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VwGH 05.09.2023, Ra 2022/11/0204

VwGH 05.09.2023, Ra 2022/11/0204

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der R M in S, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/2/23, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W162 2260603-1/3E, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses und Festsetzung des Grades der Behinderung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom stellte die belangte Behörde der Revisionswerberin gemäß § 40, 41 und 45 Bundesbehindertengesetz (BBG) einen Behindertenpass aus, in dem der Grad der Behinderung mit 70 v.H. festgesetzt wurde.

2 In Stattgabe der gegen diesen Bescheid gerichteten Beschwerde der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss unter Aufhebung des Bescheides der belangten Behörde die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zurück. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

3 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, die belangte Behörde habe lediglich das Gutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin eingeholt, das aus näher genannten Gründen als unzureichend zu erachten sei. Fallbezogen sei zwecks Feststellung des Grades der Behinderung der Revisionswerberin die Einholung von Sachverständigengutachten aus den Fachrichtungen Innere Medizin und Orthopädie jedenfalls erforderlich gewesen. Da die belangte Behörde diese fachärztlichen Gutachten nicht eingeholt habe, habe sie notwendige Ermittlungsschritte unterlassen. Der „vorliegende Sachverhalt“ erweise sich als derart mangelhaft, dass weitere Ermittlungen bzw. „konkretere“ Sachverhaltsfeststellungen unvermeidbar seien. Dass die Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre, sei angesichts des erhöhten Aufwandes, der mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbunden sei, sowie in Ansehung der im vorliegenden Fall ausstehenden Sachverhaltsermittlungen nicht ersichtlich. Überdies sei die Zurückverweisung der Angelegenheit an die belangte Behörde im Hinblick auf das gemäß § 46 BBG im Beschwerdeverfahren geltende Neuerungsverbot als zweckmäßig zu erachten.

4 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht sei von der hg. Rechtsprechung zu aufhebenden und zurückverweisenden Entscheidungen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen und habe von der genannten Bestimmung zu Unrecht Gebrauch gemacht.

5 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig und begründet.

Zunächst ist festzuhalten, dass dem Verwaltungsgericht - entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin - in der vorliegenden Konstellation insoweit nicht entgegenzutreten ist, als es davon ausging, dass die belangte Behörde mit dem vorliegenden Bescheid (Ausstellung eines Behindertenpasses) über den Antrag der Revisionswerberin auf Zusatzeintragung betreffend die Unzumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht entschieden habe und der Revisionswerberin aus diesem Grund im betreffenden Umfang die Möglichkeit einer Säumnisbeschwerde zur Verfügung stehe. In ihrer der Bescheiderlassung unmittelbar vorangegangenen Mitteilung an die Revisionswerberin vom hielt die belangte Behörde nämlich explizit fest, dass sie über den Antrag betreffend die fragliche Zusatzeintragung nicht absprechen werde. In diesem Zusammenhang ist zudem darauf hinzuweisen, dass unter der von der belangten Behörde in ihrer Mitteilung vom zum Ausdruck gebrachten Annahme, dass die Voraussetzungen für eine stattgebende Erledigung des betreffenden Antrags auf Zusatzeintragung nicht vorlägen, über den diesbezüglichen Antrag der Revisionswerberin mittels Bescheid abweisend abzusprechen wäre.

7 Der Vorwurf der Revision, das Verwaltungsgericht sei von der hg. Judikatur abgewichen, trifft allerdings aus dem nachstehenden Grund zu: Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Zurückverweisung einer Rechtssache an die Verwaltungsbehörde eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung der Sache, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (siehe etwa , mwN). Insbesondere hat der Verwaltungsgerichtshof u.a. in Zusammenhang mit dem in § 28 Abs. 2 Z 2 VwGVG genannten „Interesse der Raschheit“ festgehalten, dass die Anordnung der Ergänzung eines Sachverständigengutachtens vom Verwaltungsgericht vorzunehmen ist, weil dies im Interesse der Raschheit liegt (vgl. [=VwSlg. 19039/A], mwN). Selbst die Notwendigkeit der Einholung eines weiteren Gutachtens rechtfertigt die Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG im Allgemeinen nicht (vgl. , mwN).

8 Gegenständlich legt der angefochtene Beschluss nicht dar, dass im Sinn der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung eine Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde gerechtfertigt wäre. Bei den vom Verwaltungsgericht angenommenen Mängeln handelt es sich nicht um krasse bzw. besonders gravierende Ermittlungslücken im oben dargestellten Sinn. Weder hat die belangte Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen, noch ist davon auszugehen, dass die Klärung der vom Verwaltungsgericht als offen angesehenen Fragen besonders schwierige und umfangreiche Ermittlungen erforderte. Schon aus diesem Grund lagen die Voraussetzungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht vor. Vielmehr wären die vom Verwaltungsgericht als ausständig erachteten fachärztlichen Gutachten durch das Verwaltungsgericht selbst einzuholen gewesen.

9 Des Weiteren wurde das im angefochtenen Beschluss herangezogene Argument, demzufolge das Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren mit einem - im angefochtenen Beschluss zudem nicht näher spezifizierten und im vorliegenden Fall nicht auf der Hand liegenden - erhöhten Aufwand verbunden sei, in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bereits verworfen und als untauglich angesehen, eine Behebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu rechtfertigen (vgl. ; , Ra 2022/11/0164).

Wenn das Verwaltungsgericht auf § 46 BBG verweist, ist ebenfalls nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund diese Bestimmung für die Rechtmäßigkeit der vom Verwaltungsgericht gewählten Vorgangsweise nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG sprechen sollte. So erachtete der Verfassungsgerichtshof das in § 46 BBG festgelegte Neuerungsverbot, durch das verhindert werden soll, dass der Behindertenpasswerber im verwaltungsgerichtlichen Verfahren etwas vorbringt bzw. vorlegt, das nicht bereits Gegenstand des verwaltungsbehördlichen Verfahrens war, im Sinne einer Strukturierung des Verfahrens und der Verfahrensökonomie sowohl im Lichte des Rechtsstaatsprinzips als auch des Art. 136 Abs. 2 B-VG als gerechtfertigt bzw. erforderlich. Zudem steht es dem Behindertenpasswerber, wenn das Bundesverwaltungsgericht ein eigenes Sachverständigengutachten einholt, im Rahmen des ihm seitens des Bundesveraltungsgerichtes einzuräumenden rechtlichen Gehörs ohnehin offen, diesem Gutachten, etwa auch durch Beibringung eines Sachverständigengutachtens, entgegenzutreten ( VfSlg. 20515). Somit ist auch nicht erkennbar, dass für den Revisionswerber aus der Einholung der für geboten erachteten Gutachten durch das Verwaltungsgericht selbst (wie von der hg. Judikatur grundsätzlich vorgegeben) ein Nachteil entstünde.

Der angefochtene Beschluss erweist sich daher als mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

10 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

11 Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Gemäß § 51 BBG war die Revision von der Eingabengebühr nach § 24a VwGG befreit.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022110204.L00

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