TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
OGH vom 30.09.2005, 9ObA78/05v

OGH vom 30.09.2005, 9ObA78/05v

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler und Dr. Herbert Stegmüller als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Landesstelle Graz, Göstinger Straße 26, 8021 Graz, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei Johannes M*****, Zimmermann, *****, vertreten durch Mag. Georg Luckmann, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen EUR 57.068,61 sA und Feststellung (Streitwert EUR 10.000; Gesamtstreitwert EUR 67.068,61), über außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 7 Ra 118/04h-13, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom , GZ 30 Cga 59/04d-8, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision der beklagten Partei wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:

"Das Klagebegehren des Inhalts, 1. die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei den Betrag von EUR 57.068,61 samt 4 % Zinsen ab Klagezustellung () zu zahlen, und 2. es werde festgestellt, dass die beklagte Partei verpflichtet sei, der klagenden Partei alle künftigen Pflichtaufwendungen wegen des Unfalls des Martin W*****, geb , vom zu ersetzen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 5.519,34 (darin EUR 919,89 USt) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz und die mit EUR 4.146,80 (darin EUR 425,80 USt und EUR 1.592 Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen."

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit EUR 3.964,22 (darin EUR 306,87 USt und Barauslagen EUR 2.123) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte war im Jahr 2000 bei der Holzbau Wo***** GesBR als Vorarbeiter beschäftigt; Martin W***** war dort als Zimmererlehrling im dritten Lehrjahr tätig. Im August 2000 wurde die Holzbau Wo***** GesBR beauftragt, das Altdach eines Hauses zu sanieren. Zu diesem Zweck waren zuerst die vorhandenen Ziegel und die alte Lattung zu entfernen, dann eine neue Kaltschalung aufzutragen und schließlich der Dachstuhl neu einzulatten. Der Beklagte und W***** (im Folgenden kurz Lehrling) arbeiteten bei diesem Auftrag in einer Zwei-Mann-Partei zusammen. Am Vormittag des half der Lehrling dem Beklagten beim Abtragen der Ziegel am Dach. Sowohl wegen des Arbeitsaufwands als auch aus Kostengründen waren seitens der Holzbau Wo***** GesBR keine Schutzvorrichtungen wie Schutz- oder Fanggerüste bzw Geländer angebracht worden. Der Lehrling war jedoch bei dieser Arbeit auf dem Dach angeseilt. Anschließend begann der Beklagte im Bereich des Dachbodens mit der Schalung des Bodens des südlichen Schopfwalms. Dazu waren Bretter in horizontaler, gerader Ebene auf die bereits vorhandenen Schopfbalkenbretter zu nageln. Um diese Arbeit durchführen zu können, kniete der nicht angeseilte Beklagte im Inneren des Dachbodens und musste sich zum Annageln der Bretter nach außen beugen. Währenddessen war der Lehrling über Auftrag des Beklagten ca 3 m vom Beklagten entfernt im ebenen Dachbodeninneren damit beschäftigt, die dort befindlichen Bretter mit einer Kettensäge auf eine Länge von 1,3 m zuzuschneiden und dem Beklagten zum Annageln zuzuwerfen. Der Lehrling trug dabei noch sein Tragegeschirr, war aber nicht mehr wie bei den Arbeiten auf dem Dach angeseilt. Der Beklagte stellte es ihm frei, sich nach eigenem Gutdünken, wenn er es für erforderlich erachte, anzuseilen. Nach der Mittagspause - es war bereits ein Teil des Bretterbodens des Schopfwalms verlegt - beschloss der Beklagte, weitere von den auf dem Hausdach befindlichen Brettern zu holen. Dazu musste er auf den Schopfwalmboden hinaussteigen und sich über die seitlichen Hilfslatten am Dachstuhl fortbewegen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass er, bevor er die Bretter holen ging, den Lehrling besonders angewiesen hätte, an seinem Platz am Dachboden zu bleiben und auf ihn zu warten. Der Lehrling wollte dem Beklagten folgen, wobei er jedoch - vom Beklagten unbemerkt - beim Hinaussteigen auf den Schopfwalm entweder zwischen den Schopfbalken oder über die vordere Kante des äußeren Balkens ca 8 m in die Tiefe stürzte und dabei schwere Verletzungen im Kopf- und Beinbereich erlitt. Als der Beklagte zum südlichen Dachbodenbereich zurückkam, war der Lehrling bereits abgestürzt.

Die Klägerin erbrachte an den Lehrling auf Grund des Unfalls Sachleistungen im Wert von EUR 40.642,85 und Barleistungen von EUR 16.425,76. Mit Bescheid vom anerkannte sie den Unfall als Arbeitsunfall gemäß § 175 Abs 1 ASVG und gewährte dem Lehrling eine Versehrtenrente als vorläufige Rente gemäß § 209 Abs 1 ASVG. Es sind noch weitere prothetische Versorgungen notwendig; weitere Kosten für Rehabilitationsmaßnahmen sind ebenfalls nicht auszuschließen. Der Beklagte wurde wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 4, 1. Deliktsfall StGB strafgerichtlich verurteilt.

Die Klägerin begehrt mit der vorliegenden Klage vom Beklagten Rückersatz des Betrags von EUR 57.068,61 sA gemäß § 334 ASVG und die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihr alle künftigen Pflichtaufwendungen wegen des gegenständlichen Unfalls zu ersetzen. Der Beklagte sei zum Unfallszeitpunkt verantwortlicher Vorarbeiter des verunglückten Lehrlings gewesen. Er habe den Arbeitsunfall grob fahrlässig verschuldet, weil er es unterlassen habe, entsprechende Absturzsicherungen anzubringen bzw deren Anbringung anzuordnen. Der Unfall hätte durch Einrichtung eines Geländers am südlichen Ende des Dachbodens oder durch Anseilen verhindert werden können. Der Beklagte habe somit gegen Bestimmungen der Bauarbeiterschutzverordnung (BauV) und der KJBG-VO verstoßen. Er sei deswegen auch strafgerichtlich verurteilt worden. Die Klägerin habe aus Anlass des Unfalls bis Leistungen von insgesamt EUR 57.068,61 erbracht; es seien auch noch weiterhin monatliche Rentenzahlungen zu erbringen.

Der Beklagte bestritt das Vorbringen, beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete zunächst Verjährung der Klageforderung nach § 337 ASVG ein. Mit dem Bescheid der Klägerin vom sei keine Entschädigungspflicht ausgesprochen worden. Es sei auch nicht ersichtlich, ob es sich tatsächlich um die erste rechtskräftige Feststellung der Entschädigungspflicht handle. Im Übrigen treffe ihn keine grobe Fahrlässigkeit am Unfall des Lehrlings. Während sich der Beklagte vom Dachboden aus auf die Dachstuhlkonstruktion begeben habe, um weitere Bretter zu holen, habe sich der Lehrling entgegen der ihm erteilten Weisung offensichtlich zum Schopfwalm begeben und sei dort aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgestürzt. Da der Lehrling bis dahin im Inneren des Dachbodens auf einer waagrechten Fläche gearbeitet habe, sei ein Anseilen nicht notwendig gewesen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren unter Zugrundelegung der eingangs wiedergegebenen Feststellungen statt. Der Beklagte habe grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 ASVG zu verantworten. Er habe damit rechnen müssen, dass sich der Lehrling in den Gefahrenbereich des Schopfwalms begebe. Durch einfaches Anseilen wäre der Unfall zu vermeiden gewesen. Eine Verjährung der Klageforderung sei nach § 337 ASVG zu verneinen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts bei. Die Haftung des Aufsehers werde nach § 334 Abs 3 ASVG durch ein allfälliges Mitverschulden des Versicherten nicht gemindert. Schon der Umstand, dass sich der Beklagte auf das Dach begeben und nicht weiter um den Lehrling gekümmert habe, sei als grobe Fahrlässigkeit zu werten; auch dass er dem Lehrling freigestellt habe, sich nach eigenem Gutdünken anzuseilen. Die Revision sei nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig.

Gegen die Berufungsentscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Beklagten wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung iSd Klageabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Revision ist zulässig; sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Beklagten geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (§ 503 Z 2 ZPO) liegt nicht vor; diese Beurteilung bedarf nach § 510 Abs 3 Satz 3 ZPO keiner Begründung.

In rechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass der Aufseher im Betrieb (§ 333 Abs 4 ASVG), der den Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht, den Trägern der Sozialversicherung alle nach dem ASVG zu gewährenden Leistungen zu ersetzen hat (§ 334 Abs 1 ASVG). Der Aufseher im Betrieb muss eine mit einem gewissen Pflichtenkreis und mit Selbständigkeit verbundene Stellung innehaben (RIS-Justiz RS0088337 ua). Der Beklagte arbeitete beim Unfall als Vorarbeiter mit dem Lehrling in einer Zwei-Mann-Partie; dass ihm dabei die Rolle eines Aufsehers im Betrieb zukam (vgl RIS-Justiz RS0085612), ist unstrittig.

Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar ist (RIS-Justiz RS0030644 ua). Sie erfordert, dass der Verstoß gegen das normale Handeln auffallend und der Vorwurf im höheren Maß gerechtfertigt ist. Grobe Fahrlässigkeit ist dann gegeben, wenn ein besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RIS-Justiz RS0030272, RS0031127 ua).

Die bloße Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften muss an sich noch kein grobes Verschulden begründen (RIS-Justiz RS0052197 ua). Auch eine strafgerichtliche Verurteilung enthält nicht notwendig einen bindenden Spruch über das Vorhandensein eines groben Verschuldens. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall mit Bedachtnahme auf die persönlichen Verhältnisse und die allgemeinen Lebensverhältnisse zu prüfen, ob eine auffällige Sorglosigkeit vorliegt (RIS-Justiz RS0031083 ua).

Jugendlichen sind Arbeiten auf Dächern, an denen Absturzgefahr besteht, nach 12-monatiger Ausbildung unter Aufsicht erlaubt (§ 7 Z 1 KJBG-VO, BGBl II 1998/436). Bei Absturzgefahr sind auch bei erwachsenen Arbeitnehmern Absturzsicherungen, Abgrenzungen oder Schutzeinrichtungen anzubringen (§ 7 Abs 1 BauV, BGBl 1994/340). Die Anbringung von Schutzeinrichtungen kann entfallen, wenn der hiefür erforderliche Aufwand unverhältnismäßig hoch gegenüber dem Aufwand für die durchzuführende Arbeit ist. In diesen Fällen müssen die Arbeitnehmer sicher angeseilt sein (§ 7 Abs 4 BauV). Im vorliegenden Fall arbeitete der Lehrling unmittelbar vor dem Unfall nicht auf dem Dach, sondern im Dachbodeninneren. Dort bestand keine unmittelbare Absturzgefahr. Er musste daher weder besonders beaufsichtigt werden (§ 7 Z 1 KJBG-VO), noch bedurfte es Absturzsicherungen, Abgrenzungen oder Schutzeinrichtungen (§ 7 Abs 1 BauV); er musste dort auch nicht eigens angeseilt sein (§ 7 Abs 1 BauV). In den Gefahrenbereich geriet der Lehrling erst, als sich der Beklagte aufmachte, einige von den auf dem Hausdach befindlichen Brettern zu holen, und sich der Lehrling - vom Beklagten unbemerkt und unaufgefordert - anschickte, dem Beklagten zu folgen und dabei beim Hinaussteigen auf den Schopfwalm entweder zwischen den Schopfbalken oder über die vordere Kante des äußeren Balkens in die Tiefe stürzte. Der Vorwurf gegenüber dem Beklagten reduziert sich daher darauf, dass er dem Lehrling vor dem Unfall keine feststellbare Weisung gegeben hatte, seinen bis dahin ungefährlichen Platz im Dachbodeninneren bis zur Rückkehr des Beklagten nicht zu verlassen. Dies reicht aber für die Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus, setzt doch diese, wie bereits ausgeführt, voraus, dass ein besonders schwerer Sorgfaltsverstoß vorliegt, der bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RIS-Justiz RS0030272, RS0031127 ua). Dies ist hier nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 iVm § 50 Abs 1 ZPO.