VwGH 09.02.2022, Ra 2021/13/0137
Entscheidungsart: Beschluss
Rechtssätze
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Norm | BAO §248 |
RS 1 | Das Beschwerderecht gegen den Bescheid über den Abgabenanspruch steht dem Haftungspflichtigen auch dann zu, wenn der betreffende Bescheid bereits vom Erstschuldner angefochten wurde, und selbst dann, wenn dazu bereits eine Entscheidung vorliegt (vgl. ). Aus § 248 BAO ergibt sich weiters, dass der zur Haftung Herangezogene jedenfalls den gegen ihn geltend gemachten Abgabenanspruch dem Grunde und der Höhe nach bekämpfen können muss (; , 98/14/0142, VwSlg 7661 F/2001). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2019/13/0060 E RS 1 (hier nur der erste Satz) |
Normen | |
RS 2 | Geht einem Haftungsbescheid (nach § 9 BAO) ein Abgabenbescheid - oder betreffend Lohnsteuer ein Haftungsbescheid nach § 82 EStG 1988 (vgl. dazu ) - voran, so ist die Behörde daran gebunden und hat sich in der Entscheidung über die Heranziehung zur Haftung grundsätzlich an den Abgabenbescheid (Haftungsbescheid) zu halten. Die Verschuldensprüfung hat dabei von der objektiven Richtigkeit der Abgabenfestsetzung auszugehen (vgl. bis 0031, mwN). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2020/13/0104 B RS 1 (hier ohne Bezugnahme auf den Haftungsbescheid nach § 82 EStG 1988) |
Normen | |
RS 3 | Gemäß § 274 Abs. 1 BAO hat über die Beschwerde eine mündliche Verhandlung u.a. dann stattzufinden, wenn es in der Beschwerde beantragt wird. Eine § 24 Abs. 4 VwGVG 2014 vergleichbare Möglichkeit des Absehens von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung ungeachtet eines diesbezüglichen Parteienantrags (vgl. zu dessen Auslegung im Lichte des Art. 47 GRC jedoch auch ) kennt § 274 BAO nicht. |
Normen | |
RS 4 | Nach der Rechtsprechung des VwGH begründet die Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch das VwG in Verletzung von § 274 BAO einen besonders gravierenden Verfahrensmangel, der im Anwendungsbereich der GRC jedenfalls zu einer Aufhebung der Entscheidung führt (vgl. - zu § 284 BAO, der Vorgängerbestimmung des § 274 BAO - ). Eine Relevanzprüfung entfällt in diesem Fall ungeachtet dessen, dass eine Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG im Allgemeinen nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses (Beschlusses) führt, wenn das VwG bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis (Beschluss) hätte kommen können, also nur dann, wenn dieser Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf die angefochtene Entscheidung sein könnte und der Revisionswerber eine solche Relevanz auch aufzuzeigen vermochte (vgl. idS auch ). |
Normen | |
RS 5 | Die Festsetzung einer Vergnügungssteuer fällt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, weil es an einem hinreichenden Bezug zum Unionsrecht - wie etwa im Fall der Umsatzsteuer - fehlt (vgl. ; , 2013/17/0217). Maßnahmen (wie auch die Vergnügungssteuer), deren einzige Wirkung es ist, (diskriminierungsfrei) zusätzliche Kosten für die betreffende Leistung zu verursachen, werden von Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit) nicht erfasst (vgl. Berlington Hungary u.a., C-98/14, Rn. 36; , Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank AG, C-625/17, Rn. 32; Vodafone Magyarorszag, C-75/18, Rn. 42). Damit ist die Anwendbarkeit der GRC auch für Haftungsverfahren betreffend derartige Abgaben zu verneinen. |
Normen | EURallg WettterminalabgabeG Wr 2016 32015L1535 Notifikations-RL Art1 62019CJ0711 Admiral Sportwetten VORAB |
RS 6 | Eine nationale Abgabenvorschrift, die eine Besteuerung des Haltens von Wettterminals vorsieht, ist keine "technische Vorschrift" iSd Art. 1 der Richtlinie (EU) 2015/1535 (, unter Hinweis auf Admiral Sportwetten GmbH, C-711/19). |
Normen | BAO §274 Abs1 Z1 EURallg MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z3 litc 12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 12010P/TXT Grundrechte Charta Art51 |
RS 7 | Außerhalb des Anwendungsbereichs der GRC stellt das Unterbleiben einer gemäß § 274 Abs. 1 Z 1 BAO beantragten mündlichen Verhandlung eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Dieser Verfahrensfehler ist jedoch kein absoluter und führt nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, wenn der Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf das angefochtene Erkenntnis sein konnte (vgl. ). (Hier: Eine Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK ist im Revisionsfall, in dem weder "civil rights" noch strafrechtliche Anklagen, sondern öffentliche Abgaben betroffen sind, nicht gegeben - vgl. , mwN; vgl. zur Haftungsinanspruchnahme ; , 99/14/0128) |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und die Hofräte MMag. Maislinger und Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schramel, über die Revision des S in B (Deutschland), vertreten durch Dr. Patrick Ruth und MMag. Daniel Pinzger, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Kapuzinergasse 8/4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG-2017/36/1286-3, betreffend Haftung gemäß § 9 BAO, den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Der Revisionswerber hat der Landeshauptstadt Innsbruck Aufwendungen in der Höhe von € 553,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid des Stadtmagistrats der Landeshauptstadt Innsbruck vom wurde - nach den Feststellungen des Landesverwaltungsgerichts Tirol (LVwG) - der X Ltd., deren alleiniger Geschäftsführer zu diesem Zeitpunkt der Revisionswerber war, gemäß §§ 13 ff Tiroler Vergnügungssteuergesetz 1982 iVm dem Gemeinderatsbeschluss vom eine Vergnügungssteuer für das Aufstellen von 21 Glücksspielautomaten in verschiedenen Räumen einer bestimmten Lokalität für den Zeitraum Oktober 2011 in der Höhe von insgesamt 8.800 € vorgeschrieben.
2 Mit Bescheid der Berufungskommission in Abgabensachen der Landeshauptstadt Innsbruck vom wurde der dagegen erhobenen Berufung - wie bereits zuvor in der Berufungsvorentscheidung - teilweise stattgegeben und die vorgeschriebene Vergnügungssteuer auf 7.040 € herabgesetzt, da die Vorschreibung für vier Glücksspielautomaten wegen Verwechslung der Aufstellungsräume aufzuheben gewesen sei.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , 2013/17/0610, als unbegründet abgewiesen.
4 Gegenüber der X Ltd. wurde weiters mit Bescheid des Stadtmagistrats der Landeshauptstadt Innsbruck vom , hinsichtlich der Vergnügungssteuer für Oktober 2011 von 7.040 € ein Säumniszuschlag von 140,80 € vorgeschrieben. Die Vorschreibung war an die X Ltd., zu Handen des Revisionswerbers, adressiert und blieb unbekämpft.
5 Der Revisionswerber wurde mit Bescheid des Stadtmagistrats der Landeshauptstadt Innsbruck vom als Geschäftsführer der X Ltd. hinsichtlich der Vergnügungssteuer für Oktober 2011 und des Säumniszuschlages zur Haftung herangezogen.
6 Der Revisionswerber erhob gegen den Haftungsbescheid Beschwerde.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis, in dem auch die Revision für unzulässig erklärt wurde, wies das LVwG die Beschwerde - nach Ergehen einer abweisenden Beschwerdevorentscheidung und Stellung eines Vorlageantrags - ab.
8 Begründend führte es - auf das Wesentliche zusammengefasst - aus, der Revisionswerber sei im Zeitpunkt der Entstehung der dem gegenständlich bekämpften Haftungsbescheid zu Grunde liegenden Abgabe (Vergnügungssteuer) sowie der Nebenansprüche (Säumniszuschlag) sowie auch im Zeitpunkt von deren Vorschreibung einziger handelsrechtlicher Geschäftsführer der X Ltd. gewesen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes habe der Vertreter, der zu einer Haftung herangezogen werde, darzutun, aus welchen Gründen ihm die Erfüllung abgabenrechtlicher Pflichten unmöglich gewesen sei, widrigenfalls die Abgabenbehörde eine schuldhafte Verletzung im Sinn des § 9 Abs. 1 BAO annehmen dürfe. Mit seinem lediglich allgemein gehaltenen Vorbringen sei vom Revisionswerber nicht im Lichte der höchstgerichtlichen Rechtsprechung dargetan worden, weshalb die Abgabe (Vergnügungssteuer) für Oktober 2011 sowie die diesbezügliche Nebengebühr bis zur Löschung der inländischen Zweigniederlassung der Abgabenschuldnerin im November 2013 nicht bezahlt worden sei. Es habe daher von der Abgabenbehörde zu Recht angenommen werden können, dass die Pflichtverletzung des Revisionswerbers als einzigen Geschäftsführers der Abgabenschuldnerin schuldhaft und für die Uneinbringlichkeit ursächlich gewesen sei.
9 Soweit vom Revisionswerber mit näheren Ausführungen vorgebracht worden sei, dass keine der Vergnügungssteuer unterfallenden Glückspielautomaten aufgestellt gewesen seien, sondern eine Anbindung an zentrale Rechner bestanden habe, sohin die der Haftung zu Grunde liegende Abgabe (Vergnügungssteuer) gegenständlich nicht bestehe, sei festzuhalten, dass der Revisionswerber - trotz Aufforderung durch die Abgabenbehörde - seiner gebotenen Mitwirkungspflicht nicht im erforderlichen Maße nachgekommen sei. Er sei dem Ermittlungsergebnis sowie der rechtlichen Beurteilung der Abgabenbehörde nicht entsprechend entgegengetreten bzw. habe das nunmehr vorgebrachte Nichtvorliegen von Nachweisen nicht glaubhaft dartun können.
10 Beweis sei durch Einsicht in die von der Abgabenbehörde vorgelegten Akten aufgenommen worden, aus denen sich ergebe, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits aufgrund der Aktenlage feststehe, sodass einem Entfall der mündlichen Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstünden.
11 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
12 Zur Zulässigkeit der Revision bringt der Revisionswerber vor, eine grundsätzliche Rechtsfrage liege vor, weil das LVwG entgegen der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe, obwohl der Revisionswerber dies (mehrfach) ausdrücklich beantragt habe. Zudem habe das LVwG eine grob fehlerhafte (antizipierende) Beweiswürdigung vorgenommen. Weiters liege eine solche auch in der Frage, ob die Bestimmung des § 18 Tiroler Vergnügungssteuergesetz 1982, idF LGB1. Nr. 24/2011, eine „technische Vorschrift“ iSd Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates darstelle.
13 Nach Einleitung des Vorverfahrens erstattete der Stadtmagistrat der Landeshauptstadt Innsbruck eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragte.
14 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
15 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
16 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
17 Gemäß § 248 BAO kann der nach Abgabenvorschriften Haftungspflichtige unbeschadet der Einbringung einer Bescheidbeschwerde gegen seine Heranziehung zur Haftung innerhalb der für die Einbringung der Bescheidbeschwerde gegen den Haftungsbescheid offenstehenden Frist auch gegen den Bescheid über den Abgabenanspruch Bescheidbeschwerde einbringen. Das Beschwerderecht gegen den Bescheid über den Abgabenanspruch steht dem Haftungspflichtigen auch dann zu, wenn der betreffende Bescheid bereits vom Erstschuldner angefochten wurde, und selbst dann, wenn dazu - wie im Revisionsfall - bereits eine Entscheidung vorliegt (vgl. , mwN).
18 Der Revisionswerber hat sich in seiner Beschwerde vom gegen seine Heranziehung als Haftungspflichtiger gewandt und die Anberaumung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt. Der Revisionswerber wäre nach § 248 BAO ebenfalls zu einer Beschwerde gegen die Abgabenansprüche berechtigt gewesen, eine Möglichkeit von der er allerdings nach der Aktenlage nicht Gebrauch gemacht hat. Sache des Verfahrens vor dem LVwG - und damit Gegenstand des Revisionsverfahrens - war ausschließlich die Frage der Rechtmäßigkeit der Heranziehung des Revisionswerbers zur Haftung für Abgabenschulden der X Ltd.
19 Durch die Abweisung der Beschwerde hat das LVwG - ungeachtet der inhaltlichen Ausführungen im Zusammenhang mit der Richtigkeit der zugrundeliegenden Abgabenbescheide und damit zum Bestand der Abgabenschuld (Vergnügungssteuer und Säumniszuschlag) - den Haftungsbescheid der Abgabenbehörde bestätigt.
20 Wenn der Revisionswerber zur Begründung der Zulässigkeit inhaltliche Einwendungen gegen die Abgabenfestsetzung, insbesondere aufgrund einer behaupteten Unionsrechtswidrigkeit des Tiroler Vergnügungssteuergesetzes 1982, erhebt, ist ihm entgegenzuhalten, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Einwendungen gegen die Richtigkeit der Abgabenfestsetzung in einem gemäß § 248 BAO durchzuführenden Abgabenverfahren und nicht im Haftungsverfahren geltend zu machen sind (vgl. , mwN). Geht einem Haftungsbescheid (nach § 9 BAO) ein Abgabenbescheid voran, so ist die Behörde daran gebunden und hat sich in der Entscheidung über die Heranziehung zur Haftung grundsätzlich an den Abgabenbescheid (Haftungsbescheid) zu halten. Die vorzunehmende Verschuldensprüfung hat dabei von der objektiven Richtigkeit der Abgabenfestsetzung auszugehen (vgl. , mwN).
21 Ebenso vermag die vom Revisionswerber gerügte Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch das LVwG keine Zulässigkeit der Revision zu begründen.
22 Gemäß § 2a BAO gelten die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, soweit sie im Verfahren der belangten Abgabenbehörde gelten. In solchen Verfahren ist das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz nicht anzuwenden (vgl. ; vgl. Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3, § 2a Anm 2).
23 Gemäß § 274 Abs. 1 BAO hat über die Beschwerde eine mündliche Verhandlung u.a. dann stattzufinden, wenn es in der Beschwerde beantragt wird. Eine § 24 Abs. 4 VwGVG vergleichbare Möglichkeit des Absehens von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung ungeachtet eines diesbezüglichen Parteienantrags (vgl. zu dessen Auslegung im Lichte des Art. 47 GRC jedoch auch ) kennt § 274 BAO nicht.
24 Der Revisionswerber hatte in der Beschwerde beantragt, „eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen“.
25 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs begründet die Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch das Verwaltungsgericht in Verletzung von § 274 BAO einen besonders gravierenden Verfahrensmangel, der im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta (GRC) jedenfalls zu einer Aufhebung der Entscheidung führt (vgl. - zu § 284 BAO, der Vorgängerbestimmung des § 274 BAO - ).
26 Eine Relevanzprüfung entfällt in diesem Fall ungeachtet dessen, dass eine Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG im Allgemeinen nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses (Beschlusses) führt, wenn das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu einem anderen Erkenntnis (Beschluss) hätte kommen können, also nur dann, wenn dieser Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf die angefochtene Entscheidung sein könnte und der Revisionswerber eine solche Relevanz auch aufzuzeigen vermochte (vgl. idS auch ).
27 Zur Anwendbarkeit der GRC verweist der Revisionswerber u.a. darauf, dass die Vergnügungssteuer gegenüber der britischen X Ltd. festgesetzt worden sei, welche sich als Lokalbetreiberin und Aufstellerin der gegenständlichen Geräte (wie auch der Revisionswerber als director der Limited und Haftungspflichtiger), einerseits auf die Dienstleistungsfreiheit, andererseits aber auch auf die Niederlassungsfreiheit berufen könne.
28 Diesem Vorbringen ist entgegenzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen hat, dass die Festsetzung einer Vergnügungssteuer nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, weil es an einem hinreichenden Bezug zum Unionsrecht - wie etwa im Fall der Umsatzsteuer - fehlt (vgl. ; , 2013/17/0217). Maßnahmen (wie auch die hier vorliegende Vergnügungssteuer), deren einzige Wirkung es ist, (diskriminierungsfrei) zusätzliche Kosten für die betreffende Leistung zu verursachen, werden von Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit) nicht erfasst (vgl. Berlington Hungary u.a., C-98/14, Rn. 36; , Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank AG, C-625/17, Rn. 32; vgl. weiters zur Niederlassungsfreiheit Vodafone Magyarorszag, C-75/18, Rn. 42). Damit ist die Anwendbarkeit der GRC auch für Haftungsverfahren betreffend derartige Abgaben zu verneinen.
29 Soweit die Revision darüber hinaus - unter Verweis auf das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ro 2019/15/0029, zum Wiener Wettterminalabgabegesetz - geltend macht, § 18 Tiroler Vergnügungssteuergesetz 1982 stelle unionsrechtlich eine notifizierungspflichtige „technische Vorschrift“ dar, genügt es, darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof inzwischen - nach Ergehen der Vorabentscheidung des EuGH - bereits entschieden hat, dass eine nationale Abgabenvorschrift, die eine Besteuerung des Haltens von Wettterminals vorsieht, keine „technische Vorschrift“ iSd Art. 1 der Richtlinie (EU) 2015/1535 ist (, unter Hinweis auf Admiral Sportwetten GmbH, C-711/19).
30 Außerhalb des Anwendungsbereichs der GRC - eine Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK ist im Revisionsfall, in dem weder „civil rights“ noch strafrechtliche Anklagen, sondern öffentliche Abgaben betroffen sind, nicht gegeben (vgl. , mwN; vgl. zur Haftungsinanspruchnahme ; , 99/14/0128) - stellt das Unterbleiben einer gemäß § 274 Abs. 1 Z 1 BAO beantragten mündlichen Verhandlung eine Verletzung von Verfahrensvorschriften dar. Dieser Verfahrensfehler ist jedoch kein absoluter und führt nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, wenn der Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf das angefochtene Erkenntnis sein konnte (vgl. ).
31 Soweit der Revisionswerber zur unterbliebenen Verhandlung geltend macht, er hätte in der Verhandlung darlegen können, dass keine der Vergnügungssteuer unterfallende Glücksspielautomaten vorgelegen seien, handelt es sich um Umstände, die - wie bereits dargelegt - (nur) im Abgabenfestsetzungsverfahren, nicht aber im hier vorliegenden Haftungsverfahren zu prüfen waren. Wenn er darüber hinaus geltend macht, das Verwaltungsgericht hätte zum Ergebnis gelangen können, dass eine schuldhafte Pflichtverletzung des Revisionswerbers an der Nichtentrichtung der Vergnügungssteuer nicht vorgelegen sei, so wird damit nicht dargetan, in welchem konkreten Punkt die Durchführung der Verhandlung eine Änderung hätte bewirken können.
32 In der Revision werden damit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
33 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Normen | BAO §198 BAO §224 Abs1 BAO §248 BAO §274 BAO §274 Abs1 BAO §274 Abs1 Z1 BAO §9 Abs1 EURallg MRK Art6 VwGG §42 Abs2 Z3 litc VwGVG 2014 §24 Abs4 VwRallg WettterminalabgabeG Wr 2016 12010E056 AEUV Art56 12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 12010P/TXT Grundrechte Charta Art51 32015L1535 Notifikations-RL Art1 62014CJ0098 Berlington Hungary VORAB 62017CJ0625 Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank VORAB 62018CJ0075 Vodafone Magyarorszag VORAB 62019CJ0711 Admiral Sportwetten VORAB |
Schlagworte | Gemeinschaftsrecht kein innerstaatlicher Anwendungsbereich EURallg7 Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021130137.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
FAAAF-45658