OGH vom 27.11.2012, 8ObA65/12k

OGH vom 27.11.2012, 8ObA65/12k

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kuras und Dr. Brenn als weitere Richter (§ 11a Abs 3 ASGG) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei E***** F*****, vertreten durch die Hirtzberger Sacha Katzensteiner Rechtsanwälte GmbH in Krems, gegen die beklagte Partei Land Niederösterreich, 3100 St. Pölten, Landhausplatz 1, vertreten durch Mag. Thomas Reisch, Rechtsanwalt in Wien, wegen 14.020,38 EUR brutto sA, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom , GZ 10 Ra 54/12b 16, mit dem der Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits und Sozialgericht vom , GZ 7 Cga 58/11h 12, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 1.046,88 EUR (darin enthalten 174,48 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

Die Klägerin begehrt die Zahlung von 14.020,38 EUR brutto sA aus dem zur Beklagten bestehenden Dienstverhältnis wegen behaupteter unberechtigter Gehaltsabzüge. Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts stützte die Klägerin auf den Gerichtsstand des Arbeitsorts gemäß § 4 Abs 1 Z 1 lit c ASGG. Sie sei im Landesklinikum Krems beschäftigt, wo sie ihre Arbeit zu leisten habe. Aus § 1 Abs 4 NÖ LVBG sei nicht abzuleiten, dass ein ausschließlicher, eine Wahlmöglichkeit nach § 4 Abs 1 Z 1 ASGG verhindernder Gerichtsstand normiert worden sei. Den Ländern komme nach Art 21 B VG keine Kompetenz zu, Gerichtszuständigkeiten zu regeln. § 1 Abs 4 NÖ LVBG könne daher nicht so ausgelegt werden, dass er die Wahlgerichtsstände des § 4 ASGG unwirksam machen könne.

Die Beklagte erhob in ihrem Einspruch gegen den Zahlungsbefehl die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit. Auf das Dienstverhältnis seien die Bestimmungen des NÖ LVBG anzuwenden. § 1 Abs 4 leg cit bestimme für sämtliche Streitigkeiten aus Dienstverhältnissen nach diesem Gesetz den örtlichen Gerichtsstand St. Pölten. Gemäß Art 21 B VG sei den Ländern die Kompetenz auch zur Regelung der örtlichen Zuständigkeit in Dienstrechtsangelegenheiten übertragen worden.

Das Erstgericht wies (mit zunächst mündlich verkündetem Beschluss) die Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit zurück. An die landesgesetzliche Regelung des § 1 Abs 4 NÖ LVBG sei das Erstgericht auch dann gebunden, wenn es dagegen verfassungsrechtliche Bedenken habe.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Klägerin Folge, verwarf die von der Beklagten erhobene Einrede der örtlichen Unzuständigkeit und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund auf. Für die Annahme der Beklagten, dass § 1 Abs 4 NÖ LVBG einen Zwangsgerichtsstand begründe, gäbe es keine Anhaltspunkte. In Wirklichkeit könnten neben den in § 4 Abs 1 Z 1 ASGG aufgezählten Gerichtsständen gleichrangig auch jene der JN in Anspruch genommen werden. Dies gelte ebenso für den hier in Rede stehenden Gerichtsstand nach dem NÖ LVBG. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig, weil eine Rechtsfrage von der in § 528 Abs 1 ZPO genannten Qualität nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Beklagten, der auf eine amtswegige Überweisung der Arbeitsrechtssache an das Landesgericht St. Pölten abzielt.

Mit ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung beantragte die Klägerin, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Vorweg wird darauf hingewiesen, dass für Entscheidungen über die örtliche Zuständigkeit keine besonderen Rechtsmittelbeschränkungen, wie etwa jene in § 45 JN, bestehen. Der Revisionsrekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, weil zur Qualifikation des Gerichtsstands nach § 1 Abs 4 NÖ LVBG eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehlt. Der Revisionsrekurs der Beklagten ist aber nicht berechtigt.

1. Die einschlägige österreichische Diktion unterscheidet sich von der unionsrechtlichen. Eine „ausschließliche“ Zuständigkeit im Sinn der EuGVVO (Artikel 22 und auch Artikel 23 leg cit) ist mit einem Zwangsgerichtsstand nach österreichischem Verständnis gleichzusetzen ( Brenn, Europäischer Zivilprozess Rz 58 f und 118). Im Anlassfall ist die österreichische Diktion maßgebend.

2.1 Für bestimmte Streitsachen sieht das Gesetz einen besonderen Gerichtsstand vor, der neben oder anstelle des allgemeinen Gerichtsstands zur Verfügung steht.

Zu den besonderen Gerichtsständen zählen zunächst die ausschließlichen Gerichtsstände (§§ 76 84 JN). Diese schließen den allgemeinen Gerichtsstand (§§ 65 75 JN) und auch die Wahlgerichtsstände (§§ 86a 100 JN) aus, lassen eine abweichende Gerichtsstandsvereinbarung aber zu ( Brenn aaO Rz 46; Simotta in Fasching 2 Vor §§ 65 75 JN Rz 4).

2.2 Eine besondere Form der ausschließlichen Gerichtsstände bilden die Zwangsgerichtsstände . Bei ihnen ist jede abweichende Zuständigkeitsvereinbarung verboten.

Innerhalb des Bereichs der örtlichen Zuständigkeit ist die Zulässigkeit abweichender Vereinbarungen durch § 104 JN nicht beschränkt. Grundsätzlich ist daher eine abweichende örtliche Zuständigkeitsvereinbarung zulässig ( Simotta aaO § 104 JN Rz 144). Im Zweifel ist demnach nicht von einem Zwangsgerichtsstand auszugehen. Ein solcher muss ausdrücklich, auch etwa in Form eines ausdrücklichen Verbots einer Gerichtsstandsvereinbarung, oder sonst eindeutig formuliert sein. Zu den Zwangsgerichtsständen gehören auch die individuellen Zuständigkeiten und die namentlichen Zuständigkeiten, sofern eine Gerichtsstandsvereinbarung der ratio der Bestimmung widerspricht ( Simotta aaO Vor §§ 83a, 83b JN Rz 1 und Vor §§ 65 75 JN Rz 4). Von einer individuellen Zuständigkeit wird gesprochen, wenn für eine konkrete Rechtssache aufgrund ihrer Art von Vornherein ein einziges örtlich und sachlich bestimmtes Gericht zuständig ist. Dies wird etwa bei der Erbteilungsklage (§ 77 Abs 2 JN), bei den Klagen nach §§ 35 37 EO oder bei der Nichtigkeits und Wiederaufnahmsklage (§ 532 ZPO) angenommen. Im Zweifel kann eine individuelle Zuständigkeit aber durch eine Gerichtsstandsvereinbarung verschoben werden ( Simotta aaO § 104 JN Rz 152; Matscher in Fasching 2 Vor §§ 27a ff JN Rz 4). Eine namentliche Zuständigkeit liegt vor, wenn das Gesetz die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts durch dessen namentliche Nennung anordnet. Die namentliche Zuständigkeit kann dann nicht durch eine Gerichtsstandsvereinbarung geändert werden, wenn dies der ratio des Gesetzes widersprechen würde (vgl Simotta aaO § 104 JN Rz 151).

2.3 Zu den besonderen Gerichtsständen zählen darüber hinaus noch die Wahlgerichtsstände (§§ 86a bis 100 JN), die wahlweise anstelle des allgemeinen Gerichtsstands in Anspruch genommen werden können ( Simotta aaO Vor §§ 65 75 JN Rz 5 und Vor §§ 86a 104 JN Rz 1). Die Inanspruchnahme eines Wahlgerichtsstands ist dann ausgeschlossen, wenn für den geltend gemachten Anspruch ein ausschließlicher Gerichtsstand vorgesehen ist ( Simotta aaO Vor §§ 86a 104 JN Rz 2 und 3).

3.1 Das ASGG sieht in § 4 für Arbeitsrechtssachen besondere Gerichtsstände vor. Diese Gerichtsstände wurden vor allem im Interesse des Arbeitnehmers als die in der Regel schwächere Partei geschaffen. Mit Rücksicht auf diesen besonderen Schutzgedanken ist davon auszugehen, dass das ASGG eine besondere Zuständigkeitsordnung begründet, die entsprechend der Interessenlage einen erleichterten Zugang zu den Gerichten sicherstellen soll.

3.2 Für Streitigkeiten iSd § 4 Abs 1 Z 2 bis 4 ASGG (Arbeitsrechtssachen nach § 50 Abs 1 Z 4 bis 6 und 8 ASGG) stehen ausdrücklich „nur“ die im ASGG genannten Gerichtsstände zur Verfügung. Gleichzeitig sind in diesen Fällen Zuständigkeitsvereinbarungen nach § 9 Abs 1 ASGG ausgeschlossen. Bei diesen Gerichtsständen handelt es sich damit um Zwangsgerichtsstände (vgl auch Simotta aaO Vor §§ 83a, 83b JN Rz 4). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Kläger zwar ein Wahlrecht unter mehreren Gerichtsständen einräumen, aber gleichzeitig die Gerichtsstände etwa der JN ausschließen ( Neumayr in ZellKomm 2 § 4 ASGG Rz 14).

3.3 Die Gerichtsstände des § 4 Abs 1 Z 1 ASGG (Arbeitsrechtssachen nach § 50 Abs 1 Z 1 bis 3 ASGG) stellen demgegenüber keine Zwangsgerichtsstände dar. Dies ergibt sich schon aus der Formulierung im Einleitungssatz, wonach die Gerichte „ auch “ zuständig sind, während bei den Zwangsgerichtsständen das Wort „ nur “ verwendet wird. Außerdem sind in den Fällen des § 4 Abs 1 Z 1 ASGG Gerichtsstandsvereinbarungen, wenn auch eingeschränkt (nur für einen bestimmten einzelnen Rechtsstreit), zulässig ( Simotta aaO § 104 JN Rz 149; Neumayr aaO § 4 ASGG Rz 1).

Bei der Qualifikation dieser Gerichtsstände ist aber ebenso zu berücksichtigen, dass das ASGG im Interesse der Arbeitnehmer eine besondere Zuständigkeitsordnung begründet, die neben der allgemeinen zivilprozessualen Zuständigkeitsordnung der JN besteht. Dies bedeutet, dass die in Rede stehenden arbeitsgerichtlichen Gerichtsstände des § 4 Abs 1 Z 1 ASGG neben jene der JN treten. Neben diesen Gerichtsständen können also (gleichrangig) auch die in der JN normierten Gerichtsstände, soweit sie nach ihrem Regelungsbereich in Betracht kommen, in Anspruch genommen werden ( Neumayr aaO § 4 ASGG Rz 1 und 8; Adamovic , Handbuch zum ASGG Verfahren 180). Daraus folgt gleichzeitig, dass die besonderen arbeitsgerichtlichen Gerichtsstände des § 4 Abs 1 Z 1 ASGG jedenfalls durch ausschließliche Gerichtsstände der JN nicht ausgeschlossen werden. Nach der grundsätzlichen Wertung werden sie aber durch gesetzliche Zwangsgerichtsstände verdrängt ( Neumayr aaO § 4 ASGG Rz 8).

3.4 Wie bereits dargestellt, ist schon nach der allgemeinen Zuständigkeitsordnung der JN im Zweifel nicht von einem Zwangsgerichtsstand auszugehen. Dies gilt gleichermaßen für arbeitsrechtliche Gerichtsstände außerhalb des ASGG, zumal im Grundsatz die besondere Zuständigkeitsordnung des ASGG Beachtung finden muss. Für die Bejahung eines arbeitsrechtlichen Zwangsgerichtsstands außerhalb des ASGG ist daher ein besonders strenger Maßstab anzulegen.

4.1 Im vorliegenden Fall wäre der Klägerin der von ihr in Anspruch genommene Gerichtsstand nach § 4 Abs 1 Z 1 lit c ASGG nur dann verwehrt, wenn die Bestimmung in § 1 Abs 4 NÖ LVBG einen Zwangsgerichtsstand begründen würde.

Nach der Formulierung normiert § 1 Abs 4 NÖ LVBG eine namentliche (örtliche) Zuständigkeit für das (Arbeits )Gericht in St. Pölten. Diese Bestimmung enthält aber kein Verbot einer Gerichtsstandsvereinbarung. Sie enthält nicht einmal eine Formulierung, die auf einen Zwangsgerichtsstand hindeuten könnte, wie zB „nur“ oder „ausschließlich“. Für die Beurteilung als Zwangsgerichtsstand wäre demnach erforderlich, dass eine Gerichtsstandsvereinbarung ganz eindeutig und ohne jeden Zweifel der ratio der Bestimmung widerspricht. Da im Grundsatz die besondere Zuständigkeitsordnung des ASGG Beachtung finden muss, kann davon aber gerade nicht ausgegangen werden. § 1 Abs 4 NÖ LVBG begründet demnach keinen Zwangsgerichtsstand.

4.2 Zu den auch aus anderen Gründen nicht stichhaltigen Ausführungen der Beklagten zum angeblichen Vorliegen einer Gerichtsstandsvereinbarung ist im gegebenen Zusammenhang nur darauf hinzuweisen, dass eine Gerichtsstandsvereinbarung nach österreichischem Verständnis im Zweifel nur einen Wahlgerichtsstand begründen würde ( Brenn aaO Rz 46).

4.3 Da die Klägerin nicht an den Gerichtsstand nach § 1 Abs 4 NÖ LVBG gebunden ist und zu Recht einen anderen Zuständigkeitstatbestand in Anspruch genommen hat, sind allfällige verfassungsrechtliche Bedenken gegen die in Rede stehende landesgesetzliche Bestimmung im Anlassfall nicht aufzugreifen. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Landesgesetzgeber aus kompetenzrechtlichen Gründen die zugrunde liegende Zuständigkeitsnorm überhaupt erlassen konnte.

5.1 Zusammenfassend ergibt sich:

Das ASGG begründet mit § 4 eine besondere Zuständigkeitsordnung, die neben der allgemeinen Zuständigkeitsordnung der JN besteht. Die besonderen Gerichtsstände des § 4 Abs 1 Z 1 ASGG sind keine Zwangsgerichtsstände. Sie können neben den in der JN normierten Gerichtsständen (gleichrangig) in Anspruch genommen werden und werden nur durch gesetzliche Zwangsgerichtsstände verdrängt. § 1 Abs 4 NÖ LVBG begründet keinen Zwangsgerichtsstand.

5.2 Das Rekursgericht hat die von der Beklagten erhobene Einrede der Unzuständigkeit somit zu Recht verworfen. Dem Revisionsrekurs war daher der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 41, 50, 52 ZPO. Der Zuständigkeitsstreit stellt kostenrechtlich einen Zwischenstreit dar.