OGH vom 23.01.2023, 5Ob104/22p
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Wurzer, die Hofrätin Mag. Malesich und die Hofräte Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H* gmbH, *, vertreten durch die FSM Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen den Beklagten Ing. R* R*, vertreten durch die Denk Fuhrmann Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 20.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom , GZ 15 R 32/22v15, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom , GZ 24 Cg 39/21p10, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.332,54 EUR (darin 222,09 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Klägerin war Mit- und Wohnungseigentümerin einer Liegenschaft. Mit Kaufvertrag vom verkaufte sie ihre Miteigentumsanteile an eine nicht am Verfahren beteiligte Projektgesellschaft.
[2] Mit diesen Miteigentumsanteilen ist das Zubehör-Wohnungseigentum an den Flachdächern der drei auf der Liegenschaft bestehenden Baukörper verbunden. Der von der Rechtsvorgängerin der Klägerin und einer weiteren Miteigentümerin geschlossene Wohnungseigentumsvertrag enthält Regelungen über einen von der Rechtsvorgängerin der Klägerin geplanten Dachgeschossausbau. So lautet etwa Punkt VII. lit d Z 2 des Wohnungseigentumsvertrags auszugsweise wie folgt:
„Die [Rechtsvorgängerin der Klägerin] und ihre Rechtsnachfolger sind insbesondere berechtigt, auf eigene Kosten das Flachdach/Haus aufzustocken, einen Personenaufzug zu errichten und zu verwerten und an neu geschaffenen Objekten Wohnungseigentum zu begründen. Die anderen Miteigentümer verpflichten sich, ihre Zustimmung zu allen derartigen baulichen Veränderungen zu erteilen und alle hiefür erforderlichen Erklärungen unverzüglich in der erforderlichen Form abzugeben. […]“
[3] Am beantragte die Klägerin die Erteilung der Baubewilligung für einen Dachgeschossaus- und Zubau auf der Liegenschaft (ca 30 weitere Wohnungen auf allen drei Baukörpern). Die Baubehörde forderte die Klägerin am auf, binnen einer Woche die fehlende Zustimmung zweier Miteigentümer, darunter jene des Beklagten, nachzureichen.
[4] Der Beklagte bestritt seine Verpflichtung, diesem Bauvorhaben zuzustimmen. Gemäß einer telefonisch und im Rahmen einer E-Mail-Korrespondenz erzielten Einigung schlossen die Klägerin und der Beklagte am eine Vereinbarung, wonach der Beklagte seine Zustimmung zu näher konkretisierten Um-, Aus- und Einbauten an dem auf der Liegenschaft errichteten Gebäude und zur Errichtung von Wohnungseigentum an neu geschaffenen Objekten erteilt. Im Gegenzug hierzu verpflichtete sich die Klägerin zu einer bestimmten, vom ursprünglichen Bauplan abweichenden Ausführung des Bauvorhabens und weiters dazu, dem Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes insbesondere für die Wertminderung seiner Wohnung den Betrag von 20.000 EUR zu zahlen. Damit sollten sämtliche (allfällige) Forderungen und behaupteten Ansprüche der Klägerin und deren Rechtsnachfolger gegenüber dem Beklagten und dessen Rechtsvorgängern aus und im Zusammenhang mit der (Plan-)Einreichung, den geplanten Um-, Aus- und Einbauten, sowie dem Ausbau des Flachdachs und Errichtung des Dachgeschoßes endgültig bereinigt und zur Gänze abgegolten sein.
[5] Aufgrund dieser Vereinbarung vom zahlte die Klägerin dem Beklagten noch am selben Tag 20.000 EUR und der Beklagte erteilte der Klägerin eine umfassende Vollmacht, ihn zur Erwirkung der Baubewilligung und zur Begründung von Wohnungseigentum an neu geschaffenen Objekten vor allen Behörden und Gerichten zu vertreten.
[6] Mit der am eingebrachten Klage begehrte die Klägerin vom Beklagten – gestützt auf Schadenersatz wegen Verletzung der vertraglichen Zustimmungspflicht und Nichtigkeit der Vereinbarung vom wegen Wuchers iSd § 879 Abs 2 Z 4 ABGB – die Rückzahlung der 20.000 EUR samt 4 % Zinsen seit .
[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge, ließ aber die Revision zu, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Tatbestand des Wuchers im Zusammenhang mit einer nicht geldwerten Leistung wie insbesondere der Abgabe einer (Zustimmungs-)Erklärung fehle.
[9] Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Sie beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und der Klage stattzugeben. Hilfsweise stellt sie Aufhebungsanträge.
[10] Der Beklagte beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu dieser nicht Folge zu geben.
[11] Die Revision ist – ungeachtet des den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruchs des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) – nicht zulässig. Eine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist nicht zu beantworten.
Rechtliche Beurteilung
1. Nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB sind Verträge nichtig, wenn jemand den Leichtsinn, die Zwangslage, Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung eines anderen dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem Dritten für eine Leistung eine Gegenleistung versprechen oder gewähren lässt, deren Vermögenswert zu dem Wert der Leistung in auffallendem Missverhältnis steht. Das Gesetz missbilligt so die Ausbeutung eines Vertragspartners durch auffallende objektive Äquivalenzstörung der beiderseitigen Hauptleistungen in Fällen der gestörten Freiheit der Willensbildung (5 Ob 176/21z; 9 Ob 37/18h mwN; RS0016864 [T4]).
[13] Jedes Rechtsgeschäft, bei dem ein Austauschverhältnis und Gegenseitigkeitsverhältnis besteht, kann wegen Wuchers angefochten werden. Für die Beurteilung, ob ein Vertrag wegen Wuchers nichtig ist, ist seine rechtliche Einordnung also irrelevant (5 Ob 176/21z; 3 Ob 503/93 = RS0017939). Auch Vergleiche, in denen sich der eine Teil übermäßig hohe Leistungen und Verzichte versprechen oder gewähren lässt, können wegen Wuchers nichtig sein (7 Ob 50/18f; RS0016909; RS0014757 [T5]).
2. Die Unwirksamkeit eines Vertrags wegen Wuchers iSd § 879 Abs 2 Z 4 ABGB setzt dabei 1. das auffallende Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, 2. die mangelnde Wahrungsmöglichkeit der Äquivalenz durch den Bewucherten wegen Leichtsinns, Zwangslage, Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung sowie 3. das Ausnützen der Lage des Bewucherten durch den Wucherer voraus (RS0016861; vgl auch RS0016864). Fehlt nur eine dieser Voraussetzungen, liegt kein wucherisches Geschäft vor (RS0016864 [T7]).
2.1. Wucher erfordert demnach als objektives Merkmal eine grobe, leicht erkennbare Äquivalenzstörung, wobei die gesamten beiderseitigen Leistungswerte in ein Verhältnis zu setzen sind (RS0016947).
[16] Auffallend ist das Missverhältnis dann, wenn die Gegenleistung den Wert der Leistung bedeutend übersteigt, ohne dass die Übermäßigkeit durch besondere Umstände des Falls, etwa die Gewagtheit des Geschäfts, sachlich gerechtfertigt wäre (RS0104128). Bloßes Fehlen der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit reicht nicht aus (RS0104128 [T1]). Das Missverhältnis muss jedoch nicht das Ausmaß der laesio enormis erreichen, weil andernfalls § 934 ABGB in seinem Anwendungsbereich zur Anfechtbarkeit des Vertrags führen würde (9 Ob 37/18h).
2.2. Eine die Willensbildung beeinträchtigende Zwangslage liegt vor, wenn der Vertragsgegner vor die Wahl gestellt ist, in den Vertrag einzutreten oder einen Nachteil zu erleiden, der nach vernünftigem Ermessen schwerer wiegt, als der wirtschaftliche Verlust, den der Vertrag zur Folge hat (RS0104125).
[18] Die Zwangslage, die eine Anfechtung wegen Wuchers rechtfertigt, kann auch nur vorübergehend, psychisch oder vermeintlich sein und in Befürchtungen bestehen (RS0016878 [T1]). Es muss sich nur darum handeln, dass der Ausgebeutete infolge seiner Verhältnisse oder Eigenschaften nicht in der Lage war, sein Interesse beim Geschäftsabschluss gehörig zu wahren (9 Ob 37/18h).
2.3. Der Tatbestand des Wuchers iSd § 879 Abs 2 Z 4 ABGB ist zudem nur erfüllt, wenn die Zwangslage des Bewucherten von dem anderen Vertragspartner ausgebeutet wurde. Der Wucherer braucht dabei nichts zur Herbeiführung der für seinen Partner ungünstigen Lage beizutragen, insbesondere muss die Initiative zum Vertragsabschluss nicht von ihm ausgehen (RS0016864 [T1, T2]; RS0016894 [T1, T2]). Es genügt vielmehr, wenn ihm die Zwangslage seines Vertragspartners bekannt war oder offenbar aus den Umständen auffallen musste (RS0104125 [T1]; RS0016894 [T1]; RS0016887).
[20] Zur Annahme des subjektiven Wuchertatbestands des „Ausbeutens“ genügt daher Fahrlässigkeit (RS0016887 [T1]; RS0104129). Gleiches gilt für das auffallende Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung. Notwendig und hinreichend ist, dass der Wucherer das grobe Missverhältnis der Leistungen gekannt hat oder erkennen hätte müssen (RS0016894).
2.4. Die Behauptungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB, trifft den Anfechtenden (7 Ob 50/18f; RS0016915 [T2]). Das gilt insbesondere für das auffallende, also grobe und leicht erkennbare Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Es ist Sache des Anfechtenden, den Verkehrswert der Vertragsleistungen und Umstände darzutun, nach denen dem Beklagten ein Missverhältnis der Werte der Leistungen mindestens bekannt sein musste. Die bloße Behauptung, dass Leistung und Gegenleistung in einem auffallenden Missverhältnis stünden, reicht nicht aus (7 Ob 50/18f; RS0016915; RS0016912 [T2]; RS0016520).
[22] Ob die Voraussetzungen des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB tatsächlich vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls (RS0016861 [T1]; RS0016864 [T6]). Rechtsfragen von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO sind mit der Prüfung dieser Frage in der Regel nicht verbunden (5 Ob 176/21z).
3. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die Vereinbarung vom sei nicht wegen Wuchers gemäß § 879 Abs 2 Z 4 ABGB nichtig, ist keine im Interesse der Wahrung der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung.
3.1. Das Berufungsgericht hat die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zum Tatbestand des Wuchers iSd § 879 Abs 2 Z 4 ABGB im Allgemeinen und zur Voraussetzung der leicht erkennbaren Äquivalenzstörung im Besonderen zutreffend dargestellt und davon ausgehend die Unwirksamkeit der Vereinbarung vom wegen Wuchers verneint. Dies mit der tragenden Begründung, dass die Klägerin ihrer Behauptungs- und Beweispflicht für das erforderliche auffallende Missverhältnis der wechselseitigen Leistungswerte nicht nachgekommen sei.
[25] Die bloße Behauptung, dass Leistung und Gegenleistung in einem solchen Missverhältnis stünden, reiche nicht aus. Gemäß der Vereinbarung vom seien mit der Zahlung der Klägerin nicht nur die Frage der Zustimmungspflicht, sondern auch mögliche Schadenersatz- und Wertminderungsansprüche des Beklagten durch Vergleich bereinigt worden. Der Beklagte habe als Gegenleistung zur Zahlung außerdem seine sofortige Zustimmung zu dem Bauvorhaben erteilt und damit auf die ihm – ohne Rechtsmissbrauch – offenstehende Möglichkeit verzichtet, eine gerichtliche Entscheidung über seine Zustimmungspflicht abzuwarten oder einzuholen; dadurch sei die Klägerin von der von ihr behaupteten Zwangslage entlastet worden. Zum Werteverhältnis dieser Leistungen des Beklagten zu ihrer Zahlung von 20.000 EUR habe die Klägerin aber kein Vorbringen erstattet. Auch sonst sei ein Missverhältnis im Verfahren nicht hervorgekommen, gehe doch die Klägerin selbst davon aus, dass die Verzögerung des Bauvorhabens durch einen etwaigen Rechtsstreit [über die Zustimmungspflicht des Beklagten] zu einem „immensen finanziellen Schaden“ geführt hätte.
3.2. Ob im Hinblick auf den Inhalt der Prozessbehauptungen eine bestimmte Tatsache als vorgebracht anzusehen ist, hängt ebenso von den Umständen des Einzelfalls ab, wie die Frage, ob das bisher erstattete Vorbringen so weit spezifiziert ist, dass es als Anspruchsgrundlage hinreicht (RS0042828). Diesen Fragen kommt daher in der Regel keine erhebliche Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zu.
[27] Die Revision vermag auch keine im Einzelfall aufzugreifende auffallende Fehlbeurteilung aufzuzeigen. Die Klägerin setzt sich mit der die Entscheidung des Berufungsgerichts tragenden Rechtsansicht, die Klägerin sei ihrer Darlegungsobliegenheit nicht nachgekommen, und seinen Erwägungen dazu nicht näher auseinander. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf die Wiederholung ihrer Behauptung, die mit der Vereinbarung eingegangene Verpflichtung zur Zustimmung sei wertlos gewesen, weil der Beklagte ohnedies vertraglich zur Zustimmung verpflichtet gewesen sei. Auch die „Begleichung“ eines Schadenersatzanspruchs durch die Klägerin sei schon aus diesem Grund ausgeschlossen. Die Ausführungen des Berufungsgerichts zu dem der Klägerin zukommenden Vorteil der Vermeidung eines erheblichen Zeitverlustes und der von der Klägerin im Zusammenhang mit der Begründung ihrer Zwangslage geschilderten wirtschaftlichen Bedeutung dieses Umstands ignoriert die Klägerin ebenso, wie den Umstand, dass der Vergleich auch einen Ausgleich der vom Beklagten behaupteten Wertminderung umfasst. Dass die Klägerin schon im Verfahren vor dem Erstgericht ein ausreichend konkretes Vorbringen dazu erstattet hätte, dass das Vergleichsergebnis insgesamt nicht nur objektiv, sondern auch offenkundig und für die Parteien leicht erkennbar ein Missverhältnis bedeutete, zeigt die Revision nicht auf.
[28] Die Klägerin geht in ihrer Argumentation zur Frage der Objektivierung der wucherischen Äquivalenzstörung bei der (angeblich) nicht geldwerten Abgabe einer Zustimmungserklärung vielmehr selbst davon aus, dass diese Leistung (zwar nur) subjektiv für den anderen Vertragspartner (aber eben doch) werthaltig sei. Der Zweck eines Vergleichs liegt vor allem in der Bereinigung einer zweifelhaften Rechtslage und damit in der Vermeidung oder Beilegung von Rechtsstreitigkeiten (9 ObA 95/22v). Erfasst ein Vergleich daher im Sinn der Argumentation der Klägerin nicht oder nur schwer abschätzbare Ansprüche, wird Wucher nur sehr selten gegeben sein, weil dann das subjektive Tatbestandsmerkmal der Ausbeutung durch den Vertragspartner nicht verwirklicht sein wird.
[29] Wenn die Klägerin in ihrer Revision dessen ungeachtet davon ausgeht, dass der Beklagte das Missverhältnis der Leistungswerte gekannt hat oder kennen hätte müssen, weicht sie in unzulässiger Weise (RS0043312) vom festgestellten Sachverhalt ab.
3.3. Das Berufungsgericht ist mit seiner Beurteilung, „auch sonst“ sei im Verfahren kein wucherisches Missverhältnis hervorgekommen, – entgegen der Behauptung der Klägerin – nicht von der einschlägigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen.
[31] Es trifft zwar zu, dass der Wert der Leistungen aus einem Vergleich (auch) anhand des (potentiellen) Prozessrisikos und damit der Stichhaltigkeit der jeweiligen Rechtsstandpunkte zu bewerten ist (RS0023765; 7 Ob 50/18f). Zum einen hat das Berufungsgericht diese Einschätzung im Zusammenhang mit der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit der Verweigerung der Zustimmung aber ohnedies vorgenommen. Zum anderen lässt die Klägerin mit ihrer Argumentation, angesichts ihres sicheren vertraglichen Anspruchs auf Zustimmung sei der Wert dieser Leistung mit Null anzusetzen, wiederum außer Acht, dass die Klägerin mit dem Vergleich die sofortige Zustimmung erwirken konnte und dieser Zeitgewinn für sie nach ihrem eigenen Vorbringen zur behaupteten Zwangslage einen außerordentlichen Wert hatte.
3.4. Sind schon die Tatbestandsvoraussetzungen des auffallenden Missverhältnisses und/oder des Ausbeutens nicht ausreichend dargetan und bewiesen, erübrigt sich die Prüfung der weiteren, kumulativ geforderten Voraussetzungen für eine Anfechtung wegen Wuchers. Ob das Erstgericht nicht ohnedies schon die Zwangslage iSd § 879 ABGB Abs 2 Z 4 zu Recht verneint hat, weil allein der Entgang einer Chance auf gewinnbringende Geschäfte (9 Ob 20/10x mwN; RS0104125 [T6]) keine solche Zwangslage zu begründen vermag und andere unwiederbringliche Schäden oder Nachteile aufgrund der Verweigerung des Beklagten, dem beabsichtigten Bauvorhaben ohne Gegenleistung zuzustimmen, den Feststellungen nicht zu entnehmen sind, bedarf daher keiner Klärung.
4. Das Berufungsgericht und – diesem folgend – die Klägerin begründen die Zulässigkeit der Revision damit, dass Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu den Tatbestandsvoraussetzungen des Wuchers bei einer nicht geldwerten Leistung eines Vertragspartners, wie insbesondere der Abgabe einer Zustimmungserklärung fehle. Von den in der Revision in diesem Zusammenhang thematisierten allgemeinen Bewertungsfragen hängt die Entscheidung im vorliegenden Fall aber – wie gezeigt – nicht ab; diesen kommt hier vielmehr nur theoretische Bedeutung zu. Die Beantwortung abstrakter Rechtsfragen ist nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofs (5 Ob 77/22t; RS0111271 [T2]; RS0088931).
[34] Allein der Umstand, dass ein gleichgelagerter (oder vergleichbarer) Sachverhalt vom Obersten Gerichtshof noch nicht beurteilt worden sein mag, bedeutet noch nicht, dass die Entscheidung von der Lösung einer iSd § 502 Abs 1 ZPO erheblichen Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt. Das gilt insbesondere, wenn der Streitfall – wie hier – mit Hilfe bereits vorhandener Leitlinien höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann und vom Berufungsgericht auch so gelöst wurde (5 Ob 239/21i [Rz 14] mwN).
5. Die Klägerin begründet die Zulässigkeit der Revision zudem damit, dass das Berufungsgericht (im Zusammenhang mit der Beurteilung der Rechtsmissbräuchlichkeit und Stichhaltigkeit des Prozessstandpunkts des Beklagten) die Zustimmungsverpflichtung im Wohnungseigentumsvertrag methodisch unrichtig und im Ergebnis unvertretbar ausgelegt habe.
[36] Entgegen der Auffassung der Klägerin entspricht es der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass eine im Wohnungseigentumsvertrag erteilte Vorwegzustimmung nach den §§ 914 f ABGB auszulegen ist. Sind einer solchen Vereinbarung die Grenzen baulicher Veränderungen nicht ausdrücklich zu entnehmen und ergeben sie sich auch nicht aus der dem Erklärungsgegner erkennbaren Absicht des Erklärenden, können die für die rechtsgestaltende Entscheidung solcher Streitigkeiten unter Miteigentümern und Wohnungseigentümern bestehenden Regeln – insbesondere die Grundsätze des § 16 Abs 2 WEG – als Mittel ergänzender Auslegung herangezogen werden, um den Vertrag so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht (RS0083047; vgl auch RS0083017).
[37] Eine vertragliche Vereinbarung ist stets unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls auszulegen. Diese Auslegung könnte nur dann eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO aufwerfen, wenn dem Berufungsgericht eine auffallende Fehlbeurteilung unterlaufen wäre (RS0042936; RS0042776). Das gilt auch für die Auslegung des Umfangs einer Zustimmungserklärung eines Wohnungseigentümers zu beabsichtigten baulichen Maßnahmen (5 Ob 30/17y; RS0083047 [T1]). Eine aus Gründen der Rechtssicherheit ausnahmsweise aufzugreifende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zeigt die Revision nicht auf.
6. Die Vorinstanzen haben die Vereinbarung vom zutreffend als (außergerichtlichen) Vergleich iSd § 1380 ABGB qualifiziert (vgl RS0032681; RS0032654). Ein „redlich errichteter“, sprich nicht durch List, Zwang oder Drohung beeinflusster Vergleich kann gemäß § 1386 ABGB nicht wegen laesio enormis (§§ 934 f ABGB) angefochten werden.
[39] Abgesehen davon verstößt die erstmals in der Revision ausreichend konkretisierte Anfechtung der Vereinbarung wegen laesio enormis (§ 934 ABGB) gegen das Neuerungsverbot und ist daher im Revisionsverfahren unbeachtlich (RS0042025).
7. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte hat in seiner Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0112296).
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ECLI: | ECLI:AT:OGH0002:2023:0050OB00104.22P.0123.000 |
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