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OGH vom 02.06.2009, 9ObA144/08d

OGH vom 02.06.2009, 9ObA144/08d

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Dr. Hradil sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin und Mag. Michael Zawodsky als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Wolfgang K*****, vertreten durch Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Kommandit-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei B***** AG, D-*****, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Ra 55/08m-12, mit dem der Beschluss des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom , GZ 32 Cga 85/07i-8, teils bestätigt, teils abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.327,68 EUR bestimmten Kosten ihrer Revisionsrekursbeantwortung (darin 221,28 EUR Umsatzsteuer) zu ersetzen.

Text

Begründung:

Der am geborene Kläger war seit November 1995 bei der in Deutschland ansässigen Beklagten beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis wurde von der Beklagten am mit Wirkung zum gekündigt.

Der Kläger war der einzige in Österreich tätige Angestellte der Beklagten. Als Verkaufsleiter für das Verkaufsgebiet Österreich oblag ihm die Betreuung der österreichischen Kunden der Beklagten. Dazu wurde ihm ein Büro in Wien zur Verfügung gestellt. Die organisatorische und administrative Abwicklung der Aufträge erfolgte aber ausschließlich in Deutschland durch die Abteilung „Export" und die dort beschäftigten Mitarbeiter. Der Kläger hatte keinerlei Entscheidungsbefugnis oder Einflussmöglichkeit im Hinblick auf die Produktpalette, die Preisgestaltung oder ähnliches. Auch sämtliche buchhalterische Agenden wurden zentral erledigt. In Österreich bestand auch kein Lager.

Der Kläger begehrte mit seiner Klage, die Kündigung für rechtsunwirksam zu erklären. Sie sei sozialwidrig, weil er im Alter von 57 Jahren wenig Chancen habe, in angemessener Zeit eine ähnliche Arbeitsstelle zu erlangen.

Die Beklagte beantragte, die Klage zurückzuweisen, hilfsweise, sie abzuweisen. Die Arbeitsstätte des Klägers in Österreich sei kein Betrieb, sodass eine Kündigungsanfechtung nach § 105 ArbVG nicht in Betracht komme. Für die in § 50 Abs 2 ASGG angeführten Streitigkeiten sei nur das Gericht zuständig, in dessen Sprengel sich der Betrieb befinde, auf den sich die Rechtsstreitigkeit beziehe. Da sich im Sprengel des angerufenen Gerichts kein Betrieb der Beklagten befinde, sei die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bzw die inländische Gerichtsbarkeit nicht gegeben. Im Übrigen sei die Klage nicht berechtigt.

Im Laufe des Verfahrens stützte der Kläger sein Begehren auch auf den Tatbestand der Altersdiskriminierung nach § 26 Abs 7 GlBG. Ferner brachte er vor, dass die Arbeitsstätte in Wien mit der betrieblichen Einheit „Abteilung Export" in Deutschland einen gemeinsamen Betrieb bilde, der insgesamt weit mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftige. Eine Kündigungsanfechtung sei daher möglich. Im Arbeitsvertrag sei Wien als Gerichtsstand vereinbart worden.

Das Erstgericht wies die Klage zurück.

Sowohl für die internationale Zuständigkeit als auch für die Anwendung des österreichischen Betriebsverfassungsrechts sei entscheidend, ob in Österreich ein Betrieb bestehe. Die Art 18 bis 21 EuGVVO erfassten nur Individualarbeitssachen, nicht aber Rechtsstreitigkeiten aus der Betriebsverfassung. Nach dem Territorialitätsprinzip sei in betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten für das Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit entscheidend, dass der Betrieb im Inland liege. Im Ausland gelegene Betriebsstätten unterlägen nicht dem ArbVG, sondern dem jeweils geltenden ausländischen Betriebsverfassungsrecht. Die Arbeitsstätte des Klägers in Österreich sei kein selbständiger Betrieb iSd § 34 ArbVG. Ein unselbständiger Betriebsteil eines im Ausland gelegenen Betriebs sei Bestandteil des ausländischen Betriebs. Bei einem Betrieb mit mehreren dislozierten Arbeitsstätten sei auf jene abzustellen, die insgesamt für die Betriebseigenschaft die maßgebende Bedeutung habe. Da die Zentralstelle der Beklagten in Deutschland liege, sei daher § 105 ArbVG nicht anwendbar. Damit sei auch die internationale Zuständigkeit zu verneinen.

Die Berufung auf den Anfechtungstatbestand des § 26 Abs 7 GlBG sei verfristet.

Das vom Kläger angerufene Rekursgericht bestätigte den angefochtenen Beschluss, soweit damit die Kündigungsanfechtung nach § 26 Abs 7 GlBG als verfristet zurückgewiesen wurde. Im Übrigen - nämlich hinsichtlich der Zurückweisung der Klage mangels internationaler Zuständigkeit - gab es dem Rekurs Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme von diesem Zurückweisungsgrund auf.

Zur Frage der internationalen Zuständigkeit - die Anfechtung nach dem GlBG ist nicht mehr Gegenstand des Verfahrens - vertrat das Erstgericht folgende Rechtsauffassung:

Neben dem nicht strittigen Umstand, dass der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers im Inland gelegen sei, habe die (internationale und örtliche) Zuständigkeit des Erstgerichts gemäß § 18 Abs 1 EuGVVO - nach der Systematik des Art 21 auch für Gerichtsstandsvereinbarungen - zur Voraussetzung, dass das Klagebegehren, die Kündigung wegen Sozialwidrigkeit anzufechten, einen individualrechtlichen Anspruch darstelle. Der Begriff des individuellen Arbeitsvertrags sei europäisch-autonom auszulegen. Den nicht unter Art 18 f EuGVVO fallenden Gegenbegriff bildeten die kollektivarbeitsrechtlichen Streitigkeiten, etwa zwischen Kollektivvertragsparteien oder zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen, insbesondere aus dem Betriebsverfassungsrecht. Der allgemeine Kündigungsschutz des österreichischen ArbVG, auf den der Kläger sich berufe, befinde sich an der Schnittstelle zwischen kollektiv- und individualvertraglichen Ansprüchen. Die in Österreich deutlich betriebsratsgebundene Ausgestaltung des Kündigungsschutzes habe bei autonomer Auslegung des Art 19 EuGVVO jedoch außer Betracht zu bleiben, da es sonst in der Hand eines Mitgliedstaats läge, (Individual-)Ansprüche im Zusammenhang mit der Beendigung eines Arbeitsvertrags durch Vorlagerung eines Betriebsrats dem Schutz der Art 18 f EuGVVO zu entziehen. Daher seien individuelle Ansprüche, die sich aus dem kollektiven Arbeitsrecht ergeben, so etwa die Anfechtung von Kündigungen nach § 105 ArbVG, selbst wenn sie durch den Betriebsrat erfolgen, als (individual-)arbeitsvertraglicher Anspruch iSd Art 18 EuGVVO anzusehen. Die internationale Zuständigkeit des Erstgerichts sei somit zu bejahen. Daher werde das Verfahren vom Erstgericht unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund fortzusetzen sein.

In weiterer Folge setzte sich das Rekursgericht in der angefochtenen Entscheidung bereits materiell mit dem vom Erstgericht fortzusetzenden Verfahren auseinander. Seine dazu angestellten Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Die Ansicht des Rekurswerbers, die österreichische und die deutsche Arbeitsstätte der Beklagten seien gemeinsam ein (betriebsratspflichtiger) Betrieb iSd § 105 ArbVG, sei verfehlt. Das österreichische Betriebsverfassungsrecht könne nach dem Territorialitätsprinzip nur für im Inland gelegene Betriebe Geltung beanspruchen. Hier fehle es aber an einem inländischen Betrieb. Nur unselbständige ausländische Betriebsteile eines in Österreich gelegenen Betriebs seien betriebsverfassungsrechtlich Bestandteil des in Österreich gelegenen Betriebs. Die Anwendung des Art 6 Abs 2 lit a EVÜ, der auf das Recht des Staats verweise, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichte, würde hier zur Anwendung österreichischen Rechts führen, was aber mangels eines in Österreich gelegenen Betriebs die Unanwendbarkeit von § 105 ArbVG zur Folge hätte. Nach Ansicht des Senats sei jedoch der Kündigungsschutz des deutschen Betriebsverfassungsrechts - sofern dessen Voraussetzungen zu bejahen seien - eine auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwendende zwingende Eingriffsnorm iSd Art 7 EVÜ. Von einer solchen sei auszugehen, wenn sie unabhängig von dem auf den Vertrag anwendbaren Recht auf einen bestimmten Sachverhalt angewendet werden wolle. Sofern sich dieser internationale Geltungswille einer Vorschrift nicht aus einer einseitigen Kollisionsnorm ergebe, müsse er durch Auslegung ermittelt werden. Ob der Kündigungsschutz eine solche Eingriffsnorm darstelle, sei nicht abschließend geklärt, aber nach Ansicht des Senats zu bejahen. Damit sei iSd Art 7 EVÜ das deutsche Betriebsverfassungsgesetz anwendbar.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Beklagten mit dem Antrag, ihn im Sinne der Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern.

Der Kläger beantragte, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil zur hier zu lösenden Zuständigkeitsfrage Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehlt; er ist aber nicht berechtigt.

Gemäß Art 19 Nr 1 EuGVVO kann ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, verklagt werden. Gemäß Art 19 Nr 2 EuGVVO kann der Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat (lit a) oder, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat (lit b). Neben der Klagemöglichkeit am allgemeinen Gerichtsstand des Arbeitgebers (Art 19 Nr 1 EuGVVO) eröffnet Art 19 Nr 2 EuGVVO somit einen besonderen Vertragsgerichtsstand.

Die Art 18 ff EuGVVO - und daher auch Art 19 EuGVVO - kommen jedoch nach Art 18 Abs 1 EuGVVO nur zur Anwendung, soweit Gegenstand des Verfahrens „ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag" sind. Sie gelten daher nicht für Streitigkeiten aus dem kollektiven Arbeitsrecht. Individuelle Ansprüche, die sich aus dem kollektiven Arbeitsrecht ergeben, werden dagegen nach herrschender Auffassung von Art 18 ff EuGVVO erfasst (Simotta in Fasching/Konecny, EuGVVO Art 18 Rz 31 mit zahlreichen weiteren Belegstellen; Burgstaller/Neumayr in Burgstaller/Neumayr, IZVR Art 18 EuGVO Rz 5; Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht², Art 18 EuGVVO Rz 5).

Der allgemeine Kündigungsschutz ist im Rahmen der Betriebsverfassung, eingebunden in die Mitwirkungsbefugnisse der Arbeitnehmerschaft, geregelt. Das materielle Anfechtungsrecht kommt der Belegschaft zu und wird als Mitbestimmungsrecht an der Unternehmensführung des Arbeitgebers qualifiziert. Es handelt sich also um einen kollektivrechtlich geprägten Kündigungsschutz mit dem vorrangigen Ziel der Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmerschaft. Der allgemeine Kündigungsschutz weist aber auch starke individualrechtliche Komponenten auf. So ist etwa der Betriebsrat nur auf Verlangen des Arbeitnehmers zur Kündigungsanfechtung berechtigt; in betriebsratspflichtigen Betrieben ohne Betriebsrat kommt das Anfechtungsrecht gemäß § 107 ArbVG unmittelbar dem Arbeitnehmer zu. Entschließt sich der Betriebsrat während des laufenden Verfahrens, die Klage zurückzunehmen, so hat der Arbeitnehmer die Möglichkeit, das Anfechtungsverfahren fortzusetzen. Durch die ArbVG-Novelle 1990 wurde die individuelle Komponente des allgemeinen Kündigungsschutzes noch verstärkt, indem das „Sperrrecht" des Betriebsrats - das Recht, durch ausdrückliche Zustimmung zur Kündigungsabsicht die Anfechtung einer Kündigung durch den Arbeitnehmer zu verhindern - auf die Anfechtung wegen Sozialwidrigkeit beschränkt wurde. Bei Vorliegen eines unzulässigen Kündigungsmotivs kann der Arbeitnehmer daher auch bei Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung diese selbst anfechten. Auch durch das ASRÄG 1997 (BGBl I 1997/139) und das ARÄG 2000 (BGBl I 2000/44) wurde durch die Schaffung individueller Anfechtungsrechte der individuelle Charakter des Kündigungsschutzes ausgedehnt (siehe zu all dem im Detail etwa Gahleitner in Cerny/Gahleitner/Preiss/Schneller, ArbVG4 345 f; Wolliger in ZellKomm § 105 ArbVG Rz 10 ff).

Wie das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, befindet sich der allgemeine Kündigungsschutz somit an der Schnittstelle zwischen kollektiv- und individualvertraglichen Ansprüchen. Dies manifestiert sich vor allem im Schutzinteresse des einzelnen Arbeitnehmers, das auch im Rahmen einer Anfechtung als Belegschaftsrecht Berücksichtigung findet. Gerade diesen Zweck verfolgte aber auch die Schaffung eigener Zuständigkeitsregeln für Arbeitssachen in der EuGVVO. Aufgrund des gesteigerten Schutzbedürfnisses des Arbeitnehmers sollte ihm die Geltendmachung arbeitsrechtlicher Ansprüche erleichtert werden. Dem Rekursgericht ist daher beizupflichten, dass auch die Kündigungsanfechtung nach § 105 ArbVG dem Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlich autonom auszulegenden Art 18 ff EuGVVO zu unterstellen ist (so auch Simotta in Fasching/Konecny, EuGVVO Art 18 Rz 31; Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht², Art 18 EuGVVO Rz 5).

Die internationale Zuständigkeit, aber auch die - ebenfalls durch Art 19 Z 2 lit a EuGVVO bestimmte (Simotta in Fasching/Konecny, EuGVVO Art 19 Rz 5) - örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ist somit zu bejahen.

Dem Revisionsrekurs ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen ergingen im von den Parteien geführten Streit über die internationale bzw die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts. Nur diese Frage ist derzeit Gegenstand des Verfahrens. Auf die vom Rekursgericht obiter angestellten Überlegungen über mögliche materielle Grundlagen des geltend gemachten Anspruchs ist in diesem Verfahrensstadium nicht einzugehen.

Da der Kläger im Zwischenstreit über die Zuständigkeit obsiegt hat, sind ihm gemäß § 58 Abs 1 ASGG, §§ 41, 50 Abs 1 ZPO die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung zuzusprechen.