VwGH 24.05.2023, Ra 2021/15/0066
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | |
RS 1 | Welche gesetzlichen Wiederaufnahmegründe durch einen konkreten Sachverhalt als verwirklicht angesehen und daher als solche herangezogen werden, bestimmt bei der Wiederaufnahme von Amts wegen die gemäß § 305 BAO zuständige Behörde (vgl. , zur vergleichbaren Rechtslage vor dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013). |
Norm | BAO §303 Abs1 litb |
RS 2 | Tatsachen im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. b BAO sind ausschließlich mit dem Sachverhalt des abgeschlossenen Verfahrens zusammenhängende tatsächliche Umstände, also Sachverhaltselemente, die bei einer entsprechenden Berücksichtigung allein oder iVm dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens zu einem anderen Ergebnis als vom rechtskräftigen Bescheid zum Ausdruck gebracht geführt hätten, wie etwa Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften (vgl. , mwN). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2018/15/0097 E RS 1 |
Norm | BAO §303 Abs1 litb |
RS 3 | Zweck der Wiederaufnahme nach § 303 Abs. 1 lit. b BAO ist die Berücksichtigung von bisher unbekannten, aber entscheidungswesentlichen Sachverhaltselementen (vgl. ). Gemeint sind also Tatsachen, die zwar im Zeitpunkt der Bescheiderlassung "im abgeschlossenen Verfahren" bereits existierten, aber erst danach hervorgekommen sind (vgl. ). Das Neuhervorkommen von Tatsachen ist bei der beantragten Wiederaufnahme aus der Sicht des Antragstellers zu beurteilen (vgl. ). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/15/0105 B RS 1 (hier ohne den letzten Satz) |
Normen | |
RS 4 | Was "Sache" des Wiederaufnahmeverfahrens ist, bestimmt sich am Wiederaufnahmegrund, nicht am Sachbescheid, um dessen Wiederaufnahme es geht (vgl. ). |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser, die Hofräte Mag. Novak und Dr. Sutter sowie die Hofrätinnen Dr.in Lachmayer und Dr.in Wiesinger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Löffler, LL.M., über die Revision des Finanzamts Österreich, Dienststelle Klagenfurt, St. Veit, Wolfsberg in 9020 Klagenfurt, Siriusstraße 11, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom , Zl. RV/4100091/2021, betreffend Wiederaufnahme der Einkommensteuerverfahren 2013 bis 2015 (mitbeteiligte Partei: J A in K, vertreten durch Dr. Walter Suppan, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Alter Platz 24/I), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Das Finanzamt erließ - nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts (BFG) - Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2015, in denen es die Einkünfte der mitbeteiligten Partei aus nichtselbständiger Arbeit mit 24.638,90 € (2013), 25.033,10 € (2014) und 25.458,60 € (2015) festsetzte.
2 Nach Ergehen der Einkommensteuerbescheide 2013 bis 2015 übermittelte der Hauptverband der Sozialversicherungsträger dem Finanzamt je einen weiteren Lohnzettel für die Jahre 2013 bis 2015. In diesen Lohnzetteln wurden zusätzliche Einkünfte der mitbeteiligten Partei aus nichtselbständiger Arbeit von 1.900,84 € (2013), 1.801,48 € (2014) und 2.012,46 € (2015) ausgewiesen.
3 Das Finanzamt verfügte die Wiederaufnahme der Einkommensteuerverfahren 2013 bis 2015. Zur Begründung führte es aus, „ein Lohnzettel wurde berichtigt oder neu übermittelt“. Weiters verwies es auf die neuen Einkommensteuerbescheide, die den Hinweis enthielten, die mitbeteiligte Partei habe von mehreren Stellen Bezüge erhalten, wobei die Lohnsteuer von jedem Arbeitgeber getrennt ermittelt worden sei.
4 Die mitbeteiligte Partei brachte gegen die Wiederaufnahmebescheide 2013 bis 2015 Beschwerden ein und führte zur Begründung u.a. jeweils aus: „Der in der Begründung angeführte berichtigte oder neue Lohnzettel, aus welchem nachträglich Umstände bekannt werden, die im Veranlagungszeitraum bereits existent waren und aus denen sich eine geänderte Einkommensteuerfestsetzung ergeben sollte, liegt nicht vor. Es wird zur Begründung auf einen neu erlassenen Einkommensteuerbescheid verwiesen. Dieser nennt jedoch keine Gründe, die eine Änderung der Grundlagen des Bescheides vom [...] rechtfertigen würden.“
5 Das Finanzamt gab den Beschwerden gegen die Wiederaufnahmebescheide mit Beschwerdevorentscheidungen Folge und führte zur Begründung aus, ein zum Zeitpunkt des Ergehens des jeweiligen Erstbescheides noch nicht existenter, sondern erst später ausgefertigter Lohnzettel stelle kein neu hervorgekommenes Beweismittel dar. Auch die Übermittlung eines (neuen) Lohnzettels stelle keine Tatsache dar; erst die dem Lohnzettel zugrundeliegenden Tatsachen könnten eine Wiederaufnahme rechtfertigen. Sodann erließ das Finanzamt neue Wiederaufnahmebescheide, die es wie folgt begründete:
„Auf Grund eines nachträglich übermittelten Lohnzettels [...] wurde erstmals bekannt, dass Einnahmen in Form von geldwerten Vorteilen zugeflossen sind. Diese bisher nicht berücksichtigten geldwerten Vorteile (Sachbezug) betrifft die begünstigte Überlassung von Wohnraum [...]. Die Höhe des bis dato noch nicht bekannten Sachbezuges ist im zugleich ergehenden Einkommensteuerbescheid unter Punkt ‚Lohnzettel und Meldungen‘ zu ersehen. Die Berücksichtigung dieser Umstände ergibt einen anderslautenden neuen Einkommensteuerbescheid. [...]“
6 Die mitbeteiligte Partei erhob auch gegen die neuen Wiederaufnahmebescheide 2013 bis 2015 Beschwerden. Dies u.a. mit der Begründung, es liege eine entschiedene Rechtssache vor.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis, in dem eine ordentliche Revision für nicht zulässig erklärt wurde, hob das BFG die neuen Wiederaufnahmebescheide mit der Begründung auf, den nachträglich übermittelten Lohnzetteln und den Sachbescheiden, auf die sowohl in den ersten als auch in den zweiten Wiederaufnahmebescheiden verwiesen worden sei, sei zu entnehmen, dass die mitbeteiligte Partei in den Jahren 2013 bis 2015 zusätzliche Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt habe. Die zweite Wiederaufnahme sei demnach aus demselben Grund erfolgt wie die erste, weshalb ihr der Grundsatz ne bis in idem entgegenstehe.
8 Die gegen dieses Erkenntnis gerichtete außerordentliche Revision des Finanzamts führt zu ihrer Zulässigkeit aus, es treffe nicht zu, dass die neuerlichen Wiederaufnahmen aus demselben Grund wie die zuvor mit Beschwerdevorentscheidung aufgehobenen Wiederaufnahmen verfügt worden seien. Während die Wiederaufnahmen zunächst nur mit der Übermittlung eines neuen Lohnzettels begründet worden seien, sei in den nach Aufhebung neuerlich erlassenen Wiederaufnahmebescheiden der erforderliche Sachgrund für die Wiederaufnahme der Einkommensteuerverfahren 2013 bis 2015 angegeben worden.
9 Die mitbeteiligte Partei hat nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
12 Gemäß § 303 Abs. 1 lit. b BAO kann ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen wiederaufgenommen werden, wenn Tatsachen oder Beweismittel im abgeschlossenen Verfahren neu hervorgekommen sind und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeigeführt hätte.
13 Nach § 305 BAO steht die Entscheidung über die Wiederaufnahme der Abgabenbehörde zu, die für die Erlassung des nach § 307 Abs. 1 aufzuhebenden Bescheides zuständig war oder vor Übergang der Zuständigkeit als Folge einer Bescheidbeschwerde oder einer Säumnisbeschwerde (§ 284 Abs. 3) zuständig gewesen wäre.
14 Welche gesetzlichen Wiederaufnahmegründe durch einen konkreten Sachverhalt als verwirklicht angesehen und daher als solche herangezogen werden, bestimmt bei der Wiederaufnahme von Amts wegen die gemäß § 305 BAO zuständige Behörde (vgl. , zur vergleichbaren Rechtslage vor dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013).
15 Tatsachen im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. b BAO sind ausschließlich mit dem Sachverhalt des abgeschlossenen Verfahrens zusammenhängende tatsächliche Umstände, also Sachverhaltselemente, die bei einer entsprechenden Berücksichtigung allein oder iVm dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens zu einem anderen Ergebnis als vom rechtskräftigen Bescheid zum Ausdruck gebracht geführt hätten, wie etwa Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften (vgl. ).
16 Zweck der Wiederaufnahme nach § 303 Abs. 1 lit. b BAO ist die Berücksichtigung von bisher unbekannten, aber entscheidungswesentlichen Sachverhaltselementen (vgl. ). Gemeint sind also Tatsachen, die zwar im Zeitpunkt der Bescheiderlassung „im abgeschlossenen Verfahren“ bereits existierten, aber erst danach hervorgekommen sind (vgl. ).
17 Was „Sache“ des Wiederaufnahmeverfahrens ist, bestimmt sich am Wiederaufnahmegrund, nicht am Sachbescheid, um dessen Wiederaufnahme es geht (vgl. Stoll, BAO-Kommentar, 2954; ).
18 Das Finanzamt hat die ersten Wiederaufnahmebescheide darauf gestützt, dass Lohnzettel neu übermittelt worden seien. Den gegen die ersten Wiederaufnahmebescheide gerichteten Beschwerden - in denen ausdrücklich gerügt worden ist, dass den Wiederaufnahmebescheiden und den neu erlassenen Einkommensteuerbescheide keine Gründe zu entnehmen seien, die eine Änderung der Erstbescheide rechtfertigten - hat das Finanzamt mit Beschwerdevorentscheidungen stattgegeben, in denen zur Begründung ausgeführt wird, Lohnzettel, die nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens erstellt werden, stellten per se keine neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweismittel iSd § 303 Abs. 1 BAO dar. Damit hat das Finanzamt klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es die ersten Wiederaufnahmebescheide auf die neu übermittelten Lohnzettel und nicht etwa auf die in diesen Lohnzetteln ausgewiesenen, bisher nicht berücksichtigten geldwerten Vorteile gestützt hat.
19 Die streitgegenständlichen Wiederaufnahmebescheide hinsichtlich Einkommensteuer 2013 bis 2015 wurden auf den Zufluss von Einnahmen in Form geldwerter Vorteile gestützt. Die in den Jahren 2013 bis 2015 realisierten Einnahmen, deren Existenz dem Finanzamt erst durch die nachträglich übermittelten Lohnzettel bekannt geworden ist, stellen neu hervorgekommene Tatsachen iSd § 303 BAO dar. Indem das Finanzamt neue Wiederaufnahmebescheide erlassen und diese (erstmalig) mit dem Zufluss von ihm bisher nicht bekannten Einnahmen begründet hat, hat es nicht gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen.
20 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich nach dem Gesagten als mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021150066.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
JAAAF-45716