VfGH vom 04.12.2017, G125/2017
Leitsatz
Verfassungswidrigkeit der Regelung des ASVG betreffend den Anfallszeitpunkt von Waisenpensionen bei verspäteter Antragstellung wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsrecht; keine sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von Minderjährigen und geschäftsunfähigen Volljährigen; im Übrigen Zurückweisung des Parteiantrags
Spruch
I.1. In § 86 Abs 3 Z 1 ASVG, BGBl 189/1955 idF BGBl I 2/2015, werden im ersten Satz die Wortfolge "wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird" sowie der zweite bis sechste Satz dieser Bestimmung als verfassungswidrig aufgehoben.
2. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des in Kraft.
3. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.
II.Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.
III. Der Hauptantrag wird zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I.Antrag
Gestützt auf Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG begehrt der Antragsteller
– die Wortfolge "längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten" in § 86 Abs 3 Z 1 zweiter Satz ASVG, BGBl 189/1955 idF BGBl I 2/2015 (Hauptantrag),
– in eventu in § 86 Abs 3 Z 1 leg.cit., die Wortfolge
"wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird. Wird ein Antrag auf Waisenpension nicht fristgerecht gestellt, so fällt die Waisenpension mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag an, sofern der Antrag nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wird. Wird der Antrag auf die Pension erst nach Ablauf dieser Frist gestellt, so fällt die Pension erst mit dem Tag der Antragstellung an. Die Antragsfrist verlängert sich bei Waisenpensionsberechtigten um die Dauer eines Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft bzw. zur Betrauung einer Person mit der Obsorge und beginnt bei Waisen-pensionsberechtigten, die erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalles geboren werden, mit dem Tag der Geburt. Bei nachträglicher amtlicher Feststellung des Todestages beginnt die Antragsfrist erst mit dem Zeitpunkt dieser Feststellung. Wird für ein doppelt verwaistes Kind ein Antrag auf Waisenpension nach einem Elternteil gestellt, so ist dieser Antrag rechtswirksam für den Anspruch auf Waisenpension bzw. Waisenrente nach beiden Elternteilen und gilt für alle Pensionsversicherungsträger bzw. Unfallversicherungsträger nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz" (erster Eventualantrag)
– in eventu § 86 Abs 3 Z 1 leg.cit. zur Gänze als verfassungswidrig aufzuheben (zweiter Eventualantrag).
II.Rechtslage
1.§86 ASVG, BGBl 189/1955 idF BGBl I 2/2015, lautet wie folgt (der Hauptantrag ist durch Fettdruck, der erste Eventualantrag durch Kursivdruck und der zweite Eventualantrag durch Unterstreichung hervorgehoben):
"Anfall der Leistungen
§86. (1) Soweit nichts anderes bestimmt ist, fallen die sich aus den Leistungsansprüchen ergebenden Leistungen mit dem Entstehen des Anspruches (§85) an.
(2) Nach dem Tode des Empfängers einer Versehrtenrente fallen Hinterbliebenenrenten aus der Unfallversicherung mit dem Tag an, der auf den Tod des Rentenempfängers folgt.
(3) Pensionen aus der Pensionsversicherung fallen an:
1. Hinterbliebenenpensionen fallen mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird. Wird ein Antrag auf Waisenpension nicht fristgerecht gestellt, so fällt die Waisenpension mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag an, sofern der Antrag längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wird. Wird der Antrag auf die Pension erst nach Ablauf dieser Frist gestellt, so fällt die Pension erst mit dem Tag der Antragstellung an. Die Antragsfrist verlängert sich bei Waisenpensionsberechtigten um die Dauer eines Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft bzw. zur Betrauung einer Person mit der Obsorge und beginnt bei Waisenpensionsberechtigten, die erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalles geboren werden, mit dem Tag der Geburt. Bei nachträglicher amtlicher Feststellung des Todestages beginnt die Antragsfrist erst mit dem Zeitpunkt dieser Feststellung. Wird für ein doppelt verwaistes Kind ein Antrag auf Waisenpension nach einem Elternteil gestellt, so ist dieser Antrag rechtswirksam für den Anspruch auf Waisenpension bzw. Waisenrente nach beiden Elternteilen und gilt für alle Pensionsversicherungsträger bzw. Unfallversicherungsträger nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz.
2. [...]
(4) – (6) [...]"
III.Antragsvorbringen und Vorverfahren
1.Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1.Der im Jahr 1970 geborene Antragsteller leidet seit einer Meningitiserkrankung im Jahr 1978 u.a. an akustischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Er ist infolgedessen erwerbsunfähig. Am verstarb der Vater des Antragstellers. Als im Zuge eines Schlichtungsverfahrens im Zusammenhang mit einem Kreditvertrag Zweifel an der uneingeschränkten Geschäftsfähigkeit des Antragstellers entstanden, wurde im Februar 2016 beim Bezirksgericht Baden die Bestellung eines Sachwalters für den Antragsteller angeregt. Im Rahmen des Sachwalterbestellungsverfahrens wurde ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt, mit dem Ergebnis, dass der Antragsteller an paranoider Schizophrenie leide und zu einer selbständigen Lebensführung nicht in der Lage sei. Ein für den Antragsteller – zunächst vorläufig – bestellter Sachwalter stellte für ihn am bei der Pensionsversicherungsanstalt Anträge auf Gewährung einer Waisenpension und einer Ausgleichszulage ab dem "". Mit Bescheid vom erkannte die Pensionsversicherungsanstalt dem Antragsteller eine Waisenpension ab dem zu. Mit Bescheid vom erkannte die Pensionsversicherungsanstalt dem Antragsteller ab dem ferner eine Ausgleichszulage zu.
1.2.Gegen beide Bescheide erhob der Antragsteller Klage an das Landesgericht Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht. Mit Urteil vom , Z 9 Cgs 263/16x, wies das Landesgericht das Klagebegehren, die Pensionsversicherungsanstalt sei schuldig, dem nunmehrigen Antragsteller auch für den Zeitraum vom bis eine Waisenpension und eine Ausgleichszulage zu gewähren, ab und zwar im Wesentlichen zusammengefasst mit der Begründung, dass der Gesetzgeber für den Fall, dass ein an sich erwachsener und eigenberechtigter Antragsteller zufolge Geschäftsunfähigkeit zur Antragstellung erst verspätet in der Lage sei, keine Regelung getroffen habe. Eine analoge Anwendung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG sowie der §§21, 1494 ABGB komme – unter Hinweis auf einschlägige Vorjudikatur – nicht in Betracht, daher habe auch in einem solchen Fall das in der Pensionsversicherung allgemein herrschende Antragsprinzip zu gelten. Dagegen erhob der Antragsteller Berufung und stellte aus Anlass dieses Rechtsmittels den vorliegenden Parteiantrag.
2.Der Antragsteller bringt in seinem Parteiantrag vor, das Landesgericht Wiener Neustadt habe sein Urteil damit begründet, dass der Antrag auf Gewährung von Waisenpension und Ausgleichszulage erst zwei Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles (Tod des Vaters des Klägers) gestellt worden sei. Da die Antragstellung somit später als sechs Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles erfolgt sei, falle die Pension erst mit dem Tag der Antragstellung an. Eine analoge Anwendung des § 86 Abs 3 Z 1 zweiter Satz ASVG auf geistig behinderte bzw. psychisch kranke Volljährige sei auf Grund der Intention des Gesetzgebers, dass diese Regelung nur auf Minderjährige anwendbar sein solle, nicht möglich. Dieses Urteil stütze sich auf eine verfassungswidrige Bestimmung, nämlich § 86 Abs 3 Z 1 ASVG. Der Antragsteller erachtet sich durch die Anwendung dieser Regelung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt und führt dazu aus:
"Grundsätzlich fällt eine Hinterbliebenenpension gemäß § 86 Abs 3 Z 1 ASVG demnach mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag an, sofern der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird. Wird der Antrag erst später gestellt, so fällt die Pension erst mit dem Tag der Antragstellung an.
§86 Abs 3 Z 1 S 2 ASVG statuiert für Waisenpensionen eine Ausnahme von dieser Grundregel, und zwar ausdrücklich jedenfalls für den Fall, dass der Antragsteller im Zeitpunkt des Todes des Unterhaltspflichtigen noch minderjährig war. Diesfalls fällt die Pension – unabhängig vom Tag des Eintritts des Versicherungsfalles – jedenfalls mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag an, sofern der Antrag auf Waisenpension innerhalb von sechs Monaten nach Erreichen der Volljährigkeit gestellt wird.
Der Gesetzgeber hat demnach erkannt, dass es Fälle gibt, in denen eine Person zu einer rechtzeitigen Antragstellung nicht in der Lage ist, Eine Anwendung der Grundregel betreffend den Anfall von Hinterbliebenenpensionen würde in diesen Fällen bedeuten, dass die Betroffenen infolge unverschuldet verspäteter Antragstellung Leistungsansprüche, die ihnen grundsätzlich zustehen würden, verlieren. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass dies eine übermäßige Härte für die Betroffenen bedeuten würde, die nicht zu rechtfertigen ist.
Da die betroffenen Personen daher eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedürfen, hat sich der Gesetzgeber bezüglich Waisenpensionen zur Ausnahmeregelung des § 86 Abs 3 Z 1 S 2 ASVG entschlossen. Vom ausdrücklichen Anwendungsbereich des § 86 Abs 3 Z 1 S 2 ASVG sind allerdings nur minderjährige Pensionsberechtigte erfasst, nicht hingegen (zumindest nicht ausdrücklich) geistig behinderte oder psychisch kranke.
Geistig behinderte und psychisch kranke Menschen sind in Bezug auf ihre Schutzwürdigkeit aber Minderjährigen gleichzustellen. Infolge geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung sind die Betroffenen oftmals mindestens im selben Ausmaß wie Minderjährige nicht dazu in der Lage, ihre Interessen zu verfolgen und entsprechend zu handeln. Eine Antragstellung auf Gewährung von Waisenpension innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles ist für geistig behinderte und psychisch kranke Personen zum Beispiel allein deshalb schon nicht möglich, da die betroffenen Personen zumeist nicht in der Lage sind, komplexe Sachverhalte zu erfassen und entsprechend planend und vorausschauend zu handeln. Dies wurde im Falle des Antragstellers auch durch Sachverständigengutachten festgestellt.
Da geistig behinderte und psychisch kranke Personen aber in ihrer Schutzwürdigkeit Minderjährigen gleichzustellen sind, bedürfen sie auch desselben gesetzlichen Schutzes.
Während § 86 Abs 3 Z 1 S 2 ASVG psychisch gesunden Minderjährigen Schutz davor bietet, infolge unverschuldet verspäteter Antragstellung Leistungsansprüche, wird dieser Schutz geistig behinderten und psychisch kranken Antragstellern nicht zuteil. Diese benötigen den Schutz des Gesetzes aber in zumindest demselben Ausmaß, wie psychisch gesunde Minderjährige.
Im Ausschluss geistig behinderter und psychisch kranker Personen vom Anwendungsbereich der Norm liegt somit ein Rechtsschutzdefizit für die betroffenen Personen, das vor allem im Hinblick auf den Schutzzweck des § 86 Abs 3 Z 1 S 2 ASVG – nämlich Personen, die ohne eigenes Verschulden nicht dazu in der Lage sind rechtzeitig einen Antrag auf Gewährung von Waisenpension zu stellen – nicht zu rechtfertigen ist.
Aufgrund dieser Ungleichbehandlung verletzt § 86 Abs 3 Z 1 ASVG den Gleichheitssatz des Art 7 B-VG und ist somit verfassungswidrig, jedenfalls wenn die Bestimmung nicht durch verfassungskonforme Auslegung auch auf geistig behinderte und psychisch kranke Personen anzuwenden wäre."
3.Die Bundesregierung hat von der Erstattung einer Äußerung Abstand genommen, jedoch für den Fall der Aufhebung der angefochtenen Bestimmung beantragt, der Verfassungsgerichtshof wolle gemäß Art 140 Abs 5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr bestimmen.
IV.Erwägungen
1.Zur Zulässigkeit
1.1.Gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auch auf Antrag einer Person, die als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels. Nach § 62a Abs 1 erster Satz VfGG idF BGBl I 78/2016 kann eine Person, die als Partei in einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, einen Antrag stellen, das Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben.
1.2.Der vorliegende Antrag wurde aus Anlass der Berufung gegen ein Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom , Z 9 Cgs 263/16x, gestellt. Mit diesem Urteil wurde die Rechtssache in erster Instanz durch ein ordentliches Gericht entschieden (Art140 Abs 1 Z 1 litd B-VG).
1.3.Als Kläger ist der Antragsteller Partei des Verfahrens vor dem ordentlichen Gericht, womit er zur Antragstellung gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG berechtigt ist.
1.4.Dem Erfordernis der Einbringung aus Anlass eines Rechtsmittels hat der Antragsteller jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass er den vorliegenden Antrag und das Rechtsmittel gegen das Urteil des Landesgerichtes am selben Tag erhoben und eingebracht hat (vgl. VfSlg 20.074/2016).
Im Übrigen geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass das erhobene Rechtsmittel rechtzeitig und zulässig ist.
1.5.Ein auf Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG gestützter Antrag auf Aufhebung eines Gesetzes oder von bestimmten Stellen eines solchen kann gemäß § 62 Abs 2 VfGG nur dann gestellt werden, wenn das Gesetz vom Gericht in der anhängigen Rechtssache unmittelbar anzuwenden bzw. die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes eine Vorfrage für die Entscheidung der beim Gericht anhängigen Rechtssache ist oder nach Ansicht des Antragstellers wäre. Eine Antragstellung gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG setzt daher voraus, dass die angefochtene Bestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des ordentlichen Gerichtes im Anlassfall bildet (VfSlg 20.029/2015; vgl. VfSlg 20.010/2015).
1.5.1.Voraussetzung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle ist – entsprechend der Formulierung des Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG und nach § 62a Abs 1 erster Satz VfGG in der durch die verfassungsgerichtliche Aufhebung bewirkten Fassung – die Einbringung eines Rechtsmittels in einer "in erster Instanz entschiedenen Rechtssache". Außerdem muss der Parteiantrag gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG "aus Anlass" der Erhebung eines Rechtsmittels gestellt werden.
1.5.2.Das Erstgericht hat jene Norm, deren Verfassungswidrigkeit der Antragsteller behauptet, zweifelsfrei angewendet, da sich das Urteil auf diese Norm stützt. Die angefochtene Bestimmung ist somit als präjudiziell anzusehen.
1.6.Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
Aus dieser Grundposition folgt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Umfang der in Prüfung gezogenen Norm nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011). Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann (VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014, 20.070/2016; ; , G105/2016).
Unzulässig ist der Antrag ua dann, wenn der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde (vgl. zB VfSlg 18.891/2009, 19.933/2014), oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde (VfSlg 18.839/2009, 19.841/2014, 19.972/2015; ).
Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit in Prüfung zu ziehender Vorschriften ergibt sich ferner, dass ein Prozesshindernis auch dann vorliegt, wenn es auf Grund der Bindung an den gestellten Antrag zu einer in der Weise isolierten Aufhebung einer Bestimmung käme, dass Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Bestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden könnte, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (VfSlg 16.869/2003 mwN).
Hingegen macht eine zu weite Fassung des Antrages diesen nicht in jedem Fall unzulässig. Soweit alle vom Antrag erfassten Bestimmungen präjudiziell sind oder der Antrag mit solchen untrennbar zusammenhängende Bestimmungen erfasst, führt dies – ist der Antrag in der Sache begründet – im Fall der Aufhebung nur eines Teiles der angefochtenen Bestimmungen im Übrigen zu seiner teilweisen Abweisung (vgl. VfSlg 19.746/2013, 19.905/2014; ; VfSlg 20.073/2016; ). Umfasst der Antrag auch Bestimmungen, die im Verfahren vor dem ordentlichen Gericht nicht präjudiziell sind, führt dies – wenn die angefochtenen Bestimmungen insoweit trennbar sind – im Hinblick auf diese Bestimmungen zur partiellen Zurückweisung des Antrages (VfSlg 20.070/2016; ; soweit diese Voraussetzungen vorliegen, führen zu weit gefasste Anträge also nicht mehr – vgl. noch VfSlg 14.342/1995, 15.664/1999, 15.928/2000, 16.304/2001, 16.532/2002, 18.235/2007 – zur Zurückweisung des gesamten Antrages).
1.7.Der Antragsteller behauptet die verfassungswidrige Ungleichbehandlung von – psychisch gesunden – Minderjährigen und geschäftsunfähigen Volljährigen in Bezug auf den Schutz vor den Folgen eines unverschuldet verspätet gestellten Antrages auf Gewährung einer Waisenpension. Vor dem Hintergrund dieses Begehrens ist der Hauptantrag unzulässig:
1.7.1.Der Hauptantrag zielt darauf ab, aus dem zweiten Satz des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG die Worte "längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten" aufzuheben, sodass der Satz "Wird ein Antrag auf Waisenpension nicht fristgerecht gestellt, so fällt die Waisenpension mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag an, sofern der Antrag [...] nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wird." übrig bleiben würde.
1.7.2.Dieser Teil der Regelung schützt Waisen, die im Zeitpunkt des Todes der versicherten Person noch minderjährig sind, in der Weise, dass die sechsmonatige Antragsfrist erst mit Erlangung der Volljährigkeit zu laufen beginnt. Der Antragsteller war im Zeitpunkt des Todes seines Vaters nicht minderjährig, sodass mit der Aufhebung der Frist die behauptete Verfassungswidrigkeit der Norm aus der Sicht des Geschäftsunfähigenschutzes nicht beseitigt werden würde, sondern sich aus dem verbleibenden Text vielmehr im Gegenschluss ergäbe, dass eine rückwirkende Pensionsgewährung dann nicht in Frage kommt, wenn der Antrag vor Erreichung der Volljährigkeit gestellt wird, ein Ergebnis, welches die Regelung für nicht geschäftsfähige Erwachsene nicht öffnen, sondern nur zur Verfassungswidrigkeit der Minderjährigenregelung führen würde. Abgesehen davon, würde auch der darauf folgende Satz zwar anwendbar bleiben, aber mangels Vorhandenseins der Frist, an die er anknüpft, ein unverständlicher Torso werden.
1.7.3.Der Hauptantrag ist daher nicht zulässig.
1.8.Zulässig ist jedoch der erste Eventualantrag: Nach dem Antragsvorbringen hat der Gesetzgeber die Ausnahmen von dem grundsätzlich mit dem Eintritt des Versicherungsfalles festgesetzten Beginn des Laufes der sechsmonatigen Antragsfrist zu wenig weit gezogen, weil er geschäftsunfähige Erwachsene unberücksichtigt gelassen hat. Im Falle der Verfassungswidrigkeit des Fehlens einer Ausnahme könnte ein verfassungskonformer Zustand nur durch die Beseitigung der Regel (also der Wortfolge "wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird" im ersten Satz des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG) samt dem daran anknüpfenden und im untrennbaren Zusammenhang stehenden zweiten bis sechsten Satz der angefochtenen Bestimmung hergestellt werden. Insoweit besteht hier ein systematischer Zusammenhang zwischen Grundtatbestand und Ausnahmebestimmung (vgl. in diesem Sinne, wenngleich zur Präjudizialität VfSlg 14.805/1997 [III.1.b.] und 16.223/2001 [2.1.2.]).
1.9.Im Hinblick auf die Zulässigkeit des ersten Eventualantrages muss daher auf den zweiten Eventualantrag nicht mehr eingegangen werden.
2.In der Sache
2.1.Der Antrag ist – soweit er zulässig ist – begründet.
2.2.Der Gleichheitssatz bindet auch die Gesetzgebung (vgl. VfSlg 13.327/1993, 16.407/2001). Er setzt ihr insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, unsachliche, durch tatsächliche Unterschiede nicht begründbare Differenzierungen und eine unsachliche Gleichbehandlung von Ungleichem (vgl. VfSlg 17.315/2004, 17.500/2005) sowie sachlich nicht begründbare Regelungen zu schaffen (vgl. VfSlg 14.039/1995, 16.407/2001). Innerhalb dieser Schranken ist es der Gesetzgebung jedoch von Verfassungs wegen nicht verwehrt, ihre (sozial-)politischen Zielvorstellungen auf die ihr geeignet erscheinende Art zu verfolgen (vgl. VfSlg 13.576/1993, 13.743/1994, 15.737/2000, 16.167/2001, 16.504/2002). Sie kann im Rahmen ihres rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes einfache und leicht handhabbare Regelungen treffen und darf bei der Normsetzung generalisierend von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen und auf den Regelfall abstellen (vgl. VfSlg 13.497/1993, 15.850/2000, 16.048/2000, 17.315/2004 und 17.816/2006, 19.722/2012, jeweils mwN) sowie auch Härtefälle in Kauf nehmen (vgl. VfSlg 16.771/2002 mwN).
2.3.Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B-VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.4.Auf das Wesentliche zusammengefasst erblickt der Antragsteller die Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Teile des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG darin, dass geistig behinderte und psychisch kranke Personen (geschäftsunfähige Volljährige) in ihrer Schutzwürdigkeit den Minderjährigen nicht gleichgestellt sind. Denn auch diese Personen seien in ganz gleicher Weise ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage, rechtzeitig einen Antrag auf Gewährung von Waisenpension zu stellen. Damit ist der Antragsteller im Recht:
Gemäß § 86 Abs 3 ASVG in der Stammfassung des ASVG, BGBl 189/1955, fielen Hinterbliebenenrenten aus der Pensionsversicherung, mit Ausnahme solcher nach einem Rentenempfänger, mit dem Eintritt des Versicherungsfalles an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wurde. Hinterbliebenenrenten nach einem Rentenempfänger fielen unter der gleichen Voraussetzung mit dem dem Versicherungsfall folgenden Monatsersten an. Alle übrigen Renten aus der Pensionsversicherung fielen mit dem Eintritt des Versicherungsfalles an, wenn die Rente binnen zwei Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles beantragt wurde. Wurde der Antrag auf die Rente erst nach Ablauf der im vorstehenden angegebenen Fristen gestellt, so fiel die Rente erst mit dem auf die Antragstellung folgenden Monatsersten an.
2.4.1.Mit der 9. Novelle zum ASVG, BGBl 13/1962, wurde die Bestimmung dahin ergänzt, dass diese Antragsfrist bei Waisenrentenberechtigten, die erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalles geboren werden, mit dem Tag der Geburt beginnt. Mit der 41. Novelle zum ASVG, BGBl 111/1986 wurde die Antragsfrist bei Waisenpensionsberechtigten um die Dauer eines Verfahrens zur Feststellung der Vaterschaft verlängert, dh. insoweit eine Fortlaufshemmung vorgesehen. Mit der 49. Novelle zum ASVG, BGBl 294/1990, wurde diese Fristhemmung auch auf Verfahren zur Bestellung des Vormundes erstreckt und schließlich wurde mit dem SRÄG 1993, BGBl 335/1993 der Minderjährigenschutz dahin erweitert, dass – für den Fall der Säumigkeit des gesetzlichen Vertreters – die Antragsfrist von sechs Monaten für eine rückwirkende Zuerkennung der Waisenpension erst mit der Erlangung der Volljährigkeit zu laufen beginnt. Für Personen, die aus Gründen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage sind, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu besorgen, sieht das Gesetz hingegen keine Sonderregelung vor. Gründe dafür sind den Materialien zu den genannten ASVG-Novellen nicht zu entnehmen.
2.4.2.Im Zivilrecht stehen hingegen Minderjährige und Personen, die aus einem anderen Grund als dem ihrer Minderjährigkeit alle oder einzelne ihrer Angelegenheiten selbst gehörig zu besorgen nicht vermögen, unter dem besonderen Schutz der Gesetze (programmatisch § 21 ABGB, zur Gleichbehandlung in Bezug auf die Geschäftsfähigkeit siehe § 865 ABGB). Dieser Schutz ist in unterschiedlichen Rechtsvorschriften zum Teil unterschiedlich gestaltet (vgl. etwa die Übersicht bei Aicher in Rummel/Lukas, Kommentar zum ABGB,§ 21 Rz 1). Im Zusammenhang mit dem Lauf von Fristen sind Minderjährige und Personen "die den Gebrauch der Vernunft nicht haben" aber insofern gleichgestellt, als gegen sie – sofern sie über keinen gesetzlichen Vertreter verfügen – eine Verjährungsfrist nicht beginnen bzw. eine begonnene Verjährungsfrist nicht früher als binnen zwei Jahren ablaufen kann (§1494 ABGB). Diese Bestimmung wird auf die einjährige Ausschlussfrist des § 95 EheG analog angewendet und gilt auch für andere Fallfristen (vgl. Madl in Kletecka/Schauer, Kommentar zum ABGB,§ 1494 Rz 4 mwN, und Mader/Janisch in Kodek/Schwimann, ABGB Praxiskommentar, § 1494 Rz 1), wobei bei unter Sachwalterschaft stehenden Personen eine Gleichsetzung mit Minderjährigen nur insoweit angenommen wird, als auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung (vgl. , JBl 2002, 42) nicht eine bloß beschränkte Geschäftsfähigkeit vorliegt (M. Bydlinski in Rummel, Kommentar zum ABGB3, § 1494 Rz 2).
2.4.3.Unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes ist auch mit Blick auf die Regelung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG ein auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung nicht Postulations- oder Geschäftsfähiger einer minderjährigen Person gleichzuhalten soweit in dieser Bestimmung für die rückwirkende Gewährung von Waisenpensionen eine sechsmonatige Antragsfrist vorgesehen ist. Denn eine auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- und prozessunfähige Person befindet sich mit einem Minderjährigen in einer rechtlich vergleichbaren Lage. Hinzu kommt, dass gerade bei Waisenpensionen in besonderem Maße mit Anspruchsberechtigten aus dem Personenkreis geistig oder psychisch behinderter Personen gerechnet werden muss, da die Gewährung einer Waisenpension an Erwachsene voraussetzt, dass die betreffende Person seit der Vollendung des 18. Lebensjahres bzw. seit dem Ablauf einer sich daran anschließenden Schul- oder Berufsausbildung spätestens seit dem 27. Lebensjahr "infolge Krankheit oder Gebrechens" erwerbsunfähig ist (§252 Abs 2 Z 3 iVm § 260 ASVG). Es ist daher nicht untypisch, wenn die Ursache einer derartigen, schon im jugendlichen Alter eintretenden, die Erwerbsunfähigkeit begründenden Erkrankung in einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung liegt.
2.4.4.Im Hinblick darauf vermag der Verfassungsgerichtshof aber keinen sachlichen Grund dafür zu erkennen, wenn der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für mündige Minderjährige vorsieht, hingegen keinen vergleichbaren Schutz für den soeben genannten Personenkreis. obgleich diese Personen auf diese Pensionsleistungen als Einkommensersatzleistung für den verlorenen Elternunterhalt typischerweise besonders angewiesen sind.
V.Ergebnis
1.§86 Abs 3 Z 1 ASVG, BGBl 189/1955 idF BGBl I 2/2015, ist daher wegen Verstoßes gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz in dem aus dem Spruch ersichtlichen Umfang als verfassungswidrig aufzuheben.
Der Hauptantrag ist hingegen als unzulässig zurückzuweisen.
2.Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art 140 Abs 5 dritter und vierter Satz B-VG. Im Hinblick auf die allenfalls erforderliche Änderung nur des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG erachtet der Verfassungsgerichtshof eine Frist von einem halben Jahr für ausreichend.
3.Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, beruht auf Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG.
4.Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art 140 Abs 5 erster Satz B-VG und § 64 Abs 2 VfGG iVm § 3 Z 3 BGBlG.
5.Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
6.Kosten sind nicht zuzusprechen, weil es im Falle eines Antrages gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 litd B-VG Sache des zuständigen ordentlichen Gerichtes ist, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (zB ; , G497/2015).
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ECLI: | ECLI:AT:VFGH:2017:G125.2017 |
Schlagworte: | Sozialversicherung, Pensionsrecht, Waisenpension, Ausnahmeregelung - Regel, VfGH / Parteiantrag, VfGH / Prüfungsumfang |
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