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OGH 24.05.2022, 10Ob24/22k

OGH 24.05.2022, 10Ob24/22k

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj E* und 2. mj Y*, beide geboren * 2019, *, beide vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, Am Bischofteich 1, 3100 St. Pölten), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 69/22b, 23 R 70/22z-48, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 1 Pu 184/19s-34 und 1 Pu 184/19s-35, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Akten werden dem Erstgericht mit dem Auftrag zurückgestellt, jeweils eine Ausfertigung der Entscheidung des Erstgerichts, der Rekursentscheidung und dieser Entscheidung dem Vater R*, Türkei, samt Rechtsmittelbelehrung zur allfälligem Erhebung eines Revisionsrekurses sowie jeweils eine Gleichschrift des Revisionsrekurses des Bundes dem Vater, der Mutter und dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder samt entsprechender Belehrung zur allfälligen Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zuzustellen sowie die Akten nach Erstattung eines Revisionsrekurses bzw einer Revisionsrekursbeantwortung oder nach fruchtlosem Verstreichen der Frist erneut dem Obersten Gerichtshof vorzulegen.

Text

Begründung:

[1] Mit Beschluss des Erstgerichts vom (ON 21) wurde die Unterhaltsverpflichtung des in der Türkei wohnhaften Vaters ab mit monatlich 85 EUR je Kind festgesetzt. Der Vater beteiligte sich nicht am Unterhaltsverfahren; die Entscheidung des Erstgerichts wurde ihm aufgrund
eines Zustellersuchens nach dem Haager Zustellungsübereinkommen am zugestellt (ON 30).

[2] Mit den nunmehr angefochtenen Beschlüssen gewährte das Erstgericht den Kindern von bis einen monatlichen Unterhaltsvorschuss von jeweils 85 EUR.

[3] Das Erstgericht stellte diese Beschlüsse dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter und der Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, nicht aber dem Vater zu.

[4] Gegen die Beschlüsse des Erstgerichts erhob die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien Rekurs und führte darin aus, dass beide Elternteile und die Kinder türkische Staatsangehörige seien, sodass die Kinder keinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hätten; die Mutter beziehe lediglich bedarfsorientierte Mindestsicherung und sei somit zwar krankenversichert, aber in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst.

[5] Den Rekurs stellte das Erstgericht dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder und der Mutter zur allfälligen Rekursbeantwortung zu, nicht aber dem Vater.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs nicht Folge und ließ den Revisionsrekurs zu. Die Arbeitnehmereigenschaft der Mutter nach der Verordnung (EWG) 1408/71 leite sich ausschließlich aus dem Bestehen einer Teilversicherung ab.

[7] Die Rekursentscheidung wurde dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter und der Präsidentin des Oberlandesgerichts, nicht aber dem Vater zugestellt.

[8] Gegen die Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandegerichts Wien, mit dem Antrag auf Abweisung der Anträge der Kinder; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Bezieher einer bedarfsorientierten Mindestsicherung seien zwar krankenversichert, jedoch in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst, zumal bedarfsorientierte Mindestsicherung allen hilfsbedürftigen Personen gewährt werde, die einen dauernden Aufenthalt im Inland hätten.

[9] Die Akten wurden dem Obersten Gerichtshof im Wege des Rekursgerichts vorgelegt, ohne den Revisionsrekurs einer anderen Partei zuzustellen.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Aktenvorlage ist verfrüht.

[11] 1.1. Dem Vater wurden weder die Entscheidungen der Vorinstanzen noch die Rechtsmittel im Rekurs- und im Revisionsrekursverfahren zur allfälligen Erstattung einer Rechtsmittelbeantwortung zugestellt, was das Erstgericht nach dem Aktenvermerk vom (ON 43) mit verfahrensökonomischen Gründen und der Annahme begründete, dass der Vater (mangels Rechtskraft der Gewährung und infolge Innehaltung mit der Auszahlung der Vorschüsse) nicht beschwert sei.

[12] 1.1.1. Der Unterhaltsschuldner und die Präsidentin des Oberlandesgerichts sind im (erstinstanzlichen) Verfahren nach dem Unterhaltsvorschussgesetz nur zu hören, wenn dadurch Zweifel über das Vorliegen der Voraussetzungen geklärt werden können und das Verfahren nicht verzögert wird (§ 12 UVG). Gründe dafür, die genannten Parteien im erstinstanzlichen Verfahren vor Beschlussfassung zu hören, sind nicht ersichtlich, sodass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs insofern nicht nahe liegt.

[13] 1.1.2. Der Beschluss, mit dem Vorschüsse bewilligt werden, ist allerdings in jedem Fall den im Gesetz genannten Personen, ua also auch dem Unterhaltsschuldner zuzustellen (§ 14 UVG; ähnlich § 38 AußStrG: „allen aktenkundigen Parteien“). Der Unterhaltsschuldner ist im Hinblick auf allfällige Rückersatzansprüche des Bundes (§§ 22, 28 und 29 UVG) sowie die Verpflichtung zur Zahlung der Unterhaltsbeträge an den Träger der Kinder- und Jugendhilfe (§ 26 Abs 2 UVG) und zur Zahlung der Pauschalgebühr (§ 24 UVG) zum Rekurs dagegen berechtigt (10 Ob 71/15m [Pkt 1.1]; Neumayr in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 15 UVG Rz 9). Der in den Entscheidungen der Vorinstanzen als unterhaltspflichtig angesehene Vater hatte somit im Rekursverfahren – entgegen der gesetzlichen Vorschriften – kein rechtliches Gehör. Gründe der Verfahrensökonomie rechtfertigen diese Gehörsverletzung nicht und der Vater ist durch die (Unterhaltsvorschüsse gewährenden) Entscheidungen – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – auch vor ihrer Rechtskraft oder Auszahlung der damit gewährten Vorschüsse beschwert.

[14] 1.2.1. Damit haftet dem rekursgerichtlichen Verfahren ein Verstoß gegen § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der auch im Revisionsrekursverfahren analog § 55 Abs 3 AußStrG von Amts wegen wahrzunehmen wäre (RIS-Justiz RS0119971 [T3]).

[15] 1.2.2. Nach § 58 Abs 1 Z 1 und Abs 3 iVm § 71 Abs 4 AußStrG ist bei einem solchen schweren Verfahrensmangel vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittel oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, der bisher nicht gehörten Partei Gelegenheit zu geben, sich am Revisionsrekursverfahren zu beteiligen und ihre materiellen und/oder prozessualen Rechte geltend zu machen oder auch nicht (RS0123128). Mit Rücksicht auf § 58 Abs 2 AußStrG ist davon auszugehen, dass auch eine Beteiligung am Rechtsmittelverfahren ohne Geltendmachung der Gehörsverletzung deren Heilung bedeutet (10 Ob 18/19y [Pkt 3.2]; 5 Ob 237/09b [Pkt 3.4]).

[16] 1.3. Das Erstgericht wird daher den erstinstanzlichen Beschluss, die Rekursentscheidung (samt Rechtsmittelbelehrung) sowie die vorliegende Entscheidung nachweislich dem Vater zuzustellen haben, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, durch Erhebung eines – infolge des Ausspruchs des Rekursgerichts zulässigen – Revisionsrekurses sein rechtliches Gehör in diesem Verfahren zu wahren.

[17] 2.1. Darüber hinaus wurde der vorliegende Revisionsrekurs keiner anderen Partei zugestellt.

[18] 2.1.1. Wird ein Revisionsrekurs (oder eine Zulassungsvorstellung mit der ein ordentlicher Revisionsrekurs verbunden ist) gegen einen Beschluss erhoben, mit dem über die Sache entschieden worden ist und findet das Gericht erster Instanz keinen Grund zur Zurückweisung, so ist aber jeder anderen aktenkundigen Partei eine Gleichschrift zuzustellen (§ 68 Abs 1 AußStrG; vgl RS0120860). Diese Parteien können binnen 14 Tagen eine Beantwortung des Revisionsrekurses mittels Schriftsatzes überreichen (§ 68 Abs 1 Satz 2 AußStrG).

[19] 2.1.2. In diesem Sinn sind im Gewährungsverfahren das Kind (vertreten durch den Träger der Kinder- und Jugendhilfe), die Mutter als Zahlungsempfängerin und der Vater als Geldunterhaltsschuldner Parteien iSd § 2 Abs 1 AußStrG (RS0120860 [T12, T24]; 10 Ob 23/19h [Pkt 2.]). Auch ihnen steht es daher frei, eine Beantwortung des Revisionsrekurses des Bundes einzubringen (§ 68 Abs 1 und Abs 3 Z 2 AußStrG; 10 Ob 23/19h). Die Mutter und der Vater – nicht aber die anderen genannten Personen (§ 6 Abs 3 AußStrG) – müssten dabei durch einen Rechtsanwalt vertreten sein (§ 6 Abs 1 AußStrG).

[20] 2.2. Das Erstgericht wird daher dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter als Zahlungsempfängerin und dem Vater als Unterhaltsschuldner eine Gleichschrift des Revisionsrekurses des Bundes (soweit jeweils nötig mit entsprechender Belehrung) zuzustellen haben.

[21] 3. Erst nach Zustellung der im Verfahren ergangenen Beschlüsse an den Vater (oben Punkt 1.3.) und des Revisionsrekurses an die anderen aktenkundigen Parteien (oben Punkt 2.2.) sowie allfälligem Einlangen entsprechender Schriftsätze oder fruchtlosem Ablauf der dafür vorgesehenen Fristen wird der Akt wieder vorzulegen sein.

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj E* und 2. mj Y*, beide geboren * 2019, *, beide vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, Am Bischofteich 1, 3100 St. Pölten), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 69/22b, 23 R 70/22z-48, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 1 Pu 184/19s-34 und 1 Pu 184/19s-35, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Akten werden neuerlich dem Erstgericht mit dem Auftrag zurückgestellt, dem Vater R*, Türkei, jeweils eine Ausfertigung der Entscheidung des Erstgerichts, der Rekursentscheidung, des Beschlusses vom (ON 55) und dieser Entscheidung samt Rechtsmittelbelehrung zur allfälligen Erhebung eines Revisionsrekurses sowie eine Gleichschrift des Revisionsrekurses des Bundes samt entsprechender Belehrung zur allfälligen Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung ordnungsgemäß zuzustellen sowie die Akten nach Erstattung eines Revisionsrekurses bzw einer Revisionsrekursbeantwortung oder nach fruchtlosem Verstreichen der Frist erneut dem Obersten Gerichtshof vorzulegen.

Text

Begründung:

[1] Mit Beschluss des Erstgerichts vom (ON 21) wurde die Unterhaltsverpflichtung des in der Türkei wohnhaften Vaters ab mit monatlich 85 EUR je Kind festgesetzt. Der Vater beteiligte sich nicht am Unterhaltsverfahren; die Entscheidung des Erstgerichts wurde ihm aufgrund eines Zustellersuchens nach dem Haager Zustellungsübereinkommen am zugestellt (ON 30).

[2] Mit den nunmehr angefochtenen Beschlüssen gewährte das Erstgericht den Kindern von bis einen monatlichen Unterhaltsvorschuss von jeweils 85 EUR.

[3] Das Erstgericht stellte diese Beschlüsse dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter und der Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, nicht aber dem Vater zu.

[4] Gegen die Beschlüsse des Erstgerichts erhob die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien Rekurs und führte darin aus, dass beide Elternteile und die Kinder türkische Staatsangehörige seien, sodass die Kinder keinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen hätten; die Mutter beziehe lediglich bedarfsorientierte Mindestsicherung und sei somit zwar krankenversichert, aber in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst.

[5] Den Rekurs stellte das Erstgericht dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder und der Mutter zur allfälligen Rekursbeantwortung zu, nicht aber dem Vater.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Die Arbeitnehmereigenschaft der Mutter nach der Verordnung (EWG) 1408/71 leite sich ausschließlich aus dem Bestehen einer Teilversicherung ab.

[7] Die Rekursentscheidung wurde dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder, der Mutter und der Präsidentin des Oberlandesgerichts, nicht aber dem Vater zugestellt.

[8] Gegen die Rekursentscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandegerichts Wien, mit dem Antrag auf Abweisung der Anträge der Kinder; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Bezieher einer bedarfsorientierten Mindestsicherung seien zwar krankenversichert, jedoch in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst, zumal bedarfsorientierte Mindestsicherung allen hilfsbedürftigen Personen gewährt werde, die einen dauernden Aufenthalt im Inland hätten.

[9] Die Akten wurden dem Obersten Gerichtshof zunächst im Wege des Rekursgerichts vorgelegt, ohne den Revisionsrekurs einer anderen Partei zuzustellen.

[10] Mit Beschluss vom (ON 55 im erstgerichtlichen Akt) stellte der Oberste Gerichtshof die Akten dem Erstgericht mit dem Auftrag zurück, jeweils eine Ausfertigung der Entscheidung des Erstgerichts, der Rekursentscheidung und dieser Entscheidung dem Vater samt Rechtsmittelbelehrung zur allfälligen Erhebung eines Revisionsrekurses sowie jeweils eine Gleichschrift des Revisionsrekurses des Bundes dem Vater, der Mutter und dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder samt entsprechender Belehrung zur Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zuzustellen.

[11] In weiterer Folge stellte das Erstgericht den Revisionsrekurs des Bundes der Mutter und dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als Vertreter der Kinder zu. Es verfügte weiters die Zustellung der im Beschluss vom angeführten Zustellstücke an den Vater mit internationalem Rückschein (ON 63). Daraufhin wurden die (vom türkischen Zustelldienst nicht ausgefüllten) Formulare des internationalen Rückscheins und auch die (mit türkischen Vermerken versehenen) Rücklaufkuverts dem Erstgericht zurückgesendet; eine erfolgte Zustellung an den Vater ist darauf nicht ausgewiesen.

[12] Das Erstgericht legte die Akten „nach Entsprechen“ wieder vor.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Aktenvorlage ist weiterhin verfrüht.

[14] 1. Zur notwendigen Einbeziehung des Unterhaltsschuldners in das Verfahren (rechtliches Gehör) wird auf den Beschluss vom (ON 55) verwiesen.

[15] 2. Entgegen der offenbaren Ansicht des Erstgerichts wurden die erforderlichen Zustellungen nicht bewirkt.

[16] 2.1. Nach § 24 Abs 1 AußStrG (vgl § 10 UVG) sind grundsätzlich die Bestimmungen der Zivilprozessordnung über Zustellungen und das Zustellgesetz anzuwenden. Dementsprechend sind Zustellungen im Ausland nach den bestehenden internationalen Vereinbarungen oder allenfalls auf dem Weg, den die Gesetze oder sonstigen Rechtsvorschriften des Staates, in dem zugestellt werden soll, oder die internationale Übung zulassen, erforderlichenfalls unter Mitwirkung der österreichischen Vertretungsbehörden, vorzunehmen (§ 11 Abs 1 ZustG).

[17] 2.2. Für Zustellungen an Personen im Ausland, die nicht zu den im § 11 Abs 2 und 3 ZustG aufgezählten Empfängern (zu denen der Unterhaltsschuldner nach dem Akteninhalt nicht zählt) gehören, kann der Bundesminister für Justiz im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler durch Verordnung die Zustellung durch die Post unter Benützung der im Weltpostverkehr üblichen Rückscheine nach denjenigen Staaten zulassen, in denen die Zustellung nach § 11 Abs 1 ZustG nicht möglich oder mit Schwierigkeiten verbunden ist (§ 121 Abs 1 ZPO). Die auf dieser Grundlage erlassene Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom (BGBl 1961/10) über die Zustellung an Personen im Ausland durch die Post im gerichtlichen Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten sieht eine Zustellung durch die Post unter Benützung der im Weltpostverkehr üblichen Rückscheine in die Türkei nicht vor. Die Zulässigkeit einer Zustellung mit internationalem Rückschein ergibt sich für den vorliegenden Fall daraus somit nicht.

[18] 2.3. Die Türkei ist Mitgliedstaat des Haager Übereinkommens über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom (idF: HZÜ 1965), das für Österreich mit in Kraft trat (BGBl III 2020/137). Nach seinem Art 10 schließt dieses Übereinkommen zwar unter anderem nicht aus, dass gerichtliche Schriftstücke im Ausland befindlichen Personen unmittelbar durch die Post übersandt werden dürfen (Art 10 lit a HZÜ 1965). Dies gilt allerdings nur, sofern der Bestimmungsstaat keinen Widerspruch erklärt. Die Türkei erklärte einen solchen Widerspruch zu den in Art 10 HZÜ 1965 genannten Zustellarten jedoch am (s https://www.hcch.net/de/instruments/conventions/status-table/notifications/?csid=425&disp=resdn). Dementsprechend ist auch nach der im Intranet der Justiz aufrufbaren elektronischen Länderübersicht zum RHEZiv 2020 eine Postzustellung mit internationalem Rückschein in der Türkei nicht zulässig.

[19] 2.4. Für eine Zustellung mit internationalem Rückschein in der Türkei besteht somit keine Rechtsgrundlage, sodass die Verfügung einer solchen Zustellung durch das Erstgericht verfehlt ist. Da die internationalen Rückscheine, die im vorliegenden Fall die Zustellung an den Vater beurkunden sollten, vom türkischen Zustelldienst nicht ausgefüllt wurden und die Sendungen überdies unbehoben retourniert wurden, stellt sich die Frage, ob ein tatsächliches Zukommen gemäß § 7 ZustG eine Zustellung bewirken hätte können, hier nicht.

[20] 3.1. Von einer wirksamen Zustellung an den Vater kann daher nicht ausgegangen werden, sodass die Akten neuerlich zur Bewirkung einer ordnungsgemäßen Zustellung der an den Vater zu übermittelnden Aktenstücke zurückzustellen sind.

[21] 3.2. Informationen über die zu bewirkende Zustellung in der Türkei sind in der im Intranet der Justiz aufrufbaren elektronischen Länderübersicht zum RHEZiv 2020 (Rechtshilfe – Zustellungsersuchen – Türkei) zu finden. Hingewiesen wird außerdem auf die im Akt ersichtlichen (erfolgreichen) Zustellungen an den Vater (vgl ON 28, 29 und 30).

Entscheidungstext

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj E* und 2. mj Y*, beide geboren * 2019, beide vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, Am Bischofteich 1, 3100 St. Pölten), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom , GZ 23 R 69/22b, 23 R 70/22z-48, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts St. Pölten vom , GZ 1 Pu 184/19s-34 und 1 Pu 184/19s-35, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1] Die bei der Mutter in Österreich wohnhaften Kinder verfügen über die türkische Staatsbürgerschaft. Auch die Mutter und der in der Türkei wohnhafte Vater sind türkische Staatsangehörige.

[2] Mit Beschluss des Erstgerichts vom (ON 21) wurde die Unterhaltsverpflichtung des Vaters ab – ausgehend von einem als Hilfsarbeiter erzielbaren Einkommen – mit monatlich 85 EUR je Kind festgesetzt.

[3] Die Mutter bezieht seit bedarfsorientierte Mindestsicherung.

[4] Mit Anträgen vom (ON 31 und 32) begehrten die Kinder die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 34 Z 1 UVG mit dem Vorbringen, der Unterhaltsschuldner leiste den laufenden Unterhaltsbeitrag trotz Eintritts der Vollstreckbarkeit nicht zur Gänze; ein Antrag auf Vollstreckung nach dem Haager Unterhaltsübereinkommen sei eingebracht worden.

[5] Mit Beschlüssen je vom gewährte das Erstgericht den Kindern von bis einen monatlichen Unterhaltsvorschuss von jeweils 85 EUR (ON 34 und 35).

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge (ON 48). Die Arbeitnehmereigenschaft der Mutter nach der Verordnung (EWG) 1408/71 (im Folgenden nur VO 1408/71) leite sich ausschließlich aufgrund des Umstands einer bestehenden Teilversicherung ab. Der Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung durch die Mutter sei ausreichend, um in den Anwendungsbereich der Verordnung zu fallen. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil die jüngere Rechtsprechung in Widerspruch zur älteren Rechtsprechung stehe und eine klarstellende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs erwirkt werden solle.

[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, mit dem dieser Abweisung der Vorschussanträge der Kinder anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Der Vater hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

[10] 1.1. Der in den Entscheidungen der Vorinstanzen als unterhaltspflichtig angesehene Vater hatte im Rekursverfahren – entgegen der gesetzlichen Vorschriften – kein rechtliches Gehör. Gründe der Verfahrensökonomie rechtfertigen diese Gehörsverletzung nicht und der Vater ist durch die (Unterhaltsvorschüsse gewährenden) Entscheidungen – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – auch vor ihrer Rechtskraft oder Auszahlung der damit gewährten Vorschüsse beschwert. Damit haftet dem rekursgerichtlichen Verfahren ein Verstoß gegen § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der auch im Revisionsrekursverfahren analog § 55 Abs 3 AußStrG von Amts wegen wahrzunehmen wäre (RS0119971 [T3]).

[11] 1.2. Nach § 58 Abs 1 Z 1 und Abs 3 iVm § 71 Abs 4 AußStrG ist bei einem solchen schweren Verfahrensmangel vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittel oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, der bisher nicht gehörten Partei Gelegenheit zu geben, sich am Revisionsrekursverfahren zu beteiligen und ihre materiellen und/oder prozessualen Rechte geltend zu machen oder auch nicht (RS0123128). Mit Rücksicht auf § 58 Abs 2 AußStrG ist davon auszugehen, dass auch eine Beteiligung am Rechtsmittelverfahren ohne Geltendmachung der Gehörsverletzung deren Heilung bedeutet (10 Ob 18/19y [Pkt 3.2]; 5 Ob 237/09b [Pkt 3.4.]).

[12] 1.3. Über Aufträge des Obersten Gerichtshofs (10 Ob 24/22k vom [ON 55] und vom [ON 79]) wurde die Zustellung der Rekursentscheidung sowie des Revisionsrekurses an den Vater nachgeholt, der die Gehörsverletzung nicht geltend machte. Mangels Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung kann daher eine Aufhebung unterbleiben (vgl RS0123128 [T6]).

[13] 2. Der Revisionsrekurs macht geltend, dass Bezieher der bedarfsorientierten Mindestsicherung zwar krankenversichert, aber in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst seien, weil bedarfsorientierte Mindestsicherung allen hilfsbedürftigen Personen gewährt werde, die zu einem dauernden Aufenthalt im Inland berechtigt seien.

Dazu wurde erwogen:

[14] 2.1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss (nur), wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen unterliegen allerdings dem in Art 3 des Assoziationsratsbeschlusses (ARB) Nr 3/80 vom enthaltenen Diskriminierungsverbot und haben daher in gleicher Weise Anspruch auf Unterhaltsvorschuss wie Unionsbürger, sofern sie in einem Mitgliedstaat wohnen (10 Ob 14/09w).

[15] 2.2. Die Kinder leiten ihre Ansprüche aus ihrer Stellung als Familienangehörige (ihrer im Inland aufhältigen Mutter) ab. Für die Verwendung des ARB Nr 3/80 haben (ua) die Ausdrücke „Familienangehörige“ und „Familienleistungen“ die Bedeutung, wie sie in Art 1 VO 1408/71 definiert ist (Art 1 lit a ARB Nr 3/80).

[16] 2.2.1. Unterhaltsvorschussleistungen fallen in den sachlichen Anwendungsbereich des ARB Nr 3/80 (10 Ob 14/09w; allgemein zur VO 1408/71 s 10 Ob 13/09y und 10 Ob 36/08d mwN aus der Rsp des EuGH).

[17] 2.2.2. Der Begriff „Familienangehörige“ wird in Art 1 lit f sublit i VO 1408/71 definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl EuGH C-85/99, Offermanns, Rn 34 mwN), kommt es für die unterhaltsberechtigten Antragsteller, um in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung zu fallen, nur noch darauf an, ob sie ihre Stellung von einem Elternteil ableiten können (vgl 10 Ob 13/09y; 10 Ob 107/08w). Der persönliche Anwendungsbereich nach dem ARB Nr 3/80 ist daher eröffnet, wenn die Antragsteller als Familienangehörige eines Arbeitnehmers anzusehen sind.

[18] 2.3. Der Begriff „Arbeitnehmer“ ist in Art 1 lit b sublit i ARB Nr 3/80 definiert als jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist, und zwar vorbehaltlich der (hier irrelevanten) Einschränkungen in Anhang V Punkt A. Belgien, Absatz 1 zur VO 1408/71.

[19] Diese – weitgehend mit jener der VO 1408/71 übereinstimmende – Definition des Arbeitnehmerbegriffs des ARB Nr 3/80 erstreckt sich nach der Rechtsprechung des EuGH auf jede Person, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (EuGH C-262/96, Sürül, Rn 85). Eine Person ist demnach als Arbeitnehmer anzusehen, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, ohne dass es darauf ankommt, ob sie in einem Arbeitsverhältnis steht (EuGH C-262/96, Sürül, Rn 85; zur VO 1408/71 auch EuGH C-516/09, Borger, Rn 26, 28).

[20] 2.4. Die Mutter ist unstrittig Bezieherin der bedarfsorientierten Mindestsicherung und somit gemäß § 9 ASVG in die Krankenversicherung einbezogen (§ 1 Z 20 der Verordnung über die Durchführung der Krankenversicherung für die gemäß § 9 ASVG in die Krankenversicherung einbezogenen Personen, BGBl 1969/420 in den Fassungen BGBl II 2019/419, BGBl II 2020/536 und BGBl II 2021/529). Entgegen der im Revisionsrekurs vertretenen Rechtsansicht ist die Mutter – auch wenn sie selbst keiner unselbständigen Beschäftigung nachgeht – in dem Zweig des Systems der sozialen Sicherheit versichert, in dem unselbständig beschäftigte Personen erfasst sind. Sie ist somit als Arbeitnehmerin iSd ARB Nr 3/80 anzusehen, von der die Antragsteller in Österreich ihre Stellung als Familienangehörige ableiten können. Sie haben aufgrund des Diskriminierungsverbots in gleicher Weise Anspruch auf Unterhaltsvorschuss wie österreichische Staatsbürger (Art 3 ARB Nr 3/80).

[21] 3. Dass die Antragsteller nicht österreichische Staatsbürger sind, steht ihrem Anspruch auf Unterhaltsvorschuss somit nicht entgegen. Andere Gründe, die gegen einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss sprechen könnten, werden nicht geltend gemacht. Dem Revisionsrekurs ist somit nicht Folge zu geben.

Zusatzinformationen


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Rechtsgebiet
Zivilrecht
ECLI
ECLI:AT:OGH0002:2022:0100OB00024.22K.0524.000
Datenquelle

Fundstelle(n):
WAAAF-66235

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