VwGH 29.03.2023, Ra 2022/09/0094
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Der VfGH hat mit dem vom Bundeskanzler am in BGBl. I Nr. 21/2023 kundgemachten Erkenntnis vom , G 38/2023, u.a. die Wortfolge "Bescheide und" in § 20 Abs. 4 AuslBG idF. BGBl. I Nr. 72/2013, mit Ablauf des als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten. Ferner sprach er nach Art. 140 Abs. 7 zweiter Satz B-VG aus, dass die aufgehobene Bestimmung in den am beim BVwG anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist. Eine Ausdehnung auf die beim VwGH anhängigen Verfahren wurde nicht verfügt (vgl. demgegenüber , u.a.). Der Revisionsfall ist daher kein Anlassfall und vom VwGH noch auf Grund der alten Rechtslage zu entscheiden; eine neuerliche Anfechtung der erwähnten Wortfolge ist nicht zulässig (). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2023/09/0011 E RS 1 |
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RS 2 | Die Klärung von Tatsachenfragen und Fragen der Beweiswürdigung hat im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in der Regel nach einer Beweisaufnahme in einer mündlichen Verhandlung zu erfolgen. |
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RS 3 | § 3 des COVID-19-VwBG 2020 änderte nichts an den einfachgesetzlich in §§ 24, 25, 44 und 48 VwGVG 2014 verankerten allgemeinen Regelungen über die Durchführung mündlicher Verhandlungen. Die genannte Gesetzesbestimmung trug in Verbindung mit § 6 Abs. 1 erster Satz leg. cit. dem in Art. 6 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, welches regelmäßig die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebietet, grundsätzlich Rechnung, indem es die Regelung ermöglichte, mündliche Verhandlungen durchzuführen, soweit dies zur Aufrechterhaltung einer geordneten Verwaltungsrechtspflege unbedingt erforderlich war. In diesem Fall konnte diese gemäß § 3 letzter Satz leg. cit. auch in Abwesenheit aller anderen Beteiligten unter Verwendung geeigneter technischer Kommunikationsmittel durchgeführt werden (vgl. ). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/06/0139 E RS 2 (hier nur der erste Satz)
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Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie die Hofräte Dr. Doblinger und Mag. Feiel als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die außerordentliche Revision des A B in C, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Ringstraße 9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , L517 2250324-1/7E, betreffend Zulassung als Schlüsselkraft gemäß § 12b Z 1 Ausländerbeschäftigungsgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Linz), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Zweckänderungsantrag vom begehrte der Revisionswerber, ein iranischer Staatsangehöriger, in Hinblick auf eine mögliche Beschäftigung bei einem näher bezeichneten Unternehmen die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte“ (Sonstige Schlüsselkraft) nach § 41 Abs. 2 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz.
2 Die mit diesem Antrag gemäß § 20d Abs. 1 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) befasste vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde versagte die Zulassung als „sonstige Schlüsselkraft“ gemäß § 12b Z 1 AuslBG mit Bescheid vom . Dies begründete sie im Wesentlichen damit, dass von der erforderlichen Mindestpunkteanzahl von 55 Punkten nach Anlage C nur 50 Punkte angerechnet werden könnten. Eine Abklärung des Ersatzkraftverfahrens habe mangels Rückmeldung des Dienstgebers nicht stattfinden können.
3 In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, erstattete näheres Vorbringen zu seinen Qualifikationen und brachte vor, dass der Dienstgeber zu den Vorhalten der Behörde mit (der Beschwerde beigelegtem) E-Mail geantwortet habe.
4 Das Bundesverwaltungsgericht holte von der Fachhochschule Oberösterreich eine Auskunft über den Status des Studiums des Revisionswerbers ein.
5 Mit dem ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ergangenen angefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht sodann die Beschwerde ab. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für nicht zulässig.
6 Das Verwaltungsgericht ging dabei rechtlich zusammengefasst davon aus, dass lediglich 50 Punkte der erforderlichen 55 Mindestpunkte zu berücksichtigen gewesen seien und von der belangten Behörde das Ergebnis der durchgeführten Bewerbungsverfahren der vermittelten Ersatzkräfte nicht abschließend habe geklärt werden können. Im Ergebnis sei der Bescheid der belangten Behörde zu bestätigen und die Beschwerde abzuweisen gewesen.
7 Zum Entfall der mündlichen Verhandlung führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich gewesen sei, weil der maßgebliche Sachverhalt hinreichend durch die Aktenlage geklärt gewesen sei und durch die mündliche Erörterung keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten gewesen sei. Ferner stelle angesichts der bestehenden Corona-Pandemie die Durchführung einer Verhandlung ein Gesundheitsrisiko für alle Verhandlungsteilnehmer dar. Da für das erkennende Gericht der entscheidungserhebliche Sachverhalt feststehe und dieser keiner Ergänzung mehr bedürfe, sei auch im Hinblick auf das erhöhte Infektionsrisiko bei Verhandlungen von der Durchführung einer solchen Abstand genommen worden.
8 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht mit dem Fehlen einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung. Zudem hätten sich im gegenständlichen Fall in erster Linie Fragen der Tatsachenfeststellung und der Beweiswürdigung gestellt.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Vorweg ist festzuhalten, dass der Verfassungsgerichtshof mit dem vom Bundeskanzler am in BGBl. I Nr. 21/2023 kundgemachten Erkenntnis vom , G 38/2023, u.a., die Wortfolge „Bescheide und“ in § 20 Abs. 4 AuslBG, BGBl. Nr. 218/1975, idF BGBl. I Nr. 72/2013, mit Ablauf des als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen hat, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten. Ferner sprach er nach Art. 140 Abs. 7 zweiter Satz B-VG aus, dass die aufgehobene Bestimmung in den am beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren nicht mehr anzuwenden ist. Eine Ausdehnung auf die beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahren wurde nicht verfügt (vgl. demgegenüber , u.a.).
11 Der Revisionsfall ist daher kein Anlassfall und vom Verwaltungsgerichtshof noch auf Grund der alten Rechtslage zu entscheiden; eine neuerliche Anfechtung der erwähnten Wortfolge ist nicht zulässig (, mwN).
In der Sache:
12 Der Revisionswerber sieht die Zulässigkeit seiner Revision unter anderem darin gelegen, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Erforderlichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen sei. Schon unter diesem Aspekt ist die Revision zulässig und auch begründet.
13 Der vorliegende Fall gleicht sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht in seinen entscheidungswesentlichen Umständen insofern, als es sich beim Verfahren betreffend die Zulassung von Ausländern zu einer Beschäftigung als Schlüsselkraft um ein „civil right“ im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR , Jurisic und Collegium Mehrerau/Österreich, 62539/00; sowie EGMR , Coorplan-Jenni GmbH und Hascic/Österreich, 10523/02) handelt und die Parteien bei einer solchen Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen grundsätzlich ein Recht darauf haben, dass ihre Angelegenheit in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem in der Sache entscheidenden Gericht erörtert wird und hier weder ausschließlich rechtliche noch bloß hochtechnische Fragen zu klären waren, jenem Fall, der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2015/09/0051, zu Grunde lag und auf dessen Begründung daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird (vgl. auch ; , Ra 2020/09/0046; , Ra 2019/09/0119; , Ra 2018/09/0136).
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem bereits wiederholt ausgesprochen, dass bei einem rechtswidrigen Unterlassen einer nach Art. 6 EMRK gebotenen mündlichen Verhandlung keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen ist. Diese zu Art. 6 EMRK entwickelte Rechtsprechung findet in gleicher Weise für das auf Art. 47 GRC gestützte Recht auf mündliche Verhandlung Anwendung (vgl. auch dazu , mwN).
15 Gerade im vorliegenden Fall gab das Bundesverwaltungsgericht durch die von ihm durchgeführten schriftlichen Erhebungen zu erkennen, dass es die Aktenlage selbst noch nicht für ausreichend geklärt hielt. Zudem begründete das Verwaltungsgericht die Unzulässigkeit der Revision damit, dass sich in erster Linie Tatsachenfragen und Fragen der Beweiswürdigung gestellt hätten, womit die Lösung ausschließlich rechtlicher Fragen aber gerade nicht angenommen wurde. Die Klärung solcher Fragen hat im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aber in der Regel nach einer Beweisaufnahme in einer mündlichen Verhandlung zu erfolgen. Überdies wäre auch aufgrund der Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, die belangte Behörde habe das Ergebnis der durchgeführten Bewerbungsverfahren der vermittelten Ersatzkräfte nicht abschließend klären können, eine mündliche Verhandlung indiziert gewesen, spricht dieser Umstand doch gerade nicht für einen aufgrund der Aktenlage bereits umfänglich feststehenden Sachverhalt.
16 Wie der Verwaltungsgerichtshof schließlich bereits ebenfalls ausführte, änderte auch § 3 des Verwaltungsgerichtlichen COVID-19-Begleitgesetzes nichts an den einfachgesetzlich in den §§ 24, 25, 44 und 48 VwGVG verankerten allgemeinen Regelungen über die Durchführung mündlicher Verhandlungen (vgl. etwa ).
17 Das angefochtene Erkenntnis war somit bereits aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
18 Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | AuslBG §20 Abs4 idF 2013/I/072 AVG §37 AVG §45 Abs2 B-VG Art140 Abs1 B-VG Art140 Abs7 COVID-19-VwBG 2020 §3 MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z3 litc VwGVG 2014 §17 VwGVG 2014 §24 VwGVG 2014 §25 VwGVG 2014 §44 VwGVG 2014 §48 VwRallg |
Schlagworte | Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Allgemein authentische Interpretation VwRallg3/1 Beweiswürdigung Sachverhalt angenommener geklärter Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Verfahrensmangel Verfahrensbestimmungen Berufungsbehörde |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022090094.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
FAAAF-45953