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VfGH vom 10.12.2007, B700/07

VfGH vom 10.12.2007, B700/07

Sammlungsnummer

18313

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung des Antrags auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung; willkürliche Annahme der Selbsterhaltungsfähigkeit allein im Hinblick auf die tatsächliche Erwerbstätigkeit und ohne Rücksicht auf die im Familienlastenausgleichsgesetz zwingend vorgesehene Bescheinigung des Bundessozialamtes auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.160,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die 1976 geborene Beschwerdeführerin leidet an Anorexia nervosa und Bulimie. Im März 2005 beantragte sie die Gewährung der (erhöhten) Familienbeihilfe wegen erheblicher Behinderung. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des Unabhängigen Finanzsenates (in der Folge: UFS), Außenstelle Linz, wurde ihr Antrag mit der Begründung abgewiesen, sie habe eine mehrjährige berufliche Tätigkeit ausgeübt. Eine solche widerlege die für den Anspruch auf Familienbeihilfe gemäß § 6 Abs 2 litd iVm Abs 5 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (in der Folge: FLAG), BGBl. 376, idF BGBl. I 68/2001 notwendige Annahme, die Beschwerdeführerin wäre infolge ihrer Behinderung dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Da die Beschwerdeführerin nach Ansicht der belangten Behörde bereits die Voraussetzungen für die Gewährung von Familienbeihilfe nicht erfüllte, geht der angefochtene Bescheid auf die Voraussetzungen für die Gewährung erhöhter Familienbeihilfe nicht mehr gesondert ein.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Das Krankheitsbild von Anorexiepatienten äußere sich in Symptomen wie Perfektionismus, Leistungsanspruch, Pflichtgefühl und Krankheitsverleugnung. Anorexiepatienten spielten selbst dann noch Leistungsfähigkeit vor, wenn aus medizinischer Sicht nicht mehr nachvollziehbar sei, dass ein Mensch überhaupt noch leistungsfähig sein könne. Der UFS habe sich mit dem Berufungsvorbringen der Beschwerdeführerin, dass es sich bei den Beschäftigungsverhältnissen lediglich um Arbeitsversuche bei bestehender Krankheit gehandelt habe und diese nur aufgrund der für den Krankheitsverlauf symptomatischen Leistungsorientiertheit möglich gewesen seien, in der Berufungsentscheidung nicht auseinandergesetzt und somit Willkür geübt.

Auch liegt nach Ansicht der Beschwerdeführerin deshalb Willkür vor, weil die belangte Behörde den Regelungsinhalt des § 8 Abs 6 FLAG idF BGBl. I 105/2002 völlig verkannt und die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst Unterhalt zu verschaffen, nicht auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens beurteilt habe. Das von der Beschwerdeführerin vorgelegte Sachverständigengutachten, das das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe darlege, sei willkürlich ignoriert worden.

3. Der UFS erstattete eine Gegenschrift und beantragte, die Beschwerde abzuweisen. Er argumentiert damit, dass nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zwar dann nicht von einer beruflichen Tätigkeit gesprochen werden könne, wenn eine Person etwa aus karitativen Überlegungen oder zu therapeutischen Zwecken ohne Erwartung einer Gegenleistung wie ein Dienstnehmer behandelt worden sei. Dies sei im gegenständlichen Fall jedoch nicht behauptet worden und liege offensichtlich auch nicht vor. Auch sei den Feststellungen des Finanzamtes, die Beschwerdeführerin habe sich durch ihre Einkünfte den Unterhalt selbst verschaffen können, nichts entgegnet worden. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes () bedürfe es keiner weiteren Auseinandersetzung mit ärztlichen Gutachten, wenn bereits die von der Behörde festgestellten Beschäftigungsverhältnisse die für den Anspruch auf Familienbeihilfe notwendige Annahme widerlegen, eine Person wäre infolge ihrer Behinderung dauernd außerstande gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Maßgebliche Rechtslage:

§ 6 FLAG, BGBl. 376/1967, idF BGBl. I 68/2001 lautet:

"(1) Anspruch auf Familienbeihilfe haben auch minderjährige Vollwaisen, wenn


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a)
sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,


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b)
ihnen nicht Unterhalt von ihrem Ehegatten oder ihrem früheren Ehegatten zu leisten ist und


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c)
für sie keiner anderen Person Familienbeihilfe zu gewähren ist.

(2) Volljährige Vollwaisen haben Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn auf sie die Voraussetzungen des Abs 1 lita bis c zutreffen und wenn sie

[...]

d) wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden, oder


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[...].

(5) Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, haben unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs1 bis 3)."

Für erheblich behinderte Kinder wird gemäß § 8 Abs 4 leg.cit. idF BGBl. I 20/2002 erhöhte Familienbeihilfe gewährt.

§ 8 Abs 6 leg.cit. idF BGBl. I 105/2002 ordnet an:

"Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen. Die diesbezüglichen Kosten sind aus Mitteln des Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen zu ersetzen."

2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes auch dann vor, wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat. Ein willkürliches Verhalten kann der Behörde unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn der angefochtene Bescheid wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg. 10.065/1984, 14.776/1997, 16.273/2001).

Dieser Vorwurf ist der belangten Behörde zu machen:

2.1. In der angefochtenen Berufungsentscheidung stellt die belangte Behörde selbst ausdrücklich fest, dass in dem vom Finanzamt angeforderten Gutachten des Bundessozialamtes ein Gesamtgrad der Behinderung in Höhe von 70 Prozent bescheinigt und ausdrücklich festgehalten worden sei, dass die Beihilfenwerberin voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Ungeachtet dessen vertrat zunächst das Finanzamt unter Berufung auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes () die Auffassung, die im Beschwerdefall gegebene mehrjährige berufliche Tätigkeit der Beihilfenwerberin stehe der Annahme entgegen, sie sei infolge ihrer Behinderung dauernd außerstande gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Die belangte Behörde hat sich dieser Auffassung angeschlossen.

2.2. Damit hat die belangte Behörde die Rechtslage grundlegend verkannt. Gemäß § 8 Abs 6 FLAG in der Fassung vor BGBl. 531/1993 war die erhebliche Behinderung durch ein Zeugnis eines inländischen Amtsarztes nachzuweisen. Einem amtsärztlichen Zeugnis war eine entsprechende Bestätigung einer inländischen Universitätsklinik oder einer inländischen Krankenanstalt sowie eine entsprechende Bestätigung des Schularztes gleichgesetzt. Zur Frage, wie die fehlende Selbsterhaltungsfähigkeit nachzuweisen ist, war dieser Fassung des FLAG nichts zu entnehmen.

In der Fassung der Novelle BGBl. 531/1993 lautete § 8 Abs 6 leg.cit. hingegen folgendermaßen:

"(6) Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist durch eine Bescheinigung eines inländischen Amtsarztes, einer inländischen Universitätsklinik, einer Fachabteilung einer inländischen Krankenanstalt oder eines Mobilen Beratungsdienstes der Landesinvalidenämter nachzuweisen. [...]"

Damit wurde nicht nur die Rechtslage hinsichtlich des Nachweises des Grades der Behinderung neu geregelt, sondern dieses Verfahren auch auf die Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit erstreckt.

Die derzeit geltende - bereits oben wiedergegebene - Fassung dieser Bestimmung ist erst mit der Novelle BGBl. I 105/2002 eingeführt worden. In den Materialien (RV 1136 BlgNR 21. GP) heißt es dazu:

"Der Grad der Behinderung oder die voraussichtlich dauernde Unfähigkeit sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, ist derzeit durch eine Bescheinigung eines inländischen Amtsarztes, einer inländischen Universitätsklinik, einer Fachabteilung einer inländischen Krankenanstalt oder eines Mobilen Beratungsdienstes der Bundesämter für Soziales und Behindertenwesen nachzuweisen.

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, dass die Untersuchungen nunmehr ausnahmslos durch das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen - einschließlich durch deren Mobile Dienste - durchzuführen und ärztliche Sachverständigengutachten zu erstellen sind, da das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen über langjährige praktische Erfahrungen bei der Anwendung der angesprochenen Richtsatzverordnung verfügt und sohin eine bundesweit einheitliche Vollziehung gewährleisten kann. Diese Maßnahme lässt auch mehr Effizienz bei den administrativen Abläufen erwarten, wobei auf die angespannte Personalsituation in den Beihilfenstellen der Finanzämter hinzuweisen ist."

2.3. Aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte der in Rede stehenden Norm ergibt sich somit, dass der Gesetzgeber nicht nur die Frage des Grades der Behinderung, sondern (seit 1994) auch die (damit ja in der Regel unmittelbar zusammenhängende) Frage der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, der eigenständigen Beurteilung der Familienbeihilfenbehörden entzogen und dafür ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt hat, bei dem eine für diese Aufgabenstellung besonders geeignete Institution eingeschaltet wird und der ärztliche Sachverstand die ausschlaggebende Rolle spielt. Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, dass die Frage, ob eine behinderte Person voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, nicht schematisch an Hand eines in einem bestimmten Zeitraum erzielten Einkommens, sondern nur unter Berücksichtigung von Art und Grad der Behinderung bzw. der medizinischen Gesamtsituation der betroffenen Person beurteilt werden kann. Damit kann auch berücksichtigt werden, dass gerade von behinderten Personen immer wieder - oft mehrmals - Versuche unternommen werden, sich in das Erwerbsleben einzugliedern, bei denen jedoch die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie aus medizinischen Gründen auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt sein werden. Der Gesetzgeber hat daher mit gutem Grund die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit jener Institution übertragen, die auch zur Beurteilung des Behinderungsgrades berufen ist. Die Beihilfenbehörden haben bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und können von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen. Ob der zeitweilige Einkommensbezug zum - zeitweiligen - Entfall der Familienbeihilfe führt, ist eine davon zu unterscheidende Frage, die nach den allgemeinen Regeln des FLAG zu lösen ist.

2.4. Da die belangte Behörde ihre abweisende Entscheidung allein damit begründet hat, die Selbsterhaltungsfähigkeit der Beihilfenwerberin sei ohne Rücksicht auf die vorgelegte, in § 8 Abs 6 FLAG zwingend vorgesehene Bescheinigung allein im Hinblick auf die tatsächliche Erwerbstätigkeit zu bejahen, hat sie die Rechtslage grundlegend verkannt und ihren Bescheid mit Willkür behaftet. Er war daher aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 88 VfGG. Der zugesprochene Kostenbetrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von € 360,--.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.