VfGH 17.09.2024, E2212/2023
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssatz
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Normen | B-VG Art 7 Abs1 EStG 1988 §34, §35 Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl 303/1996 idF BGBl II 91/1998 §4 VfGG §7 Abs2 |
Rechtssatz | Die Beschwerdeführerin leidet seit längerer Zeit an einer fortdauernden körperlichen Beeinträchtigung, für die die medizinische Notwendigkeit einer regelmäßigen Behandlung zur Stabilisierung und Verbesserung der Mobilität im ärztlichen Gutachten vom festgestellt worden ist und für die sie auch fortlaufend Therapien in Anspruch genommen hat. Das Bundesfinanzgericht (BFG) verletzt den Gleichheitsgrundsatz, wenn es einem medizinischen Attest zur Notwendigkeit der regelmäßigen Behandlung aus dem Jahr 2021 die Eignung eines Nachweises deshalb abspricht, weil dieses nicht zu Beginn der vergleichbaren, weiteren – im Jahr 2020 durchgeführten – Behandlung eingeholt worden sei. Da offensichtlich die Notwendigkeit einer regelmäßigen Behandlung bestanden hat, kann einem nach erfolgter Behandlung gleichsam die fortdauernde Notwendigkeit vergleichbarer Behandlungen bestätigenden Attest die Eignung eines Nachweises, zumindest aber einer Glaubhaftmachung der Notwendigkeit nicht ohne weitere Feststellungen abgesprochen werden. Auch ist die Auffassung des BFG, die vorgelegten Befundberichte seien als bloße "ärztliche Empfehlungen" zu werten, mit denen der Nachweis der medizinischen Notwendigkeit nicht erbracht werden konnte, nicht nachvollziehbar, zumal diese Würdigung dem Inhalt der Befundberichte widerspricht. |
Entscheidungstext
Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung durch die Nichtberücksichtigung von Aufwendungen für Heilhandlungen als außergewöhnliche Belastung ohne Selbstbehalt in der Arbeitnehmerveranlagung; Nachweis der Notwendigkeit der – mit jenen aus den Vorjahren vergleichbaren – regelmäßigen Behandlungen durch ein medizinisches Attest ausreichend
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 Abs1 B-VG) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin beantragte in ihrer Arbeitnehmerveranlagung 2020 Kosten von Heilbehandlungen (für Massagen und Osteopathie-Behandlungen) als außergewöhnliche Belastung ohne Selbstbehalt zu berücksichtigen.
2. Mit Bescheid des Finanzamtes Österreich vom wurde für das Veranlagungsjahr 2020 der Freibetrag gemäß §35 Abs3 EStG 1988 im Ausmaß von € 599,– sowie der Pauschbetrag nach der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen wegen eigener Behinderung (für KFZ) iHv € 2.280,– berücksichtigt. Die Aufwendungen für Heilbehandlungen (Massagen und Osteopathie-Behandlungen) wurden hingegen nicht berücksichtigt, weil die Zwangsläufigkeit der Behandlungen nicht nachgewiesen worden sei.
3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Bundesfinanzgericht mit Erkenntnis vom als unbegründet abgewiesen.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
5. Das Bundesfinanzgericht und das Finanzamt Österreich haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II. Rechtslage
1. §34 des Bundesgesetzes vom über die Besteuerung des Einkommens natürlicher Personen (Einkommensteuergesetz 1988 – EStG 1988), BGBl 400, idF BGBl I 103/2019 lautet:
"Außergewöhnliche Belastung
§34. (1) Bei der Ermittlung des Einkommens (§2 Abs2) eines unbeschränkt Steuerpflichtigen sind nach Abzug der Sonderausgaben (§18) außergewöhnliche Belastungen abzuziehen. Die Belastung muß folgende Voraussetzungen erfüllen:
1. Sie muß außergewöhnlich sein (Abs2).
2. Sie muß zwangsläufig erwachsen (Abs3).
3. Sie muß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigen (Abs4).
Die Belastung darf weder Betriebsausgaben, Werbungskosten noch Sonderausgaben sein.
(2) Die Belastung ist außergewöhnlich, soweit sie höher ist als jene, die der Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse erwächst.
(3) Die Belastung erwächst dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihr aus tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann.
[(4)-(5)…]
(6) Folgende Aufwendungen können ohne Berücksichtigung des Selbstbehaltes abgezogen werden:
– Aufwendungen zur Beseitigung von Katastrophenschäden, insbesondere Hochwasser-, Erdrutsch-, Vermurungs- und Lawinenschäden im Ausmaß der erforderlichen Ersatzbeschaffungskosten.
– Kosten einer auswärtigen Berufsausbildung nach Abs8.
– Mehraufwendungen des Steuerpflichtigen für Personen, für die gemäß §8 Abs4 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 erhöhte Familienbeihilfe gewährt wird, soweit sie die Summe der pflegebedingten Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.
– Aufwendungen im Sinne des §35, die an Stelle der Pauschbeträge geltend gemacht werden (§35 Abs5).
– Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung, wenn die Voraussetzungen des §35 Abs1 vorliegen, soweit sie die Summe pflegebedingter Geldleistungen (Pflegegeld, Pflegezulage, Blindengeld oder Blindenzulage) übersteigen.
Der Bundesminister für Finanzen kann mit Verordnung festlegen, in welchen Fällen und in welcher Höhe Mehraufwendungen aus dem Titel der Behinderung ohne Anrechnung auf einen Freibetrag nach §35 Abs3 und ohne Anrechnung auf eine pflegebedingte Geldleistung zu berücksichtigen sind.
[(7)-(8)…]"
2. §4 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl 303/1996, idF BGBl II 91/1998 lautet:
"§4. Nicht regelmäßig anfallende Aufwendungen für Hilfsmittel (zB Rollstuhl, Hörgerät, Blindenhilfsmittel) sowie Kosten der Heilbehandlung sind im nachgewiesenen Ausmaß zu berücksichtigen."
III. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungs-sphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechts-lage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesfinanzgericht unterlaufen.
3.1. Das Bundesfinanzgericht hat die Abweisung der Beschwerde wie folgt begründet:
3.1.1. Nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichtes habe die Beschwerdeführerin laut ihrer Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung die tatsächlichen Kosten aus dem Titel der Behinderung als außergewöhnliche Belastungen geltend gemacht. Im Jahr 2020 habe sie für Massagen € 2.901,– und für osteopathische Behandlungen € 240,– bezahlt. Die Höhe dieser Krankheitskosten stünde außer Streit. Auf Grund des festgestellten Grades der Behinderung von 70 % sei die zu den §§34 und 35 EStG 1988 ergangene Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen anzuwenden. Nach §4 dieser Verordnung seien die Kosten der Heilbehandlung im nachgewiesenen Ausmaß zu berücksichtigen.
3.1.2. Im Zuge des Abgabenverfahrens habe die Beschwerdeführerin Befundberichte (einer praktischen Ärztin vom sowie eines Facharztes vom ) übermittelt. Diese Befundberichte attestierten, dass regelmäßige physiotherapeutische Behandlungen mit Massagen aus ärztlicher Sicht zur Stabilisierung der Beschwerden und Verbesserung der Mobilität notwendig seien.
3.1.3. Die Beschwerdeführerin habe jedoch keine vor Beginn der für das Jahr 2020 in Anspruch genommenen Heilbehandlungen ausgestellten ärztlichen Verordnungen vorgelegt. Die medizinische Notwendigkeit der in Rede stehenden Massagen sowie der Osteopathie-Behandlungen im Jahr 2020 sei damit nicht nachgewiesen worden. Beweiswürdigend führt das Bundesfinanzgericht dazu Folgendes aus:
"Da von der praktischen Ärztin der Befundbericht am erstellt wurde, lässt sich aus diesem nicht ableiten, ob bzw dass im Jahr zuvor die medizinische Notwendigkeit für die Inanspruchnahme der Massagen bestanden hatte, zumal dieser Befundbericht auch die wortgleiche Textierung wie das – bereits fünf Jahre zuvor verfasste - fachärztliche Gutachten vom enthält ('regelmäßige physiotherapeutische Behandlungen mit Massagen sind aus ärztlicher Sicht zur Stabilisierung der Beschwerden und der Verbesserung der Mobilität notwendig')."
3.1.4. Nach Auffassung des Bundesfinanzgerichtes sei eine vor Therapiebeginn ausgestellte ärztliche Verordnung zum Nachweis der medizinischen Notwendigkeit erforderlich. Dem liege der Gedanke zugrunde, "wonach einer nachträglich erstellten Verordnung nicht jener Wahrheitsgehalt bzw jene Glaubwürdigkeit zukommt, als wenn die Verordnung bereits im Vorhinein erfolgt wäre. Dies gilt umso mehr für eine nachträglich ausgestellte ärztliche Empfehlung". Das Bundesfinanzgericht führt dazu ferner aus:
"Die im Befundbericht vom enthaltene Formulierung 'regelmäßige physiotherapeutische Behandlungen mit Massagen sind aus ärztlicher Sicht zur Stabilisierung der Beschwerden und der Verbesserung der Mobilität notwendig' enthält und übernimmt damit die wortgleiche Textierung des fachärztlichen Gutachten[s] vom . Weder das im Jahr 2016 erstellte fachärztliche Gutachten noch das am von der praktischen Ärztin verfasste Attest sind als medizinische ärztliche Verordnung zu beurteilen, sondern als ärztliche Empfehlung zu werten. Beide vermögen nicht die im Jahr 2020 vorgelegene medizinische Notwendigkeit der Massagen zu bescheinigen. So stammt die Empfehlung aus dem fachärztlichen Gutachten aus dem Jahr 2016, sodass sich die Befunderstellung und der Therapievorschlag zudem auf einen vier Jahre vor dem Streitjahr liegenden Zeitraum bezieht. Ebenso unstrittig ist auch, dass das ärztliche Attest der praktischen Ärztin im Nachhinein über Abverlangen des Finanzamtes im Nachhinein erstellt wurde."
Mangels vor Beginn der in Rede stehenden Heilbehandlungen eingeholten ärztlichen Verordnungen sei der Beschwerdeführerin die – für die Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastung erforderliche – Nachweisführung bzw Glaubhaftmachung der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlungen im Streitjahr 2020 nicht gelungen. Zudem werde die Vornahme von Osteopathie-Behandlungen in den von der Beschwerdeführerin übermittelten Befunden überhaupt nicht angesprochen.
3.1.5. Der Umstand, dass auch weder seitens des Sozialversicherungsträgers noch von anderer Seite Ersätze geleistet worden seien, sei als weiteres Anzeichen dafür zu werten, dass die medizinische Notwendigkeit der in Streit stehenden Behandlungen nicht belegt sei. Die Beschwerdeführerin habe somit nicht den Nachweis erbracht, dass die Massagen sowie die Therapiestunden durch den Osteopathen im Jahr 2020 medizinisch notwendig gewesen wären.
3.2. Mit dieser Begründung hat das Bundesfinanzgericht die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt:
3.2.1. Zu den als außergewöhnliche Belastung abzugsfähigen Krankheitskosten zählen nur Aufwendungen für solche Maßnahmen, die zur Heilung oder Linderung einer Krankheit nachweislich notwendig sind (). Werden die angefallenen Aufwendungen nicht zum Teil von einem Träger der gesetzlichen Sozialversicherung übernommen, ist zum Nachweis der Notwendigkeit nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes () ein ärztliches Zeugnis oder ein Gutachten erforderlich.
3.2.2. Im vorliegenden Fall leidet die Beschwerdeführerin seit längerer Zeit an einer fortdauernden körperlichen Beeinträchtigung, für die die medizinische Notwendigkeit einer regelmäßigen Behandlung zur Stabilisierung und Verbesserung der Mobilität im ärztlichen Gutachten vom festgestellt worden ist und für die sie auch fortlaufend Therapien in Anspruch genommen hat.
3.2.3. In einem solchen Fall verletzt das Bundesfinanzgericht den Gleichheitsgrundsatz, wenn es einem medizinischen Attest zur Notwendigkeit der regelmäßigen Behandlung aus dem Jahr 2021 die Eignung eines Nachweises deshalb abspricht, weil dieses nicht zu Beginn der vergleichbaren, weiteren – im Jahr 2020 durchgeführten – Behandlung eingeholt worden sei. Da offensichtlich die Notwendigkeit einer regelmäßigen Behandlung bestanden hat, kann einem nach erfolgter Behandlung gleichsam die fortdauernde Notwendigkeit vergleichbarer Behandlungen bestätigenden Attest die Eignung eines Nachweises, zumindest aber einer Glaubhaftmachung der Notwendigkeit nicht ohne weitere Feststellungen abgesprochen werden. Auch ist die Auffassung des Bundesfinanzgerichtes, die vorgelegten Befundberichte seien als bloße "ärztliche Empfehlungen" zu werten, mit denen der Nachweis der medizinischen Notwendigkeit nicht erbracht werden konnte, nicht nachvollziehbar, zumal diese Würdigung dem Inhalt der Befundberichte widerspricht.
4. Indem das Bundesfinanzgericht den nach Behandlungsbeginn vorgelegten Befunden die Eignung eines Nachweises abgesprochen hat, belastet es vor dem Hintergrund des zu beurteilenden Sachverhaltes sein Erkenntnis mit Willkür.
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbingen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von € 240,– enthalten.
Zusatzinformationen
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Normen | B-VG Art 7 Abs1 EStG 1988 §34, §35 Verordnung des Bundesministers für Finanzen über außergewöhnliche Belastungen, BGBl 303/1996 idF BGBl II 91/1998 §4 VfGG §7 Abs2 |
Schlagworte | Veranlagung (Einkommensteuer), Behinderte, Steuerbefreiungen |
ECLI | ECLI:AT:VFGH:2024:E2212.2023 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
GAAAF-84698