeit als Betriebsausgabe versagt. Die diesbezüglichen zweitinstanzlichen Bescheide betreffend gesonderte Feststellung von Einkünften und Gewerbesteuer für das Jahr 1979 erwuchsen im Jahr 1987 in Rechtskraft.

Zwischenzeitig lief gegen den Mitbeteiligten ein gerichtliches Strafverfahren, in dem ihm vorgeworfen wurde, dem Finanzamt falsche Urkunden, nämlich angebliche Rechnungen des St. (zum Nachweis der Weiterleitung der Einnahmen) vorgelegt zu haben.

Dieses Verfahren wurde mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom beendet. Der Mitbeteiligte wurde gemäß § 259 Z. 3 StPO freigesprochen, weil kein Schuldbeweis erbracht werden konnte. Der Mitbeteiligte war insbesondere durch ein vom Gericht eingeholtes Sachverständigengutachten entlastet worden. In dem Gutachten war festgestellt worden, daß die Rechnungen weder vom Mitbeteiligten noch von seiner Ehefrau geschrieben worden waren. Bezüglich der Unterschrift spreche viel dafür, daß es sich um einen dem Schreiber nicht geläufigen Namenszug handle.

Mit Schriftsatz vom beantragte der Mitbeteiligte (u.a.) die Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend gesonderte Feststellung von Einkünften sowie Gewerbesteuer für das Jahr 1979.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde diesem Antrag statt. Durch das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom stehe fest, daß weder der Mitbeteiligte noch seine Ehefrau Urkunden gefälscht hätten. Weiters habe das Gerichtsverfahren ergeben, daß die Person, die als St. aufgetreten sei, sich dieses Namens fälschlich bedient und damit den Mitbeteiligten getäuscht habe. Diesem sei es daher nicht zumutbar gewesen, gemäß § 162 BAO den richtigen Namen des Empfängers bekanntzugeben. Es spreche nichts gegen die Annahme, daß St. jene Person gewesen sei, die zusammen mit anderen Hilfskräften Arbeiten für den Mitbeteiligten im geltend gemachten Ausmaß erbracht habe.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beschwerde des Präsidenten der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend gemacht wird.

Der Mitbeteiligte hat eine Gegenschrift erstattet, in der

die Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Dem beschwerdeführenden Präsidenten ist darin zuzustimmen, daß Entscheidungen von Gerichten oder Verwaltungsbehörden, die nach einem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren ergehen, als solche keine Wiederaufnahmsgründe im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. b BAO für das abgeschlossene Verfahren darstellen und zwar weder hinsichtlich der darin getroffenen Sachverhaltsfeststellungen noch hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung. Sowohl eine Sachverhaltsfeststellung, als auch deren rechtliche Beurteilung beruhen nämlich auf einer behördlichen Willensbildung, deren Ergebnis rechtlich erst mit Erlassung der betreffenden Entscheidung entsteht. Selbst wenn daher in einer späteren Entscheidung auf Grund des dort ermittelten Verfahrens eine Tatsache als erwiesen angenommen wird, handelt es sich dabei nicht um eine solche, die bereits im abgeschlossenen Verfahren bestanden hat und bloß später hervorgekommen ist, sondern um das Ergebnis eines späteren Rechtsfindungsaktes.

Anders verhält es sich mit Tatsachen oder Beweismitteln, die zwar einer späteren Entscheidung zugrundeliegen, die aber schon früher als Tatsachen (Beweismittel) entstanden bzw. vorhanden waren. Sie können zur Wiederaufnahme eines anderen, bereits rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens führen. Der Umstand, daß sie durch eine später ergangene Entscheidung neu hervorgekommen sind, ist ohne Bedeutung, weil die Art und Weise, in der dem Wiederaufnahmswerber Tatsachen oder Beweismittel zur Kenntnis gelangen, für deren Eignung als Wiederaufnahmsgründe unerheblich sind.

Zu prüfen ist allerdings, ob die Tatsachen (Beweismittel)

FÜR SICH ALLEIN ODER IN VERBINDUNG MIT DEM SONSTIGEN ERGEBNIS

DES WIEDERAUFZUNEHMENDEN VERFAHRENS geeignet sind, einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeizuführen. Die in der später ergangenen Entscheidung, der die Kenntnis der Tatsachen (Beweismittel) zu verdanken ist, vorgenommene Beweiswürdigung und daraus gewonnene Sachverhaltsfeststellung stellten hingegen als nachträglich entstandene Fakten keinen Wiederaufnahmsgrund dar.

Im Beschwerdefall hat die belangte Behörde die im Strafverfahren vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien als erwiesen angenommene Tatsache als Wiederaufnahmsgrund gewertet, daß St. den Mitbeteiligten über seine Identität getäuscht habe, sodaß es diesem nicht zumutbar gewesen sei, den wahren Empfänger der Geldleistungen gemäß § 162 BAO namhaft zu machen.

Zunächst ist zu bemerken, daß diese Feststellungen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien nicht aktenkundig sind. Festgestellt wurde lediglich, daß dem Mitbeteiligten (und seiner Ehegattin) keine Urkundenfälschungen angelastet werden konnten. Bei der Annahme, daß der Mitbeteiligte von St. getäuscht wurde und deswegen nicht in der Lage war, dessen wahre Identität aufzudecken, handelt es sich um eine weitere Schlußfolgerung, die für das gerichtliche Strafverfahren ohne jede Bedeutung war.

Aber selbst wenn im Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien derartige Feststellungen getroffen worden wären, so würden sie das Ergebnis einer vom Gericht vorgenommenen Beweisaufnahme (eingeholtes Sachverständigengutachten) und Beweiswürdigung sein.

Anders wäre es, wenn im gerichtlichen Strafverfahren z.B. eine Urkunde aufgetaucht wäre, die als (bereits seinerzeit vorhandenes, aber nicht bekanntes) Beweismittel geeignet gewesen wäre, im rechtskräftig abgeschlossenen Abgabenverfahren einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeizuführen. Derartige Beweismittel sind aber durch das Gerichtsurteil nicht hervorgekommen.

Das von der belangten Behörde zu Unrecht als Wiederaufnahmsgrund gewertete Ergebnis des gerichtlichen Strafverfahrens stellt daher in Wahrheit keinen Wiederaufnahmsgrund dar. Ob die Wiederaufnahme des Verfahrens aus einem anderen Grund zulässig war, hatte der Gerichtshof nicht zu untersuchen, weil Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Prüfung, ob bestimmte Fakten als Wiederaufnahmsgründe geeignet sind, nur eben DIESE Fakten, nicht aber andere, von der belangten Behörde nicht aufgegriffene, möglicherweise als Wiederaufnahmsgründe in Betracht kommende Geschehnisse (Fakten) sind.

Lediglich im Hinblick auf das Vorbringen des Mitbeteiligten in seiner Gegenschrift sieht sich der Gerichtshof zu der Aussage veranlaßt, daß das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien auch nicht den Wiederaufnahmsgrund des § 303 Abs. 1 lit. a oder jenen der lit. c BAO erfüllte. Die in den abgeschlossenen Verfahren ergangenen Bescheide wurden weder durch eine gerichtlich strafbare Tat herbeigeführt, noch sonst wie erschlichen, sondern beruhten auf der Feststellung, daß der Empfänger der vom Mitbeteiligten als Betriebsausgaben abgesetzten Beträge von diesem nicht bekanntgegeben werden konnte.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien hatte auch keine Vorfrage im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. c BAO zu entscheiden. Die eben erwähnte Feststellung, auf der die rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren beruhten, wurde vom Gericht nicht entschieden und war von ihm auch nicht zu entscheiden, sondern oblag als Hauptfrage (Anerkennung von Betriebsausgaben) der Abgabenbehörde.

Da somit die belangte Behörde die Wiederaufnahme der Verfahren auf keinen tauglichen Wiederaufnahmsgrund gestützt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Mit Rücksicht auf die verfassungsrechtlichen Bedenken des Mitbeteiligten gegen das Rechtsinstitut der Präsidentenbeschwerde (§ 292 BAO) und die Anregung, der Verwaltungsgerichtshof möge ein diesbezügliches Gesetzesprüfungsverfahren beim Verfassungsgerichtshof beantragen, sieht sich der Gerichtshof noch zu folgenden Ausführungen veranlaßt:

Der Gerichtshof hat bereits wiederholt dargelegt, daß er gegen das Rechtsinstitut der Präsidentenbeschwerde keine verfassungsrechtlichen Bedenken hegt (vgl. die Erkenntnisse vom , 85/14/0038, 0039, und vom , 88/15/0062). Der Mitbeteiligte übersieht bei seinem Vorbringen, daß eine Präsidentenbeschwerde ausschließlich dazu dient, eine der Rechtsordnung entsprechende Rechtsfindung soweit wie möglich zu gewährleisten. Sie dient daher nicht zuletzt dem verfassungsgesetzlich verankerten Gleichheitsgrundsatz: Es soll vermieden werden, daß das dem Verwaltungsverfahren an sich fremde Element der Weisungsfreiheit (vgl. Art. 20 B-VG und § 271 Abs. 1 BAO) vereinzelt zu Rechtswidrigkeiten und damit zu wesentlicher Ungleichbehandlung von Abgabepflichtigen führen kann. Daß die Mehrzahl der Präsidentenbeschwerden zum Nachteil der Parteien erhoben wird, mag zutreffen, ist aber darauf zurückzuführen, daß Entscheidungen der Berufungssenate, durch die sich ein Abgabepflichtiger in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt erachtet, ohnehin von diesem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochten werden können und auch tatsächlich angefochten werden.

Der Mitbeteiligte verwechselt auch die Begriffe "Ermessen" und "Willkür", wenn er meint, daß der Präsident "quasi willkürlich" Beschwerde erheben kann. Daß der Gesetzgeber dem Präsidenten bei seiner Entscheidung, ob er Beschwerde erhebt oder nicht, Ermessen einräumt, verschafft diesem lediglich im Rahmen der Grundsätze, die eine Ermessensübung kennzeichnen, nämlich der Abwägung von Billigkeit und Zweckmäßigkeit, den notwendigen Spielraum, um nicht jede (vermutete) Rechtswidrigkeit zum Anlaß einer Beschwerdeerhebung zu nehmen.

Die zeitliche Verzögerung des Verfahrens, zu der es auf Grund einer Präsidentenbeschwerde kommt, wenn ihr stattgegeben wird, ist eine Folge jedes Rechtsmittelverfahrens und kann nicht dazu führen, der Schnelligkeit eines Verfahrens gegenüber der Rechtsrichtigkeit seines Ergebnisses einen verfassungsrechtlich abgesicherten Vorrang einzuräumen. Vielmehr ist es Aufgabe anderer Maßnahmen (z.B. Vereinfachung des Rechtswesens, bessere Qualität und Quantität der Entscheidungsträger) dafür zu sorgen, daß eine überlange Verfahrensdauer vermieden wird.