VwGH 14.06.2022, Ra 2021/22/0128
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Das Bestehen einer bloß freundschaftlichen Beziehung ist nicht mit dem Führen eines gemeinsamen Familienlebens gleichzusetzen. |
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RS 2 | Nach der (übereinstimmenden) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes besteht das Wesen einer Lebensgemeinschaft in einem eheähnlichen Zustand, der dem typischen Erscheinungsbild des ehelichen Zusammenlebens entspricht. Dazu gehört im Allgemeinen die Geschlechts-, Wohnungs- und (vor allem) Wirtschaftsgemeinschaft, wobei aber, wie auch bei einer Ehe, das eine oder andere Merkmal weniger ausgeprägt sein oder ganz fehlen kann. Es kommt hierbei regelmäßig auf die Gesamtumstände des Einzelfalles an, wobei der Wirtschaftsgemeinschaft nach der Rechtsprechung überragende Bedeutung zukommt. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie 2003/10/0216 E RS 2 |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des A E, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich vom , LVwG-750683/22/BP/NIF, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein marokkanischer Staatsangehöriger, beantragte (gestützt auf seine am geschlossene Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin) die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
2 Mit Bescheid vom wies der Bürgermeister der Landeshauptstadt Linz diesen Antrag mit der Begründung ab, bei der Ehe des Revisionswerbers handle es sich um eine Aufenthaltsehe gemäß § 30 Abs. 1 NAG.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (Verwaltungsgericht) mit Erkenntnis vom im ersten Rechtsgang als unbegründet ab.
4 Mit hg. Erkenntnis vom , Ra 2020/22/0036, hob der Verwaltungsgerichtshof dieses Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, das Verwaltungsgericht hätte betreffend das Vorliegen einer Aufenthaltsehe nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen und nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG sowie einer Einvernahme der Ehefrau des Revisionswerbers absehen dürfen.
5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom wies das Verwaltungsgericht - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde des Revisionswerbers (erneut) als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig.
Das Verwaltungsgericht stellte (auf das Wesentlichste zusammengefasst) fest, der Revisionswerber habe zunächst einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom abgewiesen worden sei. Die nunmehrige Ehefrau habe er im Zuge ihres freiwilligen Engagements für Flüchtlinge im Jänner 2016 kennengelernt. Im Mai 2017 habe eine Beziehung begonnen, die vor allem auf die gemeinsame Freizeitgestaltung und den Erwerb der deutschen Sprache durch den Revisionswerber ausgerichtet gewesen sei. In der Folge hätten sich die Eheleute im August 2017 verlobt und auf gemeinsame Wohnungssuche begeben. Am sei der Revisionswerber freiwillig nach Marokko ausgereist. Die Hochzeit des Revisionswerbers mit seiner nunmehrigen Ehefrau sei am in Marokko erfolgt. Die Ehefrau leiste dem Revisionswerber keine regelmäßige finanzielle Unterstützung. Es bestehe zwischen den Ehegatten zwar eine extensive Kommunikation, der es jedoch - jedenfalls seitens des Revisionswerbers - am „amourösen Charakter“ mangle.
Beweiswürdigend hielt das Verwaltungsgericht fest, die Aussagen der Ehefrau in der mündlichen Verhandlung seien zwar grundsätzlich glaubhaft gewesen, sie hätten aber - mutmaßlich ungewollt - eher das Bild einer Beziehung widergespiegelt, das korrespondierend zur Aktenlage die Zweifel an einem tatsächlich angestrebten Eheleben eher noch zu erhärten geeignet gewesen sei. Im Hinblick auf die Entstehung der Beziehung im Mai 2017 kurz nach Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz sowie die kurze Zeit danach und kurz nach Zurückweisung der Revision im Asylverfahren durch den Verwaltungsgerichtshof erfolgte Verlobung im August 2017 dränge sich der Eindruck auf, „das Privatleben“ des Revisionswerbers habe auf die „negativen Ereignisse im Asylverfahren reagiert“, um dem Revisionswerber auf anderem Weg die Möglichkeit einer für ihn positiven Lösung zu verschaffen. Auch der Altersunterschied von 27 Jahren zwischen dem Revisionswerber und seiner Ehefrau verstärke diesen Eindruck. Die Ehefrau habe in der mündlichen Verhandlung auf die Frage, ob der Altersunterschied für sie eine Rolle gespielt habe, lediglich mit „Nein“ geantwortet; weitere Angaben, warum der Altersunterschied irrelevant sei, seien nicht gemacht worden. Die Ehefrau habe auch „spontan und klar“ verneint, den Revisionswerber regelmäßig finanziell zu unterstützen, was den Eindruck verstärke, dass hier keine Wirtschaftsgemeinschaft vorliege. Sehr zögerlich habe die Ehefrau erklärt, dass der Revisionswerber während der aufrechten Beziehung zunächst noch in seiner Unterkunft gewohnt habe und erst gegen Ende des Aufenthaltes zu ihr gezogen sei. Auch von einem tatsächlichen ehelichen Zusammenleben und einer Sexualgemeinschaft habe die Ehefrau nicht berichtet. Aus den Ausführungen zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten (Deutsch lernen, spazieren oder schwimmen gehen, Veranstaltungen besuchen) werde deutlich, dass sich die Ehegatten zwar nahe stünden, die Beziehung aber auf einer bloß freundschaftlichen Basis bestehe. Diesen Eindruck hätten auch die vorgelegten Chatprotokolle bestätigt, welche zwar einen regelmäßigen Austausch über die Tagesabläufe zeigten, aber auch belegten, dass die Ehefrau in die Aufrechterhaltung der Kommunikation mehr investiere und der Revisionswerber nur dann wirkliches Interesse zeige, wenn ihm seine Ehefrau Pakete oder Geld übermitteln solle oder wenn es um anstehende Gerichtstermine gehe.
Aufgrund dieses Sachverhalts sei - so das Verwaltungsgericht - der Schluss zulässig, dass eine Aufenthaltsehe im Sinn des § 11 Abs. 1 Z 4 in Verbindung mit § 30 Abs. 1 NAG (und keine, durch enge Verbundenheit und gegenseitigen Beistand geprägte eheliche Lebensgemeinschaft) und damit ein absoluter Versagungsgrund für die Erteilung eines Aufenthaltstitels vorliege.
6 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , E 424/2021, ablehnte und sie über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
7 In der Folge erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision.
8 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Vorauszuschicken ist zunächst Folgendes: Der Revisionswerber erachtet die rechtliche Beurteilung des Verwaltungsgerichtes schon deshalb als nicht nachvollziehbar, weil das Verwaltungsgericht zum einen das Entstehen einer Beziehung und damit das Führen eines gemeinsamen Familienlebens festgestellt habe, aber dennoch zum Ergebnis gekommen sei, es liege eine Aufenthaltsehe vor. Diesem Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass das Bestehen einer - wie vom Verwaltungsgericht vorliegend angenommen: bloß freundschaftlichen - Beziehung nicht mit dem Führen eines gemeinsamen Familienlebens gleichzusetzen ist, weshalb mit diesem vom Revisionswerber ins Treffen geführten Argument für sich genommen keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufgezeigt wird.
10 Der Revisionswerber wendet sich im Hinblick auf die Zulässigkeit der Revision darüber hinaus (und primär) gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes betreffend das Vorliegen einer Aufenthaltsehe.
Im Hinblick darauf erweist sich die Revision als zulässig und auch berechtigt.
11 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG ua. dann erfüllt ist, wenn sich der Ehegatte zur Erteilung eines Aufenthaltstitels auf eine Ehe beruft, obwohl kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK geführt wird. Beantragt ein Fremder die Erteilung eines Erstaufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinem Ehegatten, ist seine Absicht entscheidend, wie der angestrebte Titel genutzt werden solle. Ein formales Band der Ehe reicht nicht aus, um aufenthaltsrechtliche Wirkungen zugunsten des ausländischen Ehegatten abzuleiten (vgl. zu allem , Rn. 8, mwN).
12 Nach übereinstimmender Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes besteht eine Ehe - wie auch eine eheähnliche Lebensgemeinschaft - aus einer Geschlechts-, Wohnungs- und (vor allem) Wirtschaftsgemeinschaft, wobei aber auch bei einer Ehe das eine oder andere Merkmal weniger ausgeprägt sein oder ganz fehlen kann. Es kommt hierbei regelmäßig auf die Gesamtumstände des Einzelfalles an, wobei vor allem der Wirtschaftsgemeinschaft nach der Rechtsprechung Bedeutung zukommt (vgl. , mwN).
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG im Zusammenhang mit der Überprüfung der Beweiswürdigung nur dann vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Die Beweiswürdigung ist nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorgangs, nicht aber um die konkrete Richtigkeit handelt, sowie wenn es darum geht, ob die in diesem Denkvorgang gewürdigten Beweisergebnisse in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind (vgl. , Rn. 8, mwN).
14 Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. (vgl. bis 0130, Rn. 17, mwN).
15 Im vorliegenden Fall zeigt die Revision aus nachstehenden Gründen einen relevanten Verfahrensfehler im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung auf.
16 Das Verwaltungsgericht hält in seiner Beurteilung fest, die Ehefrau habe im Zuge ihrer Einvernahme „spontan und klar“ verneint, den Revisionswerber regelmäßig finanziell zu unterstützen. Es erfolgte allerdings keine (erkennbare) beweiswürdigende Auseinandersetzung mit der im Verhandlungsprotokoll festgehaltenen Äußerung der Ehefrau, wonach sie dem Revisionswerber, wenn er zwischendurch finanziell etwas brauche, etwas schicke. Insoweit das Verwaltungsgericht festhielt, der Revisionswerber sei erst gegen Ende seines Aufenthaltes zu seiner (späteren) Ehefrau gezogen, ist nicht ersichtlich, ob es die Aussage der Ehefrau, der Revisionswerber habe im letzten halben Jahr bei ihr gewohnt, als unglaubwürdig ansah oder ob - und bejahendenfalls aus welchen Gründen - es diesen Umstand als nicht für ein gemeinsames Familienleben sprechend angesehen hat. Die Ehefrau führte in der mündlichen Verhandlung des Weiteren an, dass sie den Revisionswerber insgesamt vier Mal in Marokko besucht habe (die letzte geplante Reise habe wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt werden müssen) und täglicher Kontakt über WhatsApp sowie regelmäßiger telefonischer Kontakt bestehe (vgl. zur Maßgeblichkeit regelmäßiger Kontakte über das Internet sowie von Besuchen des Ehepartners für die Annahme einer tatsächlich gelebten Ehe etwa erneut VwGH Ra 2019/22/0205, Rn. 12, mwN). Dem Verwaltungsgericht ist somit vorzuhalten, dass es die Angaben der Ehefrau des Revisionswerbers unzureichend in seine Beweiswürdigung einbezogen bzw. sich mit einzelnen für das Vorliegen eines Familienlebens sprechenden Umständen nicht erkennbar auseinandergesetzt hat. Zu dem vom Verwaltungsgericht begründend herangezogenen Aspekt, wonach die Ehefrau nicht von einem „tatsächlichen ehelichen Zusammenleben, inklusive Sexualgemeinschaft“ berichtet habe, ist schließlich anzumerken, dass sich dem im Akt befindlichen Verhandlungsprotokoll nicht entnehmen lässt, dass das Verwaltungsgericht diesbezügliche Fragen an die Ehefrau gerichtet hätte.
17 Die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes erweist sich daher fallbezogen als für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar.
18 Soweit der Revisionswerber moniert, das Verwaltungsgericht habe sich begründungslos über den Beweisantrag hinweggesetzt, auch ihn selbst einzuvernehmen (siehe zur Einvernahme des Antragstellers im Zusammenhang mit dem Vorliegen einer Aufenthaltsehe etwa , Rn. 16 f), ist dazu Folgendes festzuhalten: Dem vorgelegten Akt des Verwaltungsgerichtes lässt sich entnehmen, dass der Revisionswerber zu Handen seines Rechtsvertreters als Partei zur mündlichen Verhandlung geladen worden ist. Ob und inwieweit eine Vertagung der Verhandlung zur Ermöglichung der Einreise des Revisionswerbers oder allenfalls eine Einvernahme unter Verwendung technischer Einrichtungen (gemäß § 25 Abs. 6b VwGVG) beantragt oder seitens des Verwaltungsgerichtes in Erwägung gezogen wurde, lässt sich dem Akt hingegen nicht entnehmen.
19 Dessen ungeachtet war das angefochtene Erkenntnis bereits aus den oben dargestellten Erwägungen zur Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
20 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Schlagworte | Besondere Rechtsgebiete Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7 Verfahrensbestimmungen Beweiswürdigung Antrag |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021220128.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
BAAAF-45817