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VfGH vom 25.09.1990, B795/90

VfGH vom 25.09.1990, B795/90

Sammlungsnummer

12454

Leitsatz

Verletzung des Beschwerdeführers im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung; kein Vorliegen des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr; Unschuldsvermutung; keine Pflicht des Verdächtigen zum Nachweis seiner Unschuld; Verbot einer Verpflichtung des Beschuldigten zur Lieferung von Beweisen gegen sich selbst

Spruch

Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er am um

19.40 Uhr in Linz durch Organe der Bundespolizeidirektion Linz festgenommen und in der Folge bis 21.40 Uhr angehalten worden ist, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Der Beschwerdeführer begehrt in seiner an den Verfassungsgerichtshof gerichteten, auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, er sei am in Linz dadurch, daß er durch Sicherheitswachebeamte der dortigen Bundespolizeidirektion festgenommen und zwei Stunden angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG, Art 5 MRK) verletzt worden.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Linz als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor; von der Erstattung einer Gegenschrift wurde Abstand genommen.

1.2. Aus den vorgelegten Verwaltungsakten und dem damit im wesentlichen übereinstimmenden Beschwerdevorbringen geht hervor, daß zwei Sicherheitswachebeamte der Bundespolizeidirektion Linz am in der Mittagszeit zu einer im gleichen Haus wie der Beschwerdeführer wohnenden Person beordert wurden. Diese gab an, daß der Beschwerdeführer mehrere Fahrräder, zum Zeitpunkt der Anzeige insgesamt 11, im - von allen Hausparteien gemeinsam benutzten - Keller des Wohnhauses verwahre. Es handle sich dabei immer um andere Fahrräder; sie glaube, daß hier etwas "nicht mit rechten Dingen" zugehe. Bei der an Ort und Stelle vorgenommenen Überprüfung wurden 11 Fahrräder vorgefunden; eines davon war im Juli 1989 als gestohlen gemeldet worden. Der Beschwerdeführer konnte von den einschreitenden Sicherheitswachebeamten zu Hause nicht angetroffen werden.

Am nach 19 Uhr wurden die beiden Sicherheitswachebeamten abermals zur genannten Anzeigerin beordert, welche ihnen mitteilte, der Beschwerdeführer und seine Frau seien zu Hause eingetroffen; sie hätten zwei Fahrräder eingestellt, die am Vortage nicht im Keller gewesen seien.

Auf Grund dieser beiden Anzeigen wurde sodann dem Beschwerdeführer von den Sicherheitswachebeamten in seiner Wohnung eröffnet, daß er im Verdacht stehe, gestohlene Fahrräder zu besitzen bzw. mit diesen zu handeln. Der Beschwerdeführer bestritt dies und erklärte, seine Familie verfüge insgesamt über 5 Fahrräder, die alle redlich erworben worden seien.

Auf sich beruhen kann hier der divergierend beschriebene Umstand, ob der Beschwerdeführer sich bereit erklärte, den Sicherheitswachebeamten diese Fahrräder zu zeigen - so die Darstellung des Beschwerdeführers -, oder nicht - so die Darstellung in den vorgelegten Verwaltungsakten.

In der Folge wurde jedenfalls der Beschwerdeführer um 19.40 Uhr von den einschreitenden Sicherheitswachebeamten gemäß § 177 Abs 1 Z 2 iVm § 175 Abs 1 Z 3 StPO festgenommen, zur Bundespolizeidirektion Linz gebracht, dort einvernommen und um

21.40 Uhr enthaftet.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

2.1.1. Die geschilderte Festnehmung und Anhaltung ist ein in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangener Verwaltungsakt, der nach Art 144 B-VG beim Verfassungsgerichtshof bekämpfbar ist.

2.1.2. Da hier ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art 8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art 149 Abs 1 B-VG als Verfassungsgesetz im Sinne des Art 44 Abs 1 B-VG zu gelten hat, bestimmt in seinem § 4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen im Sinne des § 4 leg.cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.

2.2.2.1. Beschwerde und Verwaltungsakten, darauf aufbauend auch der Verfassungsgerichtshof gehen davon aus, daß der Beschwerdeführer im Dienst der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Gemäß § 177 Abs 1 (§10 Z 1) StPO dürfen ausnahmsweise auch Organe der Sicherheitsbehörden aus eigener Macht die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier allein in Betracht kommenden Fall des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr nach § 175 Abs 1 Z 3 StPO zum Zweck der Vorführung vor den Untersuchungsrichter verfügen.

2.2.2.2. Verdunkelungsgefahr lag aber hier schon nach dem Inhalt der schriftlichen Anzeige und nach den Angaben der niederschriftlich einvernommenen Sicherheitswachebeamten keinesfalls vor:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist nämlich Verdunkelungsgefahr nur dann zu bejahen, wenn es wirklich zu einem Verdunkelungsversuch kam oder konkrete Anhaltspunkte darauf hinweisen, daß ein Versuch, die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen, unternommen werden würde (vgl. VfSlg. 3770/1960, 6560/1971, 6910/1972, 9836/1983, 11.526/1987).

Daß der Beschwerdeführer versucht hätte, die Wahrheitsfindung zu stören, ergibt sich aus den Verwaltungsakten nicht und wurde von den einschreitenden Sicherheitswachebeamten nicht einmal angedeutet, geschweige denn behauptet. Bestimmte Umstände, die darauf hindeuteten, daß ein solcher Versuch bevorstünde, sind genauso wenig aktenkundig. Die Sicherheitswachebeamten behaupten - was im übrigen vom Beschwerdeführer anders dargestellt wird - ausschließlich, der Beschwerdeführer sei "nicht kooperativ" gewesen.

Schon im Hinblick auf das verfassungsgesetzlich verankerte Anklageprinzip des Art 90 Abs 2 B-VG und des daraus resultierenden Verbotes, Beschuldigte oder Verdächtige durch Androhung oder Anwendung rechtlicher Sanktionen dazu zu verhalten, Beweise gegen sich selbst zu liefern (s. VfSlg. 5235/1966, 5295/1966, 9950/1984, 10.291/1984, 10.394/1985, G72 ua./88), könnte auf ein derartiges Verhalten eines Verdächtigen - sofern es so stattgefunden hat, wie die eingeschrittenen Sicherheitswachebeamten behaupten - niemals rechtmäßig eine Verhaftung gemäß § 175 Abs 1 Z 3 iVm. § 177 Abs 1 Z 2 StPO gestützt werden. Auch ergibt sich aus der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK, daß ein Verdächtiger nicht seine Unschuld nachzuweisen hat. Ganz abgesehen davon stellt aber auch die bloße Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung noch nicht den Haftgrund nach der zitierten Bestimmung der StPO her (vgl. VfSlg. 3770/1960, 3780/1960, 9836/1983, 11.526/1987).

Das Vorliegen des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr ist danach im vorliegenden Fall zu verneinen.

2.2.3. Schon daraus folgt, daß die Festnahme und die Anhaltung des Beschwerdeführers gesetzwidrig waren, ohne daß es der Prüfung der Frage bedürfte, ob alle übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die bekämpfte Amtshandlung vorlagen.

2.2.4. Demgemäß wurde der Beschwerdeführer durch seine Festnahme und Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

2.3. Aus diesen Erwägungen mußte spruchgemäß entschieden werden.

3. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 Z 2 VerfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 88 VerfGG 1953.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.