VwGH 10.10.1991, 91/06/0162
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssätze
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen | |
RS 1 | "Unabwendbar" ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt objektiv von einem Durchschnittsmenschen nicht verhindert werden kann; "unvorhergesehen" ist es hingegen, wenn die Partei es tatsächlich nicht miteinberechnet hat und seinen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (Hinweis B VS , 265/75, VwSlg 9024 A/1976). |
Normen | AVG §71 Abs1 lita; VwGG §46 Abs1; |
RS 2 | Ein unverschuldetes und entweder unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis läge für den einen Beschwerdeführer rechtsfreundlich vertretenden Rechtsanwalt dann nicht vor, wenn er es an der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht der Kanzleiangestellten hätte fehlen lassen. Grundsätzlich muß in diesem Zusammenhang davon ausgegangen werden, daß die Organisation des Kanzleibetriebes eines Rechtsanwaltes so einzurichten ist, daß unter anderem auch die vollständige und fristgerechte Erfüllung von Mängelbehebungsaufträgen, die ja bereits das Vorliegen einer zumindest zum Teil nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechenden Eingabe zur Grundlage haben, gesichert erscheint. Die anwaltliche Sorgfaltspflicht umfaßt in einem solchen Fall auch die geeignete Überwachung des Fertigmachens der Postsendung zur Abgabe und die Überprüfung der Vollständigkeit der an den Verwaltungsgerichtshof in Befolgung des Verbesserungsauftrages zu übermittelnden Aktenstücke (Hinweis B , 298/79). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie VwGH B 1991/03/22 90/10/0122 2 |
Normen | AVG §71 Abs1 lita; VwGG §46 Abs1; |
RS 3 | Das Streichen des Terminvormerkes durch den Beschwerdevertreter vor der (eigentlichen) Postabfertigung, aber nach Übergabe an die Sekretärin zu diesem Zweck stellt kein Verschulden dar: Dies widerspräche nämlich einerseits der in stRsp vertretenen Auffassung des VwGH, daß der Beschwerdevertreter ohne weitere Kontrolle auf das tatsächliche Erfolgen der Postaufgabe vertrauen darf, andererseits würde die Streichung des Terminvormerkes erst nach der durchgeführten Postaufgabe in der Regel erst am nächsten Tag möglich sein; dadurch würde aber - bei Erledigung fristgebundener Schriftsätze am letzten Tag der Frist, dh in einer Vielzahl der Fälle - eine zeitgerechte (dh die rechtzeitig erfolgte Erledigung durch den Rechtsanwalt anzeigende) Streichung des Fristvormerkes nicht mehr möglich sein, diesem Vorgang seine eigentliche Funktion genommen und so eine ungleich größere Gefahrenquelle eröffnet. |
Normen | |
RS 4 | Die Zurücklassung von bereits kontrollierter, unterfertigter und fristgebundener Post im Arbeitszimmer des Beschwerdevertreters stellt gegenüber der tatsächlichen Übergabe in die körperliche Gewahrsame der Sekretärin ein höheres Gefahrenrisiko dar; dies insbesondere dann, wenn der Beschwerdevertreter unmittelbar anschließend für die restliche Dauer des Fristenlaufes Urlaub macht und daher mit einer Benützung dieses Raumes während dieser Zeit (und der Möglichkeit der rechtzeitigen Auffindung einer allenfalls "vergessenen" Postmappe) nicht gerechnet werden kann. Wenn jedoch die regelmäßige Abholung der Post von dieser Stelle zum Aufgabenbereich der Sekretärin und insoweit zur "Kanzleiroutine" gehört und diese Vorgangsweise bisher zu keinen derartigen Vorfällen geführt hat, so berechtigt auch ein insoweit allenfalls vorliegendes Organisationsverschulden des Beschwerdevertreters noch nicht zum Vorwurf einer - wiedereinsetzungsschädlichen - auffallenden Sorglosigkeit (§ 1324 ABGB). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Draxler und die Hofräte Dr. Würth und Dr. Müller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Gritsch, über den Antrag der "H-OHG" in S, vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in R, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Mängelbehebung im Beschwerdeverfahren Zl. 91/06/0109, den Beschluß gefaßt:
Spruch
Gemäß § 46 VwGG wird dem Antrag stattgegeben.
Begründung
In der zur hg. Zl. 91/06/0109 protokollierten Beschwerdesache wurde der Antragstellerin hinsichtlich ihrer vom Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG an den Verwaltungsgerichtshof abgetretenen Beschwerde mit Berichterverfügung vom die Ergänzung dieser Beschwerde in mehreren Punkten aufgetragen und hiefür eine Frist von sechs Wochen eingeräumt. Diese Verfügung wurde dem Vertreter der Antragstellerin am zugestellt, sodaß die gesetzte Frist am endete. Am langte beim Verwaltungsgerichtshof der am zur Post gegebene Mängelbehebungsschriftsatz ein.
Mit dem vorliegenden, am zur Post gegebenen Schriftsatz vom beantragt die Antragstellerin, ihr gemäß § 46 VwGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der zur Beschwerdeergänzung gesetzten Frist zu bewilligen und bringt im wesentlichen folgendes vor:
Da der Vertreter der Antragstellerin in der Woche vom 26. bis einen seit langem geplanten Urlaub anzutreten beabsichtigte, habe er den Mängelbehebungsauftrag bereits am 15. August diktiert. Dieser sei am 19. August von der Sekretärin F. in der Kanzlei geschrieben und der Antragstellerin übermittelt worden. Nach Einlangen von deren zustimmender Rückäußerung sei am 23. August (dem Freitag vor dem Urlaubsantritt des Vertreters) die "Abfertigung, Unterfertigung und Ausstempelung dieses Schriftsatzes samt allen Beilagen" erfolgt. Aufgrund des außergewöhnlich regen Kanzleibetriebes habe der "bereits abgefertigte Schriftsatz" von F. nicht mehr - wie ausdrücklich aufgetragen - noch vor Kanzleischluß um 12.00 Uhr zur Post gegeben werden können. Wegen Urlaubes der zweiten Kanzleisekretärin sei F. noch zusätzlich belastet, wenn nicht überlastet gewesen. F. sei vom Vertreter der Antragstellerin daher angewiesen worden, den Inhalt der Postmappe am folgenden Montag zu kuvertieren und zur Post zu bringen. Der Vertreter habe die Postmappe an die "für die Postabfertigung vorgesehene Stelle" gegeben, dies sei "auf dem Stuhl neben dem Glastisch im Büro" (gemeint ist damit offenbar das Arbeitszimmer des Vertreters). Es sei noch nie vorgekommen, daß der Inhalt der (in dieser Weise) vorbereiteten Postmappe nicht zur Post gebracht und aufgegeben worden wäre. Die im Terminkalender ordnungsgemäß eingetragene Frist für die Mängelbehebung () sei vom Vertreter der Antragstellerin nach Unterfertigung des "vollständig abgefertigten" Mängelbehebungsschriftsatzes (im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der Sekretärin) gestrichen worden. In der Folge "übersah bzw. vergaß" die Sekretärin F. und auch die am (dem darauffolgenden Montag) aus dem Urlaub zurückgekehrte Sekretärin die Postmappe. Auch der Konzipient des Rechtsvertreters der Antragstellerin habe von der gut sichtbar abgelegten Postmappe keine Notiz genommen, da die Postabfertigung generell durch die Kanzlei erfolgt sei. Das weisungswidrige Verhalten der Sekretärin sei für den Rechtsvertreter - im Hinblick auf die bisher einwandfreie Dienstleistung dieser Sekretärin - weder vorhersehbar noch abwendbar gewesen. Erst nach der Rückkehr aus seinem Urlaub am habe der Vertreter der Antragstellerin die vergessene Postmappe vorgefunden und die versäumte Prozeßhandlung bereits am Vormittag des durch Postaufgabe nachgeholt.
Der im Wiedereinsetzungsantrag behauptete Sachverhalt ist aufgrund der dem Antrag beigelegten eidesstättigen Erklärung der Sekretärin des Vertreters der Antragstellerin (F.) als bescheinigt anzusehen.
Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich um einen minderen Grad des Versehens handelt.
"Unabwendbar" ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt objektiv von einem Durchschnittsmenschen nicht verhindert werden kann; "unvorhergesehen" ist es hingegen, wenn die Partei es tatsächlich nicht miteinberechnet hat und seinen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (vgl. den Beschluß eines verstärkten Senates des Verwaltungsgerichtshofes vom , Slg. Nr. 9024/A), wobei ein der Partei hiebei unterlaufenes Versehen minderen Grades nach dem zweiten Satz des § 46 Abs. 1 VwGG nicht schadet. Ein minderer Grad des Versehens liegt dann vor, wenn der Wiedereinsetzungswerber oder sein Vertreter nicht auffallend sorglos gehandelt, somit nicht die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen hat (vgl. den Beschluß des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 89/08/0235, uva).
Im Gegenstandsfall wurde der Mängelbehebungsschriftsatz deshalb verspätet zur Post gegeben, weil die Sekretärin des Vertreters der Antragstellerin, der der fertige Schriftsatz eine Woche vor Ablauf der Frist mit der Weisung zur Postabfertigung übergeben wurde, diesen weisungswidrig "vergessen" und daher nicht zur Post gebracht hat.
Im Beschluß eines verstärkten Senates vom , Slg. Nr. 9226/A, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, daß das Versehen einer Kanzleibediensteten für den Rechtsanwalt (und damit für die von ihm vertretene Partei) nur dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellt, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seiner Angestellten hinreichend nachgekommen ist, sowie überhaupt die Organisation des Kanzleibetriebes eines Rechtsanwaltes so einzurichten ist, daß u.a. auch die vollständige und fristgerechte Erfüllung von Mängelbehebungsaufträgen gesichert scheint. Die anwaltliche Sorgfaltspflicht umfaßt in einem solchen Fall auch die geeignete Überwachung des Fertigmachens der Postsendung zur Abgabe, und die Überprüfung der Vollständigkeit der an den Verwaltungsgerichtshof in Befolgung des Verbesserungsauftrages übermittelten Aktenstücke (vgl. die hg. Beschlüsse vom , Zl. 83/08/0108, vom , Zl. 90/10/0122, uva.).
Der Parteienvertreter, der den Mängelbehebungsschriftsatz auf Vollständigkeit aller Beilagen kontrolliert, unterfertigt und zur Abfertigung der Sekretärin übergeben hat, verletzt aber seine anwaltliche Sorgfaltspflicht nicht etwa dadurch, daß er die sonst verläßliche, langjährige Kanzleikraft bei der Kuvertierung (vgl. dazu den Beschluß vom , Zl. 82/08/0205, und vom , Zl. 90/10/0122) oder bei der Postaufgabe (vgl. den hg. Beschluß vom , Zl. 90/12/0238 mwH) nicht persönlich überwacht. Es kann nämlich nicht als eine - unter dem Gesichtspunkt einer rationellen und arbeitsteiligen, die Besorgung abgegrenzter Aufgabenbereiche delegierenden Betriebsführung - als zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahme angesehen werden, wenn sich der Rechtsanwalt nach der Übergabe der Poststücke an die damit beauftragte Mitarbeiterin in jedem Fall noch von der tatsächlichen Durchführung der Expedierung der Sendung zu überzeugen hätte (vgl. neuerlich den bereits erwähnten Beschluß vom , Zl. 90/10/0122 unter Hinweis auf den Beschluß vom , Zl. 82/08/0205). Solche, rein technische Vorgänge kann der Rechtsanwalt daher ohne nähere Beaufsichtigung einer verläßlichen Kanzleikraft überlassen (vgl. unter anderem die hg. Beschlüsse vom , Zl. 90/13/0136, vom gleichen Tag, Zl. 90/16/0042, vom , Zl. 90/16/0143, vom , Zl. 89/03/0213, sowie die bei PICHLER, AnwBl 1990, 178 ff, insbesondere 180, zitierte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall kann die Frage, ob die Sekretärin des Vertreters der Antragstellerin (die unmittelbar nach ihrer Schulausbildung vor noch nicht ganz zwei Jahren in dessen Kanzlei eingetreten ist) schon als langjährige und verläßliche Kanzleikraft, der auch die selbständige Postabfertigung anvertraut werden durfte, angesehen werden kann, auf sich beruhen, weil ihr überdies eine ausdrückliche Weisung zur Aufgabe des Poststückes erteilt wurde und der Vertreter der Antragstellerin im Hinblick auf das bisherige dienstliche Verhalten dieser Mitarbeiterin mit der Befolgung dieser Weisung rechnen durfte, ohne daß daraus ein Verschulden des Vertreters abgeleitet werden könnte (vgl. die hg. Beschlüsse vom , Zl. 91/07/0001, und vom , Zl. 91/10/0013 mit weiteren Hinweisen, sowie PICHLER, aaO, bei FN 37).
Als Sachverhaltselemente, die ein allfälliges Verschulden des Vertreters der Antragstellerin indizieren könnten, kommen zwei Umstände in Betracht, nämlich die vom Vertreter noch vor der tatsächlichen Postaufgabe verfügte Streichung des - zunächst ordnungsgemäß eingetragenen - Terminvormerkes und der Umstand, daß er die Mappe mit dem Schriftsatz nicht der Sekretärin von Hand zu Hand übergeben, sondern auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer zurückgelassen hat, wo sie während seiner darauffolgenden Abwesenheit vergessen wurde.
Das Streichen des Terminvormerkes durch den Rechtsvertreter VOR der (eigentlichen) POSTABFERTIGUNG, aber NACH ÜBERGABE AN DIE SEKRETÄRIN zu diesem Zweck stellt kein Verschulden dar:
Dies widerspräche nämlich einerseits der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes, daß der Vertreter ohne weitere Kontrolle auf das tatsächliche Erfolgen der Postaufgabe vertrauen darf, andererseits würde die Streichung des Terminvormerkes erst NACH der durchgeführten Postaufgabe in der Regel erst am nächsten Tag möglich sein; dadurch würde aber
bei Erledigung fristgebundener Schriftsätze am letzten Tag der Frist, d.h. in einer Vielzahl der Fälle - eine zeitgerechte (d.h. die rechtzeitig erfolgte ERLEDIGUNG DURCH DEN RECHTSANWALT anzeigende) Streichung des Fristvormerkes nicht mehr möglich sein, diesem Vorgang seine eigentliche Funktion genommen und so eine ungleich größere Gefahrenquelle eröffnet.
Die Zurücklassung bereits kontrollierter, unterfertigter und fristgebundener Post im Arbeitszimmer des Vertreters der Antragstellerin stellt gegenüber der tatsächlichen Übergabe in die körperliche Gewahrsame der Sekretärin - wie der Anlaßfall zeigt - ein höheres Gefahrenrisiko dar; dies insbesondere dann, wenn - wie hier - der Vertreter unmittelbar anschließend für die restliche Dauer des Fristenlaufes Urlaub macht und daher mit einer Benützung dieses Raumes während dieser Zeit (und der Möglichkeit der rechtzeitigen Auffindung einer allenfalls "vergessenen" Postmappe) nicht gerechnet werden kann. Wenn jedoch - wie hier - die regelmäßige Abholung der Post von dieser Stelle zum Aufgabenbereich der Sekretärin und insoweit zur "Kanzleiroutine" gehört und diese Vorgangsweise bisher
wie der Vertreter der Antragstellerin unwiderlegbar behauptet - zu keinen derartigen Vorfällen geführt hat, so berechtigt auch ein insoweit allenfalls vorliegendes Organisationsverschulden des Rechtsvertreters noch nicht zum Vorwurf einer - wiedereinsetzungsschädlichen - auffallenden Sorglosigkeit (§ 1324 ABGB).
Dem rechtzeitig gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Behebung von der Beschwerde anhaftenden Mängeln war daher stattzugeben.
Zusatzinformationen
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Normen | |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:1991:1991060162.X00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
ZAAAF-64708