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VwGH 23.05.1962, 0439/60

VwGH 23.05.1962, 0439/60

Entscheidungsart: Erkenntnis

Rechtssatz


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Norm
RS 1
Unter einem Lehrverhältnis im Sinne des § 4 Abs 1 Z 2 ASVG ist nur ein Arbeitsverhältnis zu verstehen, das als Lehrverhältnis im Rahmen der Rechtsordnung eine Regelung gefunden hat, in der die in einem solchen Lehrverhältnis stehende Person ausdrücklich als Lehrling bezeichnet worden ist. Es ist somit unrichtig, jede Person, die in einem von einem Dienstgeber geführten Betrieb zur praktischen Ausbildung der eigentlichen Zweck des Beschäftigungsverhältnisses ist, als in einem Lehrverhältnis im Sinne des § 4 Abs 1 Z 2 ASVG stehend anzusehen.

Entscheidungstext

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsidenten Dr. Dietmann und die Hofräte Dr. Koprivnikar, Dr. Mathis, Dr. Härtel und Dr. Hinterauer als Richter, im Beisein des Sektionsrates Dr. Klein als Schriftführer, über die Beschwerde der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse für Arbeiter und Angestellte in Graz gegen den Bescheid des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom , Zl. II-144.500-10/59, betreffend Sozialversicherungspflicht, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird insoweit wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben, als mit ihm die Versicherungspflicht des HM in der Unfallversicherung verneint wurde. Im übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde wurde erkannt, daß HM auf Grund seiner Beschäftigung bei dem Ingenieurkonsulenten für Vermessungswesen Dipl.Ing. ES in G vom bis zum gemäß § 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 2 ASVG sowie gemäß § 1 Abs. 1 AlVG 1958 weder der Voll- noch der Arbeitslosenversicherungspflicht unterlegen und daß daher Dipl.Ing. ES nicht zur Bezahlung der ihm vorgeschriebenen Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von S 3.068,76 verpflichtet ist.

Zur Begründung wurde ausgeführt, HM sei zwar bei ES in der Zeit vom bis zum gemäß § 4 Abs. 1 und 2 ASVG in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gestanden und daher auch gemäß § 1 Abs. 1 AlVG 1958 der Arbeitslosenversicherungspflicht unterlegen. Er sei jedoch, da er vereinbarungsgemäß nur einen Monatslohn von S 130,-- bzw. S 200,-- bezogen habe, gemäß § 5 Abs. 2 ASVG von der Vollversicherung und damit auch von der Arbeitslosenversicherungspflicht (§ 1 Abs. 1 AlVG 1958) ausgenommen, wobei unter Entgelt im Sinne des § 49 Abs. 1 ASVG die Geld- und Sachbezüge zu verstehen seien, auf die der pflichtversicherte Dienstnehmer (Lehrling) aus dem Dienst(Lehr)verhältnis Anspruch habe oder die er darüber hinaus auf Grund des Dienst(Lehr)verhältnisses vom Dienstgeber oder von einem Dritten erhalte. Da ein Kollektivvertrag hinsichtlich der bei Ingenieurkonsulenten für Vermessungswesen beschäftigten Personen nicht abgeschlossen worden sei, sei als Entgelt nur der nach der mit dem Dienstnehmer getroffenen Vereinbarung tatsächlich ausbezahlte Monatslohn von S 130,-- bzw. S 200,-- anzusehen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend gemacht wird, hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Gemäß § 5 Abs. 1 Z. 2 ASVG sind von der Vollversicherung - unbeschadet einer nach § 7 oder nach § 8 ASVG eintretenden Teilversicherung - unter anderem ausgenommen Dienstnehmer hinsichtlich einer Beschäftigung, die nach Abs. 2 als geringfügig anzusehen ist. Nach § 5 Abs. 2 ASVG ist eine Beschäftigung als geringfügig im Sinne des § 5 Abs. 1 Z. 2 ASVG anzusehen, wenn dem Dienstnehmer von einem oder mehreren Dienstgebern monatlich kein höheres Entgelt als S 270,-- gebührt.

Die belangte Behörde hat als erwiesen angenommen, daß HM bei der mitbeteiligten Partei vom bis zum tätig gewesen ist, daß dieser, der über eine einschlägige Vorbildung oder Fachkenntnisse nicht verfügt habe, durch zwei bis drei Jahre hindurch als technischer Zeichner bzw. als Vermessungstechniker ausgebildet werden sollte, daß er täglich von 8 bis 12 Uhr und von 14 bis 18 Uhr gearbeitet habe, daß er in den ersten drei Monaten in die Vermessungstechnik eingeführt und in der Folge im Anfertigen von Plänen sowie in Schreib- und Feldarbeiten (Vermessungsarbeiten im Gelände) ausgebildet und überwiegend in der Kanzlei beschäftigt worden sei, daß er als Entgelt nach Vereinbarung bis Dezember 1956 monatlich S 130,-- und in der Folge monatlich S 200,-- erhalten habe. Dieser von der belangten Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegte Sachverhalt wird von der beschwerdeführenden Partei nicht bekämpft.

Wenn die belangte Behörde diesen unbestritten gebliebenen Sachverhalt dahingehend rechtlich beurteilt hat, daß HM zwar hinsichtlich seiner Beschäftigung bei der mitbeteiligten Partei an sich der Vollversicherung nach § 4 ASVG unterlegen wäre, daß er jedoch im Hinblick auf die Höhe des ihm vereinbarungsgemäß zustehenden Entgeltes nach § 5 Abs. 1 Z. 2 und Abs. 2 ASVG von dieser Vollversicherung ausgenommen war, kann ihr nicht entgegengetreten werden, da die in den angeführten Vorschriften des § 5 ASVG festgelegten Voraussetzungen für die Ausnahme von der Vollversicherung im gegenständlichen Beschwerdefalle gegeben sind.

Die belangte Behörde hat bei ihrer Entscheidung allerdings übersehen, daß HM gemäß § 7 Z. 3 lit. a ASVG hinsichtlich seiner Tätigkeit bei der mitbeteiligten Partei während des oben angeführten Zeitraumes der Versicherungspflicht in der Unfallversicherung unterlegen ist. Denn gemäß der angeführten Vorschrift sind von den im § 4 ASVG genannten Personen in der Unfallversicherung teilversichert die im § 5 Abs. 1 Z. 2 ASVG von der Vollversicherung ausgenommenen Beschäftigten.

Die beschwerdeführende Partei wendet gegen die angefochtene Entscheidung ein, die belangte Behörde habe die arbeitsrechtlichen Belange der gegenständlichen Beschäftigung völlig außer Betracht gelassen und als Vorfrage im Sinne des § 38 AVG 1950 nicht geklärt, ob und gegebenenfalls inwieweit die zwischen dem Dienstgeber und Dienstnehmer getroffene und einem Vertrage gleichzuhaltende Vereinbarung über die Höhe der Entlohnung gegen die guten Sitten verstoße und daher gemäß § 879 ABGB mit Nichtigkeit bedroht sei. Bei der Prüfung einer möglichen Sittenwidrigkeit wäre von der Tatsache auszugehen gewesen, daß HM im Rahmen eines ordnungsgemäßen Dienstverhältnisses bzw. Beschäftigungsverhältnisses Arbeitsleistungen erbracht habe, die sich nicht von den Tätigkeiten anderer Jugendlichen in gleichen oder ähnlichen Berufen unterschieden hätten, denen aber, wie es beispielsweise bei den jugendlichen Angestellten des Baugewerbes der Fall sei, ein wesentlich höheres Entgelt zustehe. HM habe eine monatliche Entlohnung von S 130,-- bis S 200,-- erhalten. Diese Entlohnung stehe in einem Mißverhältnisse zu dessen Arbeitsleistungen und den Bezügen anderer gleichwertiger Dienstnehmer. Hier liege ein auffallender Unterschied zwischen der Art und dem Ausmaße dieser Tätigkeit und der dafür gewährten Entlohnung vor, weshalb nach der Auffassung der Kasse der zwischen dem Dienstgeber und dem Dienstnehmer getroffenen Lohnvereinbarung Nichtigkeit anhafte.

Der Verwaltungsgerichtshof konnte die eben wiedergegebene Einwendung der beschwerdeführenden Partei nicht als berechtigt erkennen. Er hatte sich bereits anläßlich einer Beschwerde derselben beschwerdeführenden Partei mit einem gleichgearteten Einwande zu beschäftigen und hat in dem Erkenntnisse vom , Zl. 2171/56 (Slg. Nr. 5309/A), ausgesprochen, daß er nicht Bedenken gegen die in Literatur und Rechtsprechung vertretene Anschauung hege, daß die Niedrigkeit des Entgeltes an sich nicht die Nichtigkeit einer Vereinbarung begründe, sondern daß ein Verstoß gegen die guten Sitten in erster Linie bei Lohnwucher anzunehmen sei, somit dann, wenn das vereinbarte Entgelt in einem auffallenden Mißverhältnisse zum Wert der Dienstleistung steht und diese Vereinbarung durch eine Ausbeutung von Leichtsinn, Zwangslage, Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung eines Dienstnehmers zustandegekommen ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner ausgesprochen, daß er auch die in Literatur und Rechtsprechung vertretene Anschauung übernehme, daß ein wucherisches Geschäft nicht nichtig, sondern anfechtbar ist. Daß die angeführten Voraussetzungen für das Vorliegen von Lohnwucher in dem der vorliegenden Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsfalle tatsächlich gegeben seien, hat die beschwerdeführende Partei weder im Verwaltungsverfahren noch in den Beschwerdeausführungen behauptet. Auch die Akten des Verwaltungsverfahrens geben keine Kunde davon, daß die angeführten Voraussetzungen im Beschwerdefalle vorliegen. Wenn die belangte Behörde eine Prüfung des der Beschwerde zugrundeliegenden Rechtsfalles in der von der beschwerdeführenden Partei aufgezeigten Richtung nicht vorgenommen hat, kann darin ein rechtswidriges Verhalten der belangten Behörde nicht erblickt werden.

Die beschwerdeführende Partei bringt weiter vor, auch wenn man bei der Prüfung der Versicherungspflicht des HM von den tatsächlich gewährten Bezügen ausgehe, wäre von der belangten Behörde zu prüfen gewesen, ob HM nicht etwa im Sinne der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften als Lehrling anzusehen und als solcher gemäß § 4 Abs. 2 Z. 2 ASVG zu versichern gewesen wäre. Es sei richtig, daß zwischen Dipl.Ing. ES und HM ein gewerberechtlich gültiger Lehrvertrag nicht habe zustandekommen können. Gemäß Artikel V lit. f des Kundmachungspatentes zur Gewerbeordnung seien die Geschäfte der Ingenieure und anderer Personen, welche von der Behörde für gewisse Geschäfte besonders bestellt und in Pflicht genommen sind, von der Gewerbeordnung ausgenommen. Auch die für den streitgegenständlichen Zeitraum noch maßgebend gewesene Verordnung vom , RGBl. Nr. 77 (Ziviltechniker-Verordnung), in der zuletzt geltenden Fassung sage über die Berechtigung der Ingenieur-Konsulenten zur Haltung von Lehrlingen nichts aus. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes und des Bundesministeriums für soziale Verwaltung seien sozialversicherungsrechtlich unter Lehrlingen jedoch nicht nur die bei einem Gewerbeinhaber, sondern auch bei anderen Dienstgebern in einem Lehrverhältnisse stehenden Personen zu verstehen. Als in einem Lehrverhältnisse stehende Person und als versicherungspflichtig werde daher jede Person anzusehen sein, die in einem von einem Dienstgeber geführten Betriebe zur praktischen Ausbildung in der Betriebstätigkeit derart beschäftigt wird, daß nicht die Dienste des betreffenden Lehrlings für den Dienstgeber, sondern die Ausbildung der eigentliche Zweck des Beschäftigungsverhältnisses ist, wobei jedoch eine Pflicht zur Teilnahme an den Betriebsarbeiten und eine Eingliederung in den Betrieb bestehen müsse. Zur Begründung eines Lehrverhältnisses im Sinne des § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG sei also die tatsächliche Verwendung zur praktischen Erlernung der Erwerbstätigkeit bereits ausreichend. Der formelle Abschluß eines Lehrvertrages sei ebensowenig erforderlich wie der Umstand von Belang sein könne, ob der Dienstgeber gewerberechtlich zur Haltung von Lehrlingen befugt sei. Die gleichen Grundsätze träfen auch auf das gegenständliche Beschäftigungsverhältnis zu. Deshalb sei HM, wenn schon seine Versicherungspflicht nach § 4 Abs. 1 Z. 1 ASVG verneint werden müßte, zumindest nach § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG zu versichern gewesen.

Nach § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG sind vollversichert die in einem Lehrverhältnisse stehenden Personen (Lehrlinge). Der Verwaltungsgerichtshof muß zunächst der Behauptung der beschwerdeführenden Partei entgegentreten, daß nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Lehrlingen im Sinne der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften nicht nur die bei einem Gewerbeinhaber, sondern auch bei einem anderen Dienstgeber in einem Lehrverhältnisse stehenden Personen zu verstehen seien. Diese Behauptung entspricht nicht den Tatsachen. Der Verwaltungsgerichtshof hatte bisher noch gar nicht Veranlassung, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Die oben im Wortlaute wiedergegebene Vorschrift des § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG unterwirft Personen, die in einem Lehrverhältnisse stehen, der Vollversicherung und bezeichnet solche Personen als Lehrlinge. In weiteren Vorschriften legt das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz die Vollversicherung auch für Personen fest, die in einem sonstigen Ausbildungsverhältnisse stehen. Solche Personen werden nicht als Lehrlinge bezeichnet. Diese gesetzliche Regelung läßt erkennen, daß der Gesetzgeber unter einem Lehrverhältnis im Sinne des § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG nur ein Arbeitsverhältnis verstanden wissen will, das als Lehrverhältnis im Rahmen der Rechtsordnung eine Regelung gefunden hat, in der die in einem solchen Lehrverhältnisse stehende Person ausdrücklich als Lehrling bezeichnet worden ist. Die von der beschwerdeführenden Partei vertretene Auffassung, daß jede Person, die in einem von einem Dienstgeber geführten Betrieb zur praktischen Ausbildung in der Betriebstätigkeit derart beschäftigt wird, daß die Ausbildung der eigentliche Zweck des Beschäftigungsverhältnisses ist, als in einem Lehrverhältnis im Sinne der Vorschrift des § 4 Abs. 1 Z. 2 ASVG anzusehen sei, trifft somit nicht zu.

Es ergibt sich somit, daß der angefochtene Bescheid lediglich insoweit mit einer Rechtswidrigkeit behaftet ist, die zu seiner Aufhebung führen mußte, als mit ihm auch die Versicherungspflicht des HM in der Unfallversicherung verneint worden ist. Der angefochtene Bescheid war daher in diesem Umfange gemäß § 42 Abs. 2 lit. a VwGG 1952 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben; im übrigen war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG 1952 als unbegründet abzuweisen.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Norm
ECLI
ECLI:AT:VWGH:1962:1960000439.X00
Datenquelle

Fundstelle(n):
RAAAF-52769