OGH vom 26.04.2017, 1Ob25/17h
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. HoferZeniRennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** A*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Schöberl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, und den Nebenintervenienten auf Seite der beklagten Partei Dr. W***** B*****, vertreten durch Dr. Manfred Steininger, Rechtsanwalt in Wien, wegen 130.909,83 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom , GZ 14 R 124/16g40, mit dem das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom , GZ 22 Cg 44/15v34, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.044,35 EUR und dem Nebenintervenienten auf Seite der beklagten Partei die mit 2.453,22 EUR (darin enthalten 408,87 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortungen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die (damals bereits volljährige) Klägerin ist die uneheliche Tochter des am verstorbenen H***** W*****, der weiters seine Ehefrau und eine eheliche Tochter hinterließ. In seinem Testament hatte er angeordnet, dass die Klägerin auf den Pflichtteil gesetzt werde, und verfügt, dass ihr Pflichtteil auf die Hälfte herabgesetzt werde. Von Kindheit an hatte die Klägerin so gut wie keinen Kontakt zum Verstorbenen gehabt.
Das für die Verlassenschaft zuständige Bezirksgericht legte einen Gerichtsakt an und ersuchte den Nebenintervenienten als Gerichtskommissär, eine Todfallsaufnahme zu errichten, bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 72, 73 AußStrG [1854] eine diesbezügliche Erledigung vorzubereiten und binnen sechs Wochen vorzulegen bzw eine Verlassenschaftsabhandlung durchzuführen und den Akt binnen vier Monaten wieder vorzulegen.
Bei der Todfallsaufnahme vom gab die Witwe des Verstorbenen die Klägerin als außereheliche Tochter an. Auch aus dem Testament waren der Mädchenname der Klägerin und ihr Geburtsdatum ersichtlich. Nach den Angaben der Witwe des Erblassers im Protokoll über die Todfallsaufnahme befanden sich in der Verlassenschaft keine Liegenschaften, keine Sparbücher, keine Wertpapiere, kein Kraftfahrzeug, die Wohnungseinrichtung, Kleidung und Wäsche waren wertlos und die Begräbniskosten wurden von ihr bezahlt. Das Konto des Erblassers bei einer Bank bestand im Todeszeitpunkt nicht mehr, weil es bereits aufgelöst war. Ebenfalls am machte der Nebenintervenient das Testament kund. Sodann legte er den Verlassenschaftsakt wieder dem Bezirksgericht vor.
Das Verlassenschaftsgericht fasste daraufhin am den Beschluss: „Mangels Vermögens keine Abhandlung (§ 72/1 AußStrG).“ Dieser Beschluss wurde niemandem zugestellt, auch nicht der Klägerin. Sie wurde auch weder vom Bezirksgericht noch vom Nebenintervenienten davon verständigt, dass ihr Vater verstorben sei.
Auf Basis der aktenkundigen Angaben in der Todfallsaufnahme und dem Testament des Vaters der Klägerin wäre es durch Abfrage des Zentralen Melderegisters, allenfalls nach Ermittlung der Namensänderung der Klägerin aufgrund der Verehelichung beim zuständigen Standesamt, möglich gewesen, ihre Anschrift zu ermitteln; sie war an ihrer Wohnadresse aufrecht gemeldet.
Die Klägerin hatte seit 1982 weder Kontakt zu ihrem Vater noch zu dessen Angehörigen. Sie erfuhr erst am durch Zufall von einer Arbeitskollegin, dass ihr Vater mehr als zehn Jahre davor verstorben war. Sie wusste darüber Bescheid, dass ihr Vater Eigentümer von zwei Liegenschaften war, hatte stets vor, nach seinem Ableben den Pflichtteil geltend zu machen und hätte auch bei einer Verständigung vom Ableben ihres Vaters und dass dieser vermögenslos verstorben sei, Nachforschungen über den Verbleib des Vermögens, insbesondere der Liegenschaften, angestellt. Sie hätte daher bei der Verständigung vom Ableben ihres Vaters unverzüglich, jedenfalls aber innerhalb der Verjährungsfrist ihren Schenkungspflichtteil gegenüber der Ehefrau ihres Vaters geltend gemacht. Sie tätigte im Zeitraum 2004 bis 2015 keine Nachforschungen, ob ihr Vater allenfalls verstorben wäre.
H***** W***** hatte mit Schenkungsvertrag vom seiner Ehefrau eine Liegenschaft und die Hälfte einer weiteren Liegenschaft geschenkt. Mit Übergabsvertrag vom hatte er ihr auch die zweite Hälfte dieser Liegenschaft geschenkt.
Mit der am eingebrachten Klage begehrte die Klägerin aus dem Titel der Amtshaftung von der Beklagten zuletzt 130.909,83 EUR sA an Schadenersatz. Sie brachte dazu im Wesentlichen vor, ihr wäre ein Schenkungspflichtteil gegen die Witwe des Verstorbenen zugestanden; dieser Anspruch sei aber aufgrund ihrer unvertretbar pflichtwidrig unterlassenen Verständigung vom Ableben ihres Vaters verjährt. Der Nachlass sei laut der Todfallsaufnahme vermögenslos gewesen. Ihr Vater habe jedoch einerseits zu seinen Lebzeiten die Liegenschaftsschenkungen an seine Ehefrau durchgeführt, andererseits sei sein Konto bei einer Bank vermutlich erst nach seinem Tod aufgelöst worden. Dies lege die Vermutung nahe, dass der Nachlass doch nicht zur Gänze vermögenslos gewesen sei. Das Konto könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein 3.000 EUR übersteigendes Guthaben aufgewiesen haben. In diesem Fall hätte eine Verlassenschaftsabhandlung stattfinden müssen.
Sie hätte von der Verlassenschaftsabhandlung nach den gesetzlichen Bestimmungen verständigt werden müssen. Wäre sie verständigt worden, hätte sie den Schenkungspflichtteil fristgerecht geltend machen können. Zweck der Verständigungspflicht sei es, den Pflichtteilsberechtigten vor der Verjährung seiner Ansprüche zu bewahren. Der Nebenintervenient habe schuldhaft und unvertretbar seine Verständigungspflicht nach § 72 Abs 2 AußStrG 1854 sowie seine Nachforschungspflichten verletzt. Nach § 72 AußStrG 1854 habe das Gericht sowohl im Fall, dass das Vermögen bei der Todfallsaufnahme 3.000 EUR nicht übersteige, als auch im Fall, dass gar kein Vermögen vorhanden sei, die zur Erbschaft Berufenen und die Noterben davon zu verständigen, dass es ihnen frei stehe, die Einleitung der Verlassenschaftsabhandlung zu begehren. Eine Unterscheidung der beiden Fälle wäre gleichheitswidrig und würde die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren darstellen. Aufgrund der Liegenschaftsschenkungen stehe der Klägerin ein Pflichtteilsergänzungsanspruch durch den Schenkungspflichtteil im Ausmaß eines 1/12 des Werts zu. Der Schaden der Klägerin sei erst am mit der Verjährung der Pflichtteilsergänzungsansprüche eingetreten.
Die Beklagte wandte im Wesentlichen ein, der Nebenintervenient habe als Gerichtskommissär unter Beiziehung der Witwe des Erblassers die Todfallsaufnahme errichtet. Dabei sei das Vorhandensein von Vermögen und von Schulden verneint worden und die Witwe habe angegeben, dass sie die Begräbniskosten bezahlt habe. Das Verlassenschaftsgericht habe sodann am den Beschluss gefasst, dass mangels Vermögens gemäß § 72 Abs 1 AußStrG keine Abhandlung stattfinde. Der Akt sei ohne weitere Verfügungen abgelegt worden. Die Verlassenschaft sei gänzlich vermögenslos gewesen. Der Nebenintervenient sei nicht verpflichtet gewesen, bei der Errichtung der Todfallsaufnahme die Pflichtteilsberechtigten beizuziehen; § 38 AußStrG 1854 habe vielmehr angeordnet, dass der Gerichtskommissär die Umstände zu erheben und hiezu von den Angehörigen oder den Hausgenossen des Verstorbenen oder sonst bei Personen, die seine Verhältnisse kennen, die notwendigen Erkundungen einzuziehen habe. Eine Rechtsnorm, dass der Gerichtskommissär sodann die Pflichtteilsberechtigten von den Ergebnissen der Todfallsaufnahme bzw von der Verlassenschaftsabhandlung als solcher zu verständigen hätte, habe nicht bestanden. Das Klagebegehren sei auch verjährt; der Schaden der Klägerin sei zu jenem Zeitpunkt eingetreten, zu dem das von ihr behauptete rechtmäßige Alternativverhalten – eine Verständigung der Klägerin – erfolgen hätte müssen. Da die Todfallsaufnahme am errichtet worden sei, wäre eine allfällige Verständigung der Klägerin zu diesem Zeitpunkt anzusetzen und daher zum Zeitpunkt der Klagseinbringung die zehnjährige absolute Frist des § 6 Abs 1 Satz 2 AHG bereits abgelaufen gewesen.
Der Nebenintervenient wandte darüber hinaus ein, dass nach den Bestimmungen des AußStrG 1854 der Gerichtskommissär den Akt nach der Erstellung der Todfallsaufnahme und der Information, dass offensichtlich kein Nachlassvermögen vorhanden sei, dem Verlassenschaftsgericht vorzulegen gehabt habe. Er habe weder einen gerichtlichen Auftrag noch einen Gesetzesauftrag gehabt, die Daten der Pflichtteilsberechtigten zu eruieren, geschweige denn, diese zu verständigen. Nach der Erstellung der Todfallsaufnahme habe er den Akt wieder an das Gericht zurückgeschickt und nichts mehr von dieser Angelegenheit gehört. Der Nachlass sei offenkundig vermögenslos gewesen, sodass das Gericht keinerlei Pflichten zu einer weiteren Veranlassung getroffen habe. Sein Verhalten sei jedenfalls nicht unvertretbar gewesen.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Rechtlich folgerte es, dass auf das Verlassenschaftsverfahren gemäß § 205 AußStrG 2005 noch die Bestimmungen des zuvor in Geltung gestandenen AußStrG anzuwenden gewesen seien. Nach ständiger Judikatur sei der Noterbe mit Rücksicht auf seine Rechte nach den §§ 784, 804, 812 ABGB dem Abhandlungsverfahren beizuziehen gewesen. Die Nichtbeiziehung eines Pflichtteilsberechtigten habe die Nichtigkeit des Abhandlungsverfahrens zur Folge, wenn dem Gericht – wie hier – das Vorhandensein des Pflichtteilsberechtigten aufgrund der Aktenlage bekannt gewesen sei. Die Beteiligung der Noterben diene der Wahrung ihrer Rechte. Die im Verlassenschaftsverfahren gefassten Beschlüsse seien nach der Entscheidung 1 Ob 51/95 dem Noterben aufgrund seiner Beteiligtenstellung zuzustellen. Die Pflicht zur Verständigung des Noterben habe nach dieser Entscheidung auch dann gegolten, wenn die Verlassenschaft gemäß § 72 Abs 1 AußStrG aF „armutshalber abgetan“ worden sei. Die aufrechte Meldung der Klägerin an ihrem Wohnort hätte zu einer zustellfähigen Adresse geführt. Eine Abfrage im Zentralen Melderegister sowie aufgrund der offensichtlich durch die Ehefrau des Verstorbenen erfolgten Angabe, die Klägerin sei verehelicht, bei den Standesbehörden wäre im Rahmen zumutbarer Erhebungen gelegen gewesen. Das Unterbleiben der Verständigung der Klägerin vom Verlassenschaftsverfahren bzw die unterbliebene Zustellung des Beschlusses nach § 72 Abs 1 AußStrG aF sei als unvertretbar und daher amtshaftungsbegründend zu werten.
Ein Mitverschulden der Klägerin bestehe nicht, weil sie sich auf die amtswegige Verständigung vom Ableben ihres Vaters und vom Verlassenschaftsverfahren verlassen habe können. Es bestehe keine Obliegenheit eines potenziellen Noterben, sich in regelmäßigen höchstens dreijährigen Abständen zu erkundigen, ob der potenzielle Erblasser noch am Leben sei.
Auch eine Anspruchsverjährung sei zu verneinen. Der Schadenseintritt sei nämlich nicht schon mit der unterbliebenen Verständigung eingetreten, sondern erst mit der durch die Verjährung ihres Pflichtteilsanspruchs eingetretenen nachteiligen Veränderung im Vermögen der Klägerin. Bis zur Verjährung sei ihr Pflichtteilsanspruch durchsetzbar gewesen, die Klägerin habe bloß keine Kenntnis davon gehabt. Es handle sich daher um einen Vermögenswert, der erst durch die Verjährung nicht mehr klagbar und damit entwertet worden sei. Erst mit dem Eintritt der Verjährung der Pflichtteilsansprüche im Jahr 2007 sei daher der Schadenseintritt erfolgt. Die absolute Verjährungsfrist des § 6 Abs 1 AHG habe daher auch erst im Jahr 2007 zu laufen begonnen und sei bei Klagseinbringung noch nicht abgelaufen gewesen. Die dreijährige Verjährungsfrist sei ausgehend von der erst am erfolgten Kenntnis der Klägerin vom eingetretenen Schaden noch offen gewesen. Die Klage sei auch der Höhe nach berechtigt.
Das Berufungsgericht gab den Berufungen der Beklagten und des Nebenintervenienten Folge und wies das Klagebegehren ab. Rechtlich führte es aus, die Befragung der Witwe des Erblassers als Auskunftsperson zur Bescheinigung des Werts des Nachlasses sei ihrem Wesen nach eine Ermessensentscheidung des Nebenintervenienten gewesen. Diese Entscheidung habe sich innerhalb des von § 38 AußStrG aF gedeckten Ermessensspielraums gehalten und sei sowohl lebensnah als auch naheliegend gewesen. Auch bei der Wertung, die Angaben der Witwe zu dem im Todeszeitpunkt vorhanden gewesenen Vermögen des Erblassers als glaubhaft zu erachten, habe es sich um eine Ermessensausübung durch den Nebenintervenienten und das Bezirksgericht gehandelt; diese sei durchaus vertretbar gewesen. Auch der Umstand, dass ein Girokonto des Verstorbenen bereits vor seinem Tod aufgelöst worden sei, erscheine durchaus als realistisch und unbedenklich. Das AußStrG aF habe keinerlei verpflichtende Verständigung potenzieller Erben oder Pflichtteilsberechtigter vom Termin der Todfallsaufnahme oder von deren Ergebnissen normiert. Bei der Todfallsaufnahme nach den §§ 38, 39 AußStrG aF habe es sich um einen formlosen Akt einer bloß kursorischen Tatsachenerhebung gehandelt. Gemäß den §§ 50, 51 AußStrG aF sei der Gerichtskommissär lediglich verpflichtet gewesen, dem Gericht über die bei der Todfallsaufnahme erhobenen Umstände Bericht zu erstatten. Eine Verpflichtung des Gerichtskommissärs, die Klägerin von der Todfallsaufnahme zu verständigen, habe weder erkennbar nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen noch „nach einer gerichtlichen Rechtsprechung“ bestanden, sodass in der unterbliebenen Verständigung der Klägerin von der Todfallsaufnahme kein unvertretbares Organverhalten gelegen sein könne. Nur im Fall – des hier nicht nicht vorliegenden – § 72 Abs 2 AußStrG aF habe eine Verständigungspflicht gegenüber dem Noterben (Pflichtteilsberechtigten) vom Unterbleiben einer amtswegigen Einleitung einer Verlassenschaftsabhandlung bestanden. Für den in § 72 Abs 1 AußStrG aF geregelten Fall, dass der Verstorbene nach dem Ergebnis der Todfallsaufnahme überhaupt kein Vermögen hinterlassen habe, sei mangels einer Erwähnung im Gesetzestext nach einem üblichen sprachlichen Verständnis davon auszugehen, dass keine Verständigung des Noterben vom Unterbleiben der Abhandlung vorgeschrieben gewesen sei. § 72 Abs 1 AußStrG aF habe keineswegs klar bzw eindeutig eine Verständigungspflicht gegenüber dem Noterben im Fall eines gänzlich fehlenden Nachlassvermögens vorgesehen. Die Entscheidung 1 Ob 51/95 sei mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht ohne weiteres vergleichbar. Der Oberste Gerichtshof habe sich in dieser Entscheidung mit der Regelung des § 72 AußStrG aF inhaltlich nicht auseinandergesetzt und die Unterscheidung zwischen den beiden Sachverhaltskonstellationen des Abs 1 und 2 zur Gänze unerörtert gelassen. Inhaltlich habe der Oberste Gerichtshof in dieser Entscheidung lediglich auf materiellrechtliche Bestimmungen des ABGB Bezug genommen, aus denen er – allgemein – eine Beteiligtenstellung von Noterben nach § 9 AußStrG aF im Verlassenschaftsverfahren hergeleitet habe. Soweit der Oberste Gerichtshof damals ausgeführt habe, die Organe des dortigen Anlassverfahrens seien von einer klaren Gesetzeslage abgewichen, sei nicht klar ersichtlich, welche Gesetzeslage damit gemeint gewesen sei. Selbst wenn diese Entscheidung darauf schließen lasse, dass der Oberste Gerichtshof die Ansicht vertreten habe, dass der potenzielle Noterbe auch dann, wenn bei der Todfallsaufnahme überhaupt kein Nachweis eines Vermögens hervorgekommen sei (§ 72 Abs 1 AußStrG aF), verständigt werden müsse, sei angesichts der damals unterbliebenen konkreten Auseinandersetzung mit dem diesen Fall spezifisch ansprechenden § 72 AußStrG aF weder von einer „eindeutigen“ noch von einer „ständigen höchstgerichtlichen“ Rechtsprechung auszugehen. Trotz der Entscheidung 1 Ob 51/95 sei es nach dem Wortlaut des § 72 Abs 1 AußStrG aF im Oktober 2004 jedenfalls vertretbar gewesen – wenn nicht sogar rechtlich richtig –, angesichts des nach dem Ergebnis der Todfallsaufnahme vertretbar anzunehmenden völligen Fehlens eines Nachlassvermögens, die Verständigung der Klägerin als potenzieller Noterbin zu unterlassen. Die zu Lebzeiten des Erblassers von ihm seiner Frau geschenkten Liegenschaften seien auch nach der bereits im Jahr 2004 herrschenden Rechtsprechung nicht in das Nachlassvermögen gefallen.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision gemäß § 502 Abs 1 ZPO nicht zu, weil die Vertretbarkeit einer Rechtsansicht immer eine Frage des Einzelfalls sei und es um die Auslegung einer nicht mehr geltenden Gesetzesbestimmung gehe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, dem Klagebegehren stattzugeben.
Die Beklagte und der Nebenintervenient beantragen in den freigestellten Revisionsbeantwortungen die Zurückweisung der Revision, ansonsten ihr nicht Folge zu geben.
Die Revision ist im Hinblick auf die Entscheidung 1 Ob 51/95 zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Auf das Verlassenschaftsverfahren nach dem am verstorbenen Erblasser war gemäß § 205 AußStrG 2005 noch das AußStrG 1854 anzuwenden. Die Klägerin war damals bereits volljährig. Nach § 38 AußStrG 1854 waren vom Gerichtskommissär unter anderem die Umstände, die für die Verlassenschaftsabhandlung von Bedeutung sind, zu erheben und „zu diesem Zwecke bei den Angehörigen oder den Hausgenossen des Verstorbenen oder sonst bei Personen, die seine Verhältnisse kennen, … die notwendigen Erkundigungen einzuziehen“. Der Nebenintervenient führte als zuständiger Gerichtskommissär die Todfallsaufnahme mit der Witwe des Erblassers durch, nach deren Angaben sich in der Verlassenschaft keine Vermögenswerte befanden. Das Konto des Erblassers war demnach im Todeszeitpunkt bereits aufgelöst. Eine verpflichtende Verständigung eines Pflichtteilsberechtigten und damit der Klägerin als Noterbin vom Termin der Todfallsaufnahme oder von deren Ergebnis bestand – wie das Berufungsgericht zutreffend ausführte – in diesem Zusammenhang nach dem damaligen Recht nicht. Mangels jeglicher Anhaltspunkte für ein in die Verlassenschaft fallendes Vermögen war der Nebenintervenient – entgegen der Ansicht der Klägerin – auch nicht zu weiteren Erhebungen über die Vermögenslage des Nachlasses (vgl dazu §§ 39 Z 6, 51 Satz 1 AußStrG 1854) verpflichtet.
2. § 72 Abs 1 AußStrG, der bis zu seiner Aufhebung in der Stammfassung RGBl 1854/208 galt, regelte die sogenannte Abtuung armutshalber: „Ergibt sich aus der Todfallsaufnahme, dass der Verstorbene kein Vermögen hinterlassen hat, so wird der Bericht über die Todfallsaufnahme von der Abhandlungsbehörde dahin erledigt, dass wegen Abgangs eines Vermögens keine Verlassenschaftsabhandlung stattfinde.“
Mit BGBl 1923/636 wurde der Norm ein zweiter Absatz angefügt. Danach hat das Gericht – wenn der Nachlass nach den allenfalls durch das Gericht ergänzten Feststellungen der Todfallsaufnahme ohne Abzug der Schulden den Betrag von [zuletzt] 3.000 EUR nicht übersteigt und Liegenschaften dazu nicht gehören – „die letztwilligen Anordnungen kundzumachen, jedoch eine Verlassenschaftsabhandlung nicht einzuleiten. Hievon hat das Gericht die zur Erbschaft Berufenen und die Noterben mit dem Beisatze zu verständigen, dass es ihnen freisteht, die Einleitung der Verlassenschaftsabhandlung zu begehren“. Nach dieser Bestimmung war daher bei Vorliegen der darin genannten Voraussetzungen von der sonst normierten amtswegigen Einleitung der Verlassenschaftsabhandlung abzusehen. Allerdings stellte das Gesetz den zur Erbschaft Berufenen und den Noterben frei, das zu Einantwortung führende Verfahren fortzusetzen (9 Ob 32/03a).
3. Nach ständiger Rechtsprechung zum AußStrG 1854 war der Noterbe mit Rücksicht auf seine Rechte nach den §§ 784, idF vor dem ErbRÄG 2015 [Anwesenheit bei Schätzungen], 804 [Antrag auf Inventarisierung] und 812 ABGB, idF vor dem ErbRÄG 2015 [Antrag auf Nachlassseparation], dem Abhandlungsverfahren beizuziehen (RISJustiz RS0006519; 6 Ob 215/08y = RS0008117 [T3]), und zwar auch dann, wenn das Gericht gemäß § 72 Abs 2 AußStrG 1854 eine Verlassenschaftsabhandlung wegen geringen Nachlasses nicht eingeleitet hat (9 Ob 32/03a; 6 Ob 215/08y = RISJustiz RS0008117 [T4], jeweils mwN). Das Unterlassen der Beiziehung des Pflichtteilsberechtigten hatte nach ständiger Rechtsprechung Nichtigkeit des Abhandlungsverfahrens zur Folge, wenn dem Gericht aufgrund der Aktenlage das Vorhandensein von Pflichtteilsberechtigten bekannt war (RISJustiz RS0005734 [T3, T 8]). Noterben waren deshalb Beteiligte im Sinn des § 9 AußStrG 1854. Nach der Rechtsprechung war der Sinn der Verpflichtung, den Noterben gemäß § 72 Abs 2 Satz 2 AußStrG 1854 vom Unterbleiben der Abhandlung zu verständigen, ihm die Wahrnehmung seiner sich aus der Stellung als Noterbe ergebenden Rechte im Abhandlungsverfahren zu ermöglichen (vgl auch Welser in Rummel³ §§ 762–764 ABGB Rz 11). Durch seine Verständigung sollte der Noterbe überhaupt erst in die Lage versetzt werden, die Einleitung der Verlassenschaftsabhandlung – etwa mit der Behauptung, es hätten Vorausempfänge stattgefunden – zu begehren und sich so die Grundlagen für die Berechnung seines Pflichtteils zu verschaffen und einer allfälligen Verkürzung seiner Rechte vorzubeugen (RISJustiz RS0006519). Logische Konsequenz hievon war schließlich, dass der ordnungsgemäß verständigte Noterbe – sollte er vom Erbfall sonst keine Kenntnis haben – durch diese Verständigung in die Lage versetzt wird, seine Pflichtteilsansprüche vor Ablauf der Verjährungsfrist im streitigen Rechtsweg geltend zu machen (1 Ob 244/05x).
4. In der Entscheidung 1 Ob 51/95 (= NZ 1996, 276 = RpflSlg A 8437) sprach der Oberste Gerichtshof in einem Amtshaftungsverfahren aus, dass der Bund für den infolge Verjährung der Pflichtteilsansprüche entstandenen Schaden einzustehen hat, wenn der Pflichtteilsberechtigte vom Verlassenschaftsverfahren durch das Gericht nicht verständigt wurde, obwohl diesem das Vorhandensein des Pflichtteilsberechtigten nach der Aktenlage bekannt war. Die Nichtbeiziehung bzw unterlassene Verständigung eines Pflichtteilsberechtigten im Verlassenschaftsverfahren, auch wenn die Verlassenschaft armutshalber abgetan worden sei, sei unvertretbar. Diese Entscheidung wird in der Literatur zitiert, ohne daran Kritik zu üben (Mader in Schwimann/Kodek, ABGB4§ 1 AHG Rz 76; Feil, Verfahren außer Streitsachen² [2000] 338; Sailer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 176 Rz 1 FN 2, jeweils ohne näher auf die Entscheidung einzugehen und ohne zu § 72 Abs 1 und 2 AußStrG 1854 zu differenzieren).
Nach dem Sachverhalt der Entscheidung 1 Ob 51/95 war in der Todfallsaufnahme beim Vermögen des Erblassers dessen Liegenschaftsanteil angeführt. Diesen hatte er seiner Ehefrau auf den Todesfall geschenkt. Bei Liegenschaften ist zum Eigentumserwerb des Beschenkten die Einverleibung erforderlich. Der Liegenschaftsanteil war Teil des Nachlassvermögens (RISJustiz RS0103394) und als auf den Todesfall geschenkte Sache in das Inventar aufzunehmen (RISJustiz RS0007793 [T2]; RS0019082 [T1]). Da somit Liegenschaftsvermögen in die Verlassenschaft fiel, lag kein Fall des § 72 Abs 1 oder 2 AußStrG 1854 vor, sodass der Pflichtteilsberechtigte entsprechend dem Größenschluss aus Abs 2 jedenfalls dem Verlassenschaftsverfahren beizuziehen war.
5. Sollte der Entscheidung 1 Ob 51/95 die Rechtsansicht zugrunde liegen, dass der Pflichtteilsberechtigte auch im Fall, dass die Verlassenschaft gemäß § 72 Abs 1 AußStrG 1854 armutshalber abgetan wurde, dem Verlassenschaftsverfahren beizuziehen wäre, also ihm zumindest der Beschluss darüber zuzustellen gewesen wäre, und dessen unterlassene Verständigung rechtswidrig gewesen wäre, könnte diese Rechtsansicht vom erkennenden Senat nicht aufrecht erhalten werden. Abs 1 leg cit sieht – anders als dessen Abs 2 – gerade keine Verständigung des Noterben mit der Information vor, dass es ihm freistehe, die Einleitung der Verlassenschaftsabhandlung zu begehren. Diese Verpflichtung trifft das Gericht nur im Fall der Unterlassung einer Verlassenschaftsabhandlung nach § 72 Abs 2 AußStrG 1854, wenn der Nachlass den Betrag von 3.000 EUR nicht überstieg und Liegenschaften nicht dazugehörten. Eine solche Verständigung und auch die Zustellung eines darüber gefassten Beschlusses wurde in § 72 Abs 1 AußStrG 1854 nicht angeordnet. Auch bestand für das Verlassenschaftsverfahren vor der Entscheidung, dass mangels Verlassenschaftsvermögens keine Verlassenschaftsabhandlung stattfindet (§ 72 Abs 1 AußStrG 1854), nach dem Gesetz keine Verpflichtung des Gerichtskommissärs oder des Gerichts zur Verständigung der Pflichtteilsberechtigten. Der Umstand, dass ein Pflichtteilsberechtigter zwar gemäß § 804 ABGB die Inventarisierung beantragen kann, führt im Fall, dass wegen gänzlichen Fehlens eines Vermögens keine Verlassenschaftsabhandlung stattfand, nicht dazu, dass der Gerichtskommissär oder das Gericht den Noterben beizuziehen hatten. Auch der Beschluss, dass mangels Vermögens die Verlassenschaft armutshalber abgetan wird, war der pflichtteilsberechtigten Klägerin nach der damals geltenden Gesetzeslage nicht zuzustellen.
6. Da somit die unterlassene Verständigung der Klägerin im Fall der hier vorliegenden Voraussetzungen des § 72 Abs 1 AußStrG aF durch das Gericht und den Gerichtskommissär nicht rechtswidrig war, ist ihrer Revision nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2017:0010OB00025.17H.0426.000 |
Schlagworte: | 1 Generalabonnement,4 Amtshaftungssachen,28 Erb-und Verlassenschaftssachen |
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