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VfGH vom 11.06.2012, U128/12

VfGH vom 11.06.2012, U128/12

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Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung einer armenischen Staatsangehörigen; keine Berücksichtigung der konkreten Auswirkungen der Ausweisung auf das Wohl ihres neugeborenen Kindes; keine hinreichende Begründung für die Zumutbarkeit des Familiennachzugs von österreichischen Staatbürgern in das Herkunftsland der Beschwerdeführerin

Spruch

I.1. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit damit ihre Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien angeordnet wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art 8 EMRK verletzt worden.

Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.

2. Der Bundeskanzler ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1.1. Die Beschwerdeführerin, eine am geborene armenische Staatsbürgerin, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz und gab an, dass sie nicht länger bei ihrem Onkel und seiner Frau leben könne, da diese selbst drei Kinder hätten und sie von der Frau des Onkels schlecht behandelt worden sei. Sie habe erfahren, dass sie von der Frau des Onkels vergiftet werden sollte. Die Beschwerdeführerin führte in weiterer Folge aus, dass sie in Armenien geboren und im Alter von fünf Jahren von ihrem Onkel nach Russland verbracht worden sei. Sie würde ihre Staatsbürgerschaft nicht kennen, sei jedoch Angehörige der kurdischen Volksgruppe. Die Beschwerdeführerin gab bekannt, dass sie schwanger sei.

1.2. Das Bundesasylamt (im Folgenden: BAA) wies den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 sowie § 8 Abs 6 AsylG 2005, BGBl. I 2005/100 idF BGBl. I 38/2011 (im Folgenden: AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I und II) und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs 1 iVm § 8 Abs 6 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet aus (Spruchpunkt III).

1.3. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an den Asylgerichtshof, welche hinsichtlich Spruchpunkt I als unbegründet abgewiesen wurde; hinsichtlich Spruchpunkt II und III wurde der Beschwerde stattgegeben, der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das BAA zurückverwiesen. Insbesondere habe das BAA Ermittlungstätigkeiten hinsichtlich der Staatsangehörigkeit und des 15 Jahre dauernden Aufenthalts in Russland nachzuholen.

1.4. In der Folge führte das BAA Ermittlungstätigkeiten durch und wies mit Bescheid vom neuerlich den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt I) und die Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet aus (Spruchpunkt II). Der Entscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III).

1.5. Am übermittelte die Beschwerdeführerin eine Heiratsurkunde, aus der hervorgeht, dass sie am einen österreichischen Staatsbürger geehelicht hat und erhob in der Folge binnen offener Frist Beschwerde an den Asylgerichtshof. Die Beschwerdeführerin brachte vor, durch die Heirat mit einem österreichischen Staatsbürger liege ein intensiverer familiärer Bezug vor als dies bei der Erstentscheidung des Asylgerichtshofes der Fall gewesen sei.

2. Der Asylgerichtshof wies die Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gemäß § 8 Abs 1 Asylgesetz 2005 ab (Spruchpunkt I) und verfügte gemäß § 10 Abs 1 Asylgesetz 2005 die Ausweisung nach Armenien (Spruchpunkt II).

3. Gegen diese Entscheidung des Asylgerichtshofs

richtet sich die auf Art 144a B-VG gegründete Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof vom . Die Beschwerdeführerin macht darin die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) und auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Abkommens zur Beseitigung rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973) geltend. Sie lebe mit ihrem Mann, einem österreichischen Staatsbürger, und dem gemeinsamen Kind, ebenfalls ein österreichischer Staatsbürger, in Hausgemeinschaft. Armenien sei willkürlich als Zielland der Ausreise gewählt worden, obwohl eine armenische Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin ebenso wenig gegeben sei wie die Eigenschaft Armeniens als Zielland.

4. Der Asylgerichtshof hat von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen und die Verfahrensakten übermittelt.

II. Erwägungen

A. Die - zulässige - Beschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien wendet:

1.1. Ein Eingriff in das durch Art 8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art 8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art 8 Abs 1 EMRK widersprechenden und durch Art 8 Abs 2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

Ein solcher Eingriff ist dem Asylgerichtshof vorzuwerfen:

1.2. Von wesentlicher Bedeutung ist im vorliegenden Fall, dass die Beschwerdeführerin Mutter eines neugeborenen Kindes ist, das die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Asylgerichtshofes stand die Beschwerdeführerin jedenfalls knapp vor der Geburt; dies war auch aktenkundig.

In der Begründung der angefochtenen Entscheidung

führt der Asylgerichtshof aus, dass "im gegenständlichen Fall nur die Mutter von der Ausweisung betroffen [ist], sodass der Vater durchaus die Obsorge für das gemeinsame neugeborene Kind übernehmen kann".

1.3. Der Asylgerichtshof hat es in der angefochtenen Entscheidung verabsäumt, hinsichtlich der Annahme, der Vater könne die alleinige Obsorge für das gemeinsame neugeborene Kind übernehmen, eine konkrete und fallbezogene Begründung aufzunehmen. Es widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass ein Kind kurz nach der Geburt ohne Bedenken allein beim Vater verbleiben kann. Insbesondere umfasst der für ein neugeborenes Kind zu leistende Unterhalt auch - aber nicht nur - die Befriedigung biologischer Bedürfnisse wie jenem nach Nahrung, weshalb schon aus diesem Grund jedenfalls in den ersten Lebensphasen des Kindes ein ständiger Kontakt des Kindes mit der Mutter nicht nur wünschenswert sondern notwendig sein kann. Der Asylgerichtshof hätte in dieser Hinsicht ermitteln und bei seiner Abwägungsentscheidung berücksichtigen müssen, welche konkreten Auswirkungen die Ausweisung der Beschwerdeführerin auf das Kindeswohl hat, insbesondere, ob nicht in der konkreten Situation die Ausweisung der Mutter faktisch auch das Kind zum Verlassen des Bundesgebietes zwingt (dieser Wertung folgt im Übrigen auch der EuGH in seiner Entscheidung vom , Rs. C-34/09, Gerardo Ruiz Zambrano, Rz 43, wenn er festhält, dass einer einem Drittstaat angehörenden Person in dem Mitgliedstaat des Wohnsitzes ihrer minderjährigen Kinder, die diesem Mitgliedstaat angehören und denen sie Unterhalt gewährt, der Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis nicht verweigert werden dürfen).

1.4. Indem der Asylgerichtshof die im konkreten Fall vorliegende besondere Beziehung zwischen einem neugeborenen Kind und seiner Mutter somit bei seiner Abwägungsentscheidung nicht berücksichtigt, hat er diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel behaftet. Dies wird insbesondere auch nicht dadurch ausgeglichen, dass der Asylgerichtshof darauf verweist, dass es der Familie auch möglich und zumutbar wäre, in Armenien ein Familienleben zu führen. Denn der Asylgerichtshof begründet dies folgendermaßen: Der Ehegatte der Beschwerdeführerin sei

"mit der österreichischen Staatsbürgerschaft ausgestattet und auf Grund seines bisherigen Aufenthaltes in Österreich [sei davon] auszugehen [...], dass er die deutsche Sprache einigermaßen beherrscht, dort einen erhöhten Status genießt und auf Grund seiner Sprachkenntnisse bei Bewerbungen für einen Job bevorzugt und auch finanziell besser gestellt sein wird, als die dort ansässigen Personen, die nicht über die Qualifikation des Gatten der BF verfügen. Dasselbe gilt für das noch ungeborene Kind, welches wie jedes Neugeborene Schritt für Schritt erst alles von seinen Eltern lernt und daher noch völlig unbelastet ist."

Mit dieser "Begründung" vermag der Asylgerichtshof aber keine relevanten Argumente darzutun, die die Zumutbarkeit des Familiennachzugs von österreichischen Staatsbürgern in das Herkunftsland der Beschwerdeführerin zu begründen vermögen (siehe zu der hier gebotenen fallbezogenen Interessenabwägung VfSlg. 18.832/2009 mit Hinweis auf die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR). In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der Asylgerichtshof zwar zu Recht festhält, dass im vorliegenden Fall ein relevanter Unterschied zum Ausgangssachverhalt des Falles Omoregie (EGMR , Appl. 265/07) insoweit besteht, als in dem genannten Fall vor dem EGMR bereits eine rechtskräftige Ausweisung vorlag, während vorliegend das Asyl- und Ausweisungsverfahren zum Zeitpunkt der Heirat noch nicht abgeschlossen war und auch die Geburt des gemeinsamen Kindes bei Abschluss dieses Verfahrens zumindest knapp bevorstand. Wenn der Asylgerichtshof vermeint, dass dies "keinen wesentlichen Unterschied" mache, so verkennt er die sich aus Art 8 EMRK ergebenden Anforderungen (dazu, dass in einem solchen Fall die näheren persönlichen Umstände der Zumutbarkeit der Übersiedlung des österreichischen Ehegatten in das Heimatland der Beschwerdeführerin zu untersuchen gewesen wären bereits VfSlg. 18.832/2009 und ). Auch insoweit ist die vom Asylgerichtshof vorgenommene Abwägungsentscheidung unter Art 8 EMRK in verfassungsrechtlich relevanter Weise fehlerhaft.

III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, soweit damit die Ausweisung der Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien angeordnet wird.

2. Die Kostenentscheidung stützt sich auf

§§88 iVm 88a VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- enthalten.

3. Eine mündliche Verhandlung war entbehrlich (§19 Abs 4 erster Satz VfGG).

B. Die Behandlung der Beschwerde wird aus folgenden Gründen abgelehnt, soweit sie sich gegen die Abweisung der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde gemäß Art 144a B-VG ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144a Abs 2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die hinsichtlich der Abweisung der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet (§19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG).