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OGH vom 21.01.2020, 10ObS178/19b

OGH vom 21.01.2020, 10ObS178/19b

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*****, vertreten durch Mag. Georg Klammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom , GZ 9 Rs 46/19d-12, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

Die Bezeichnung der beklagten Partei war gemäß § 47 Abs 1 SVSG von Amts wegen auf Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen zu berichtigen.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage des Anspruchs der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld in der Variante 15 + 3 für den Zeitraum von (= Geburt des Kindes) bis in Höhe von 26,60 EUR pro Tag. Strittige Anspruchsvoraussetzung ist nur mehr die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Klägerin in Österreich (§ 2 Abs 1 Z 5 KBGG) in dem genannten Zeitraum.

Die Klägerin ist mongolische Staatsbürgerin und hielt sich im Zeitraum von bis rechtmäßig in Österreich auf. Ab verfügte sie über keinen Aufenthaltstitel mehr. Am brachte sie in Österreich ihren Sohn zur Welt, der die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Der Klägerin kommt allein die Obsorge für ihren Sohn zu. Sie lebt mit dem Kind in Wien und versorgt es. Ab der Geburt wurde ihr Familienbeihilfe zuerkannt. Sie war im Anspruchszeitraum nicht erwerbstätig. Der Vater des Kindes lebt von der Klägerin getrennt und unterstützt sie bei Bedarf. Auf ihren Antrag vom hin erteilte ihr das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom , GZ W182 2136993-1/3E, unter Hinweis auf die Judikatur des EuGH zu Art 20 AEUV den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 54 Abs 1 Z 1 iVm § 55 Abs 1 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten (Ausstellungsdatum der Aufenthaltskarte , Gültigkeit bis ).

Die beklagte Partei wies den Antrag der Klägerin auf Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes mit vom mit der Begründung ab, dass im Anspruchszeitraum ( bis ) kein rechtmäßiger Aufenthalt vorgelegen sei.

Das sprach der Klägerin das begehrte Kinderbeteuungsgeld zu.

Das bestätigte diese Entscheidung.

Rechtliche Beurteilung

Die der beklagten Partei ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

Wie eingangs erwähnt ist allein die Frage strittig, ob die Klägerin in der Zeit von (= Geburt ihres Kindes) bis einen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich hatte.

Der Oberste Gerichtshof hat in der zu einem gleichgelagerten Fall ergangenen, ausführlich begründeten Entscheidung 10 ObS 64/17k SSVNF 31/42 einen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld bejaht. Die Revisionsausführungen geben keinen Anlass, von dieser Entscheidung abzuweichen:

1. Der Sohn der Klägerin kann sich als österreichischer Staatsbürger gegenüber Österreich als Mitgliedstaat der Europäischen Union auf die mit seinem Unionsbürgerstatus gemäß Art 20 AEUV verbundenen Rechte berufen. Er hat unter anderem das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Art 20 Abs 2 lit a AEUV).

2. In besonderen Konstellationen kann aus der Unionsbürgerschaft einer Person einzelfallbezogen ein Aufenthaltsrecht einer dritten Person abgeleitet werden, selbst wenn der Unionsbürger sein Freizügigkeitsrecht gar nicht ausgeübt hat. Ein solcher Fall liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union beispielsweise dann vor, wenn andernfalls die Unionsbürgerschaft ihrer Wirksamkeit beraubt wäre, weil sich der Unionsbürger infolge Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt wäre (EuGH C256/11, Dereci ua, Rz 66 und 67; RS0131664). Dass – wie im vorliegenden Fall – ein neugeborenes Baby nur mit dem Vater und ohne (drittstaatsangehörige) Mutter in der Union verbleiben sollte, ist unzumutbar (). Wäre demnach die Unionsbürgerschaft ihrer Wirksamkeit beraubt, weil sich der Sohn der Klägerin infolge Verweigerung des Aufenthaltsrechts seiner Mutter gezwungen sähe, die EU zu verlassen, kommt der Klägerin für den Anspruchszeitraum ein unmittelbar aus Art 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu.

3.1 Dieses Aufenthaltsrecht ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht und nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung (VwGH Ra 2015/09/0137). Eine Verleihung durch nationales Recht wäre daher überflüssig (Sonntag in Sonntag/Schober/Konezny, KBGG2§ 2 KBGG Rz 68; Kutscher/Völker/Witt, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht2 [2010]11 und 13).

3.2 Auf der Grundlage der Entscheidung des EuGH in der EuGH Rs C-85/96, Martinez Sala (Rz 54), darf Art 20 AEUV (iVm § 2 Abs 1 Z 5 KBGG) auch nicht dahin ausgelegt werden, dass der aus dem Unionsrecht abgeleitete rechtmäßige Aufenthalt der Klägerin als drittstaatsangehörige Familienangehörige in Österreich nur unter der weiteren Voraussetzung zu bejahen wäre, dass dessen Rechtmäßigkeit (im Anspruchszeitraum) von der (nationalen) Behörde gemäß § 9 NAG dokumentiert ist.

4. In einem Fall wie dem vorliegenden ist es Sache des nationalen Gerichts, die Voraussetzungen für das Vorliegen eines unionsrechtlich abgeleiteten Aufenthaltsrechts eines Drittstaatsangehörigen zu prüfen (EuGH C-133/15, Chavez-Vilchez, Rz 75, 76; 10 ObS 64/17k SSV-NF 31/42). Die Vorinstanzen haben sich bei dieser Prüfung nicht über die Bindungswirkung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung hinweggesetzt. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom über die der Klägerin erteilte Aufenthaltsberechtigung enthält in ihrem Spruch keine Aussage zur Rechtmäßigkeit des Aufenthalts für den davor liegenden Anspruchszeitraum.

5. Im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die zitierte Rechtsprechung des EuGH zeigt die Revisionswerberin auch mit ihrem weiteren Vorbringen, die aus dem Unionsrecht abgeleitete Pflicht wäre mangels eines Vorliegens eines Freizügigkeitstatbestands nur durch Erteilung eines konstitutiven Aufenthaltstitels nach § 8 iVm § 47 NAG oder § 54 AsylG zu erfüllen gewesen, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf.

6. Die außerordentliche Revision war daher mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00178.19B.0121.000

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