OGH vom 09.04.2015, 2Ob58/14i
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr.
Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Familienrechtssache der Antragstellerin A***** J*****, vertreten durch die Kollisionskuratorin Dr. Christiane Bobek, Rechtsanwältin, Mariahilfer Straße 140/2/15, 1150 Wien, diese vertreten durch Mag. Anna Maria Freiberger, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Antragsgegner A***** J*****, vertreten durch Dr. Susanne Schuh, Rechtsanwältin in Perchtoldsdorf, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom , GZ 43 R 729/13v 21, womit infolge Rekurses der Antragstellerin der Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom , GZ 12 FAM 36/13a 15, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin ist schuldig, dem Antragsgegner die mit 744,43 EUR (hierin 124,07 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die 1971 geborene Antragstellerin leidet seit ihrer Geburt an einer hochgradigen geistigen Entwicklungsstörung. Betreut wird sie von ihrer Mutter, die auch zur Sachwalterin bestellt worden ist.
Die Ehe der Eltern wurde am im Einvernehmen nach § 55a EheG geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich verpflichtete sich der Vater zur Leistung eines monatlichen Unterhalts von 7.500 S an die Mutter, es erfolgte jedoch keine Festsetzung des Kindesunterhalts. Statt dessen verpflichtete sich die Mutter, für die Kosten des Unterhalts der Antragstellerin aufzukommen und den Vater hinsichtlich dieser Verpflichtung schad- und klaglos zu halten.
Der Vater bezieht seit dem Jahr 2007 eine Invaliditätspension. Nach vorübergehender Einstellung seiner Unterhaltszahlungen leistet er seit Beginn des Jahres 2011 an die Mutter einen monatlichen Unterhalt von 210 EUR. Die Festsetzung eines an die Antragstellerin zu leistenden Geldunterhalts ist bisher noch nicht erfolgt. Die Antragstellerin bezieht derzeit Leistungen nach dem Wiener Mindestsicherungsgesetz, Pflegegeld und die erhöhte Familienbeihilfe.
Mit pflegschaftsgerichtlich genehmigtem Antrag vom begehrte die Antragstellerin die Verpflichtung des Antragsgegners (ihres Vaters) zur Deckung eines Sonderbedarfs von 9.336,99 EUR sA, bestehend aus den Kosten für die Anschaffung eines Therapierads, eines Ergometers und einer Brille, eines Kuraufenthalts sowie einer Zahnbehandlung. Die Mutter habe in den letzten drei Jahren diese Kosten ausgelegt. Die im Scheidungsfolgenvergleich vereinbarte Schad- und Klagloshaltung sei sittenwidrig und lasse den gesetzlichen Unterhaltsanspruch der Antragstellerin unberührt. Die Mutter sei krankheitsbedingt nicht mehr arbeitsfähig.
Der Antragsgegner berief sich in seiner Äußerung auf die im Scheidungsfolgenvergleich von der Mutter übernommene Unterhaltspflicht, die jedenfalls auch einen allfälligen Sonderbedarf umfasse. Da er in der Vergangenheit zu viel an Unterhalt bezahlt habe, stehe ihm eine Gegenforderung zu, mit der er gegen den geltend gemachten Anspruch aufrechne. Die Antragstellerin habe bis dato keinen Antrag auf Unterhaltsfestsetzung gestellt, weshalb ein für die Zuerkennung von Sonderbedarf vorauszusetzender Deckungsmangel nicht ermittelt werden könne. Die Antragstellerin sei infolge der von ihr bezogenen öffentlich-rechtlichen Sozialleistungen selbsterhaltungsfähig. Sie bewohne eine eigene Wohnung, tagsüber besuche sie die Werkstätte von Jugend am Werk. Ein allfälliger Sonderbedarf sei zwischen den Eltern aufzuteilen.
Das Erstgericht wies das Antragsbegehren ab. Die im Scheidungsfolgenvergleich zwischen den Eltern vereinbarte Schad- und Klagloshaltung stehe der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen durch die Antragstellerin nicht entgegen. Voraussetzung für die Abgeltung von Sonderbedarf sei allerdings ein Deckungsmangel, der ohne die vorherige Bemessung des Unterhalts nicht ermittelt werden könne.
Das Rekursgericht hob diese Entscheidung auf und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts schließe das Fehlen einer rechtskräftigen Unterhaltsfestsetzung die Zuerkennung eines Sonderbedarfs nicht aus. Es sei vielmehr als Vorfrage zu klären, ob und in welcher Höhe der Antragstellerin für den maßgeblichen Zeitraum monatlicher Unterhalt zuzuerkennen wäre. Dazu fehle es an den erforderlichen Feststellungen.
Zur Begründung des Zulassungsausspruchs führte das Rekursgericht aus, es existiere noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zu der Frage, welche Kriterien bei der Bemessung von Sonderbedarf für ein volljähriges behindertes Kind, das bisher noch keine Unterhaltsfestsetzung beantragt habe, heranzuziehen seien.
Lediglich gegen die Begründung dieser Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Antragstellerin, der hilfsweise auch einen Aufhebungsantrag enthält.
Mit Beschluss vom stellte der Oberste Gerichtshof die Akten dem Erstgericht mit dem Auftrag zurück, einen Kollisionskurator für die Antragstellerin zu bestellen. Dies ist mittlerweile geschehen, der Bestellungsbeschluss ist rechtskräftig. Die Kollisionskuratorin erklärte, die bisherige Verfahrensführung durch die Sachwalterin zu genehmigen.
Der Revisionsrekurs der Antragstellerin ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) Ausspruch des Rekursgerichts mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig. Eine solche Rechtsfrage wird weder in der zweitinstanzlichen Zulassungsbegründung noch im Rechtsmittel der Antragstellerin dargetan:
Rechtliche Beurteilung
1. Vorauszuschicken ist, dass mit dem Rechtsmittel gegen einen Aufhebungsbeschluss auch allein dessen Begründung angefochten werden kann, ohne dass der Auftrag an das Erstgericht, das Verfahren zu ergänzen bekämpft wird, und zwar auch von der Partei, auf deren Rechtsmittel hin die Aufhebung erfolgt ist (RIS-Justiz RS0007094).
2. Selbst bei Fehlen einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn ein Streitfall trotz neuer Sachverhaltselemente bereits mit Hilfe vorhandener Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann (3 Ob 78/14p; RIS-Justiz RS0042656 [T48]). Letzteres trifft hier aus den nachstehenden Erwägungen zu.
3. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass die Abgeltung eines Sonderbedarfs durch den Unterhaltspflichtigen nur Ausnahmecharakter hat und regelmäßig nur bei einem „Deckungsmangel“ berücksichtigt wird. Ein Deckungsmangel liegt dann vor, wenn der Sonderbedarf weder aus der Differenz zwischen dem bereits festgesetzten, den Allgemeinbedarf deckenden Unterhalt und dem Regelbedarf (6 Ob 230/08d; 7 Ob 163/09k; 8 Ob 50/10a; RIS-Justiz RS0047525 [T2]), noch aus den Sozialleistungen von dritter Seite (3 Ob 144/10p; 10 Ob 17/12s) bestritten werden kann (vgl auch Schwimann/Kolmasch , Unterhaltsrecht 7 112). Wurde mangels Antragstellung noch keine laufende monatliche Unterhaltsverpflichtung festgesetzt, wird aber dennoch Sonderbedarf (in Form einmaliger Zahlungen) begehrt, so liegt es im Hinblick auf diese Rechtsprechung auf der Hand, das Bestehen eines Deckungsmangels durch die Prüfung zu klären, ob und in welcher Höhe zugunsten der Antragstellerin im maßgeblichen Zeitraum ein Anspruch auf laufenden Unterhalt hypothetisch bestünde. Die diesbezügliche Rechtsansicht des Rekursgerichts ist im vorliegenden „Sonderfall“ so die Antragstellerin in ihrem Rechtsmittel jedenfalls vertretbar und wirft keine Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf.
4. Der gegen die Lösung des Rekursgerichts vorgebrachte Einwand der Antragstellerin, dass sie ja keinen laufenden Unterhalt erhalte und dem Antragsgegner, würde er nach Leistung des geltend gemachten Sonderbedarfs zur Zahlung laufenden Unterhalts verpflichtet werden, die Aufrechnung mit der Differenz zwischen Regelbedarf und zuerkanntem Unterhalt offen stehe, vernachlässigt, dass ein „Deckungsmangel“ im aufgezeigten Sinn Anspruchsvoraussetzung für die (nur ausnahmsweise) Zuerkennung von Sonderbedarf ist. Da der Unterhaltsanspruch eine Einheit bildet und ein „Aufsplitten“ des Unterhaltsbeitrags in Leistungen zur Befriedigung des „sonstigen“ Unterhaltsbedarfs und des zweckgebundenen Sonderbedarfs in ständiger Rechtsprechung abgelehnt wird (2 Ob 224/08t mwN; 5 Ob 116/09h; 10 Ob 20/13h), kommt eine isolierte, von der wenn auch nur hypothetischen laufenden Unterhaltspflicht losgelöste Berücksichtigung von Sonderbedarf nicht in Betracht.
5. Die Antragstellerin führt weiters ins Treffen, für Unterhaltsberechtigte ihres Alters existiere kein Regelbedarf, dieser könne daher auch nicht zur Begrenzung ihres Anspruchs herangezogen werden.
Dazu ist zunächst festzuhalten, dass der Regelbedarf in der Rechtsprechung als der neben der Betreuung durch den haushaltsführenden Elternteil bestehende Bedarf verstanden wird, den jedes (auch erwachsene) „Kind“ einer bestimmten Altersstufe in Österreich ohne Rücksicht auf seine konkreten Lebensumstände zur Bestreitung eines dem Durchschnitt gleichaltriger Kinder entsprechenden Lebensaufwands hat (vgl 7 Ob 163/09k; RIS-Justiz RS0047395; Schwimann/Kolmasch aaO 109). Dass die jährlich in Tabellen veröffentlichten Regelbedarfssätze nur Kinder bis zu einem Alter von 28 Jahren erfassen, ist ohne Bedeutung, weil dieser Tabelle kein normativer Charakter zukommt und die darin veröffentlichten Werte nur als Orientierungshilfe dienen sollen ( Schwimann/Kolmasch aaO 109). Dies hat auch der Oberste Gerichtshof bereits in einem vergleichbaren Fall zum Ausdruck gebracht, in welchem er den Regelbedarf eines 32-jährigen Behinderten mit jenem eines 19-jährigen gleichsetzte (6 Ob 2127/96d).
6. Davon abgesehen hat das Rekursgericht ohnedies (auch) auf den konkreten Bedarf der Antragstellerin Bedacht genommen, indem es als klärungsbedürftig erachtete, ob ein „allfälliger Differenzbetrag“ zwischen Regelbedarf und (hypothetischem) Unterhaltsanspruch nicht schon durch einen behinderungsbedingt regelmäßig anfallenden, nicht dem Betreuungsbereich zuzurechnenden Sonderbedarf aufgebraucht wurde (vgl 10 Ob 17/12s; 10 Ob 20/13h). Auf die in diesem Zusammenhang erstatteten Rechtsmittelausführungen zu den Wohnverhältnissen und den Betreuungsleistungen der Mutter ist in Ermangelung jeglicher Feststellungen zu den Lebensumständen der Antragstellerin im gegenwärtigen Verfahrensstadium noch nicht einzugehen.
7. Das Rekursgericht hat schließlich in seiner Begründung im Einklang mit der Rechtsprechung auf die bei der Beurteilung der Deckungspflicht von Sonderbedarf zu beachtenden Kriterien, wie die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten (8 Ob 53/09s; 3 Ob 144/10p; 4 Ob 85/14z; RIS Justiz RS0047543, RS0047544, RS0109907) und die Berücksichtigung der von der Antragstellerin bezogenen öffentlich-rechtlichen Leistungen (vgl etwa 8 Ob 50/10a; 1 Ob 200/11k; 10 Ob 17/12s; 4 Ob 29/14i) abgestellt.
Zu all diesen für die Ermittlung eines allfälligen Deckungsmangels relevanten Tatumständen liegen bisher noch keine Feststellungen vor. Wenn das Rekursgericht daher das Verfahren insoweit für ergänzungsbedürftig erachtete, kann dem der Oberste Gerichtshof nicht entgegentreten.
8. Da somit erhebliche Rechtsfragen iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zu lösen sind, ist der Revisionsrekurs als unzulässig zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 78 Abs 2 AußStrG; der Antragsgegner hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses hingewiesen (vgl RIS-Justiz RS0123222 [T2 und T 6]).
European Case Law Identifier
ECLI:AT:OGH0002:2015:0020OB00058.14I.0409.000