VwGH 20.12.2021, Ra 2021/06/0110
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | EURallg MRK Art6 UVPG 2000 §24 Abs5 VwGG §42 Abs2 Z3 VwGVG 2014 §24 Abs4 12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 32011L0092 UVP-RL Anh1 Z7 litb |
RS 1 | Der EGMR hielt in seiner Judikatur unter anderem fest, dass der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung in Fällen gerechtfertigt sein könne, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen würden (vgl. EGMR , Saccoccia/Österreich, 69917/01, Z 76, unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung; , Efferl/Österreich, 13556/07; und , Tusnovics/Österreich, 24719/12, Z 21). In diesem Zusammenhang gelangte der EGMR etwa in Bezug auf die von einem Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, ob es sich bei einem bestimmten Bauernhof um einen Erbhof handle, zu dem Schluss, dass dessen Beschwerde komplexe Rechts- und Tatfragen aufwerfe, weshalb das Gericht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht hätte verzichten dürfen (vgl. EGMR , Osinger/Österreich, 54645/00; vgl. zum Ganzen auch ). Bei der Frage, ob Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie vollständig in nationales Recht umgesetzt wurde, ob das UVP-G 2000 diesbezüglich einer unionsrechtskonformen Auslegung zugänglich ist oder das innerstaatliche Recht verdrängt wird und die relevanten Bestimmungen der UVP-Richtlinie unmittelbar anzuwenden sind, handelt es sich um eine komplexe Rechtsfrage im Sinn der oben dargestellten Judikatur des EGMR. Die Verdrängung nationalen Rechts kann nicht als Rechtsfrage "allgemeiner Natur" oder von keiner besonderen Komplexität angesehen werden. |
Normen | EURallg UVPG 2000 §24 Abs5 UVPG 2000 §3 Abs7 32011L0092 UVP-RL Anh1 32011L0092 UVP-RL Anh2 Z13 lita 32011L0092 UVP-RL Art4 Abs2 |
RS 2 | Die Zuordnung des gegenständlichen Vorhabens zu einem Tatbestand des Anhanges I der UVP-Richtlinie hat zur Folge, dass keine Prüfung im Sinn des Anhanges II Z 13 lit. a iVm Art. 4 Abs. 2 UVP-Richtlinie (die im nationalen Recht durch § 3 Abs. 7 bzw. § 24 Abs. 5 UVPG 2000 umgesetzt wurden), sondern jedenfalls ein UVP-Genehmigungsverfahren durchzuführen ist. Insofern entspricht ein Vorhaben, das einen Tatbestand des Anhanges I der UVP-Richtlinie erfüllt, auch nicht "den Zielen der UVP-Richtlinie", wenn statt eines Genehmigungsverfahrens (nur) ein Feststellungsverfahren durchgeführt wird. |
Normen | EURallg 32011L0092 UVP-RL Anh1 32011L0092 UVP-RL Anh2 Z13 lita 32011L0092 UVP-RL Art4 Abs1 |
RS 3 | Es mag zutreffen, dass das eine oder andere dem Anhang I UVP-Richtlinie zuzuordnende Projekt keine erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt (im Sinn des Anhanges II Z 13 lit. a UVP-Richtlinie) haben kann. Dies ändert jedoch nichts daran, dass aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Art. 4 Abs. 1 UVP-Richtlinie auch für dieses Projekt ein UVP-Genehmigungsverfahren durchzuführen ist. |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler und die Hofrätinnen Mag.a Merl und Mag. Rehak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Schottenring 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W104 2240490-1/113E, betreffend Feststellung gemäß § 24 Abs. 5 UVP-G 2000 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie; mitbeteiligte Parteien: 1. M B, 2. A S, 3. J L, 4. KR G F, 5. H W, 6. Dipl.-Ing. W R, 7. E R, 8. K R, 9. Ing. H N, 10. DI M S, 11. DDr. K H, 12. Dipl.-BW (BA) Ing. R B, alle vertreten durch Heger & Partner, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Esslinggasse 17/9, 13. DI D P und 14. E P, beide vertreten durch die List Rechtsanwalts GmbH in 1180 Wien, Weimarer Straße 55/1, 15. Stadtgemeinde Stockerau in 2000 Stockerau, vertreten durch Onz & Partner, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Schwarzenbergplatz 16, 16. Niederösterreichische Umweltanwaltschaft in 3109 St. Pölten, Wiener Straße 54, 17. A, z.H. C S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom stellte die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (Behörde) auf Antrag der Revisionswerberin fest, dass das Vorhaben „A 22 Donauufer Autobahn Generalerneuerung und Fahrstreifenerweiterung im Abschnitt Stockerau Ost – KN Stockerau bis km 1,05“ gemäß § 24 Abs. 5 Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 (UVP-G 2000) keiner Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu unterziehen sei.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den dagegen erhobenen Beschwerden statt und sprach aus, das gegenständliche Vorhaben sei aufgrund einer unmittelbaren Anwendung von Art. 4 Abs. 1 iVm Anhang I Z 7 lit. b der UVP-Richtlinie 2011/92/EG einer UVP zu unterziehen. Eine ordentliche Revision wurde für nicht zulässig erklärt.
Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, die Behörde sei zu Recht davon ausgegangen, das gegenständliche Vorhaben sei nach nationaler Rechtslage (§ 23a Abs. 1 oder Abs. 2 Z 1 und 2 UVP-G 2000) nicht jedenfalls einer UVP, sondern zunächst einer Einzelfallprüfung gemäß § 24 Abs. 5 UVP-G 2000 zu unterziehen. Bei dem Vorhaben handle es sich aber um den „Bau einer Autobahn“, der gemäß Art. 4 Abs. 1 iVm Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie - ohne vorherige Einzelfallprüfung - jedenfalls einer UVP zu unterziehen sei. Da die nationale Rechtslage keinen Spielraum für eine richtlinienkonforme Auslegung zulasse und die Umsetzung der UVP-Richtlinie hinsichtlich der Autobahnen und Schnellstraßen unzureichend sei, sei im vorliegenden Fall in unmittelbarer Anwendung von Art. 4 Abs. 1 iVm Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie - ohne vorherige Einzelfallprüfung - jedenfalls eine UVP durchzuführen.
3 Bei der Auslegung des Tatbestandes „Bau von Autobahnen und Schnellstraßen“ gemäß Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie stützte sich das BVwG auf Rechtsprechung des , betreffend verschiedene Maßnahmen zur Erneuerung und Verbesserung der autobahnähnich ausgebauten städtischen Ringstraße in Madrid; vom , C-645/15, betreffend den Ausbau der Kreisstraße N4 im Stadtgebiet von Nürnberg; vom , C-227/01, betreffend die Zulegung eines zweiten Streckengleises der Eisenbahnlinie Valencia-Tarragona auf einer Länge von 13,2 km; und vom , C-2/07, betreffend die Verbreiterung und den Ausbau von Start- und Landebahnen des Flughafens in Lüttich) und des Verwaltungsgerichtshofes (, betreffend die Zulegung eines zweiten Gleises von nur 1,7 km Länge auf einer neuen, jedoch bestandsnahen Trasse). Der EuGH habe ausgesprochen, dass Änderungen von bestehenden Vorhaben als „Bau“ angesehen werden könnten, wenn sie im Hinblick auf ihre Umweltauswirkungen einem Neubau gleichstünden (Hinweis auf EuGH C-142/07, Rn. 44), auch wenn die Strecke parallel zu einer bereits vorhandenen Strecke verlaufe (Hinweis auf EuGH C-227/01, Rn. 49).
4 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (Hinweis auf EuGH C-142/07, Rn. 36, 37 und 48; C-645/15, Rn. 42) sei es Aufgabe des BVwG als nationales Gericht, im Einzelfall zu prüfen, ob das gegenständliche Vorhaben als „Bau“ oder als „Änderung“ einer Autobahn zu beurteilen sei.
Die Einordnung - so das BVwG weiter -, ob das gegenständliche Vorhaben den Tatbestand des Anhanges I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie erfülle und somit jedenfalls UVP-pflichtig sei, oder dem Anhang II Z 13 lit. a UVP-Richtlinie unterliege und daher eine Einzelfallprüfung durchzuführen sei, habe „- aufgrund der Merkmale des konkreten Projektes - abstrakt zu erfolgen.“ Es sei nicht zu prüfen, ob durch das konkrete Projekt tatsächlich erhebliche nachteilige Umweltauswirkungen zu erwarten seien, weil dadurch die ausschließlich nach Anhang II Z 13 iVm Art. 4 Abs. 2 UVP-Richtlinie durchzuführende Einzelfallprüfung vorweggenommen würde. Vielmehr sei zu beurteilen, ob bei einem derartigen Vorhaben aufgrund seines Umfanges typischerweise mit bedeutenden Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen sei.
5 Entscheidend dafür, das gegenständliche Vorhaben als „Bau von Autobahnen und Schnellstraßen“ gemäß Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie zu qualifizieren, seien für das BVwG folgende Bestandteile des Vorhabens: die Zulegung von jeweils einem Fahrstreifen in jeder Fahrtrichtung auf künftig sechs statt bisher vier Fahrstreifen auf einer Länge von ca. 4 km; die Verlegung der Hauptachse der A22 unmittelbar nach der Anschlussstelle Stockerau um ca. 5,5 m in Richtung Norden; die zweistreifige statt bisher einstreifige Ausgestaltung sowohl der Rampenfahrbahn von der A22 auf die S 5 als auch der Rampenfahrbahn von der S 5 auf die A22 im Bereich Knoten Stockerau; die Erneuerung der bestehenden Fahrbahn auf beiden Richtungsfahrbahnen der S 3 zwischen dem Knoten Stockerau und der Anschlussstelle Stockerau Nord; die Neuplanung des Entwässerungssystems der A22 im gegenständlichen Abschnitt bzw. dessen Anpassung an den Stand der Technik; die Errichtung von Lärmschutzwänden; eine Flächenbeanspruchung von 2,9 ha, nach Rekultivierung von 1,7 ha in drei Schutzgebieten der Kategorie A des Anhanges 2 UVP-G 2000; Rodungen im Ausmaß von 4,57 ha; Erdabtragungen auf einer Fläche von 7 ha; die Neuauftragung von bituminösen Tragschichten auf rund 16 ha und einer Betondecke auf etwa 7 ha.
Die bestehende Autobahn erfahre zwar weder in horizontaler noch in vertikaler Hinsicht eine Lageveränderung, sie werde aber um ein Drittel ihrer bisherigen Kapazität verbreitert und auch die Kapazität des Knotens werde wesentlich erweitert. Eine derartige räumliche und kapazitätsmäßige Erweiterung einer Autobahn müsse bereits aufgrund des dadurch in abstrakter Sicht zusätzlich aufnehmbaren Verkehrs und seiner Umweltauswirkungen als Eingriff gesehen werden, der dem „Bau von Autobahnen und Schnellstraßen“ gemäß Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie gleichkomme. Entscheidend sei die durch die Zulegung ermöglichte Kapazitätserweiterung verbunden mit einer nicht unerheblichen Inanspruchnahme neuer Flächen (Hinweis auf § 23b Abs. 2 Z 1 UVP-G 2000 betreffend die Zulegung eines Gleises, die jedenfalls UVP-pflichtig ist). Im Verfahren EuGH C-2/07 habe die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen betreffend die Ertüchtigung eines ehemaligen Militärflughafens darauf hingewiesen, dass eine entscheidende Erhöhung der Abfertigungskapazitäten oder Stellplätze dazu führen könne, dass ein Neubau eines Flughafens vorliege.
6 Das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass der Sachverhalt geklärt und diesbezüglich keine Änderung eingetreten sei; die Erörterung von Rechtsfragen allgemeiner Natur habe aufgrund der vorhandenen höchstgerichtlichen Judikatur unterbleiben können; das BVwG habe daher aufgrund des schriftlichen Beschwerdevorbringens entschieden, ohne dass dies eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK oder Art. 47 GRC bedeute (Hinweis auf ; , 2010/05/0080; , Ra 2017/04/0040, jeweils mit Hinweisen auf die Judikatur des EuGH).
7 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
8 Die erst- bis fünfzehntmitbeteiligten Parteien beantragten in ihren Revisionsbeantwortungen jeweils die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 In der Zulässigkeitsbegründung rügt die Revisionswerberin zusammengefasst, das BVwG weiche von der ständigen hg. Rechtsprechung zu den Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendung der UVP-Richtlinie ab, weil die im angefochtenen Erkenntnis zitierte Rechtsprechung des EuGH im gegenständlichen Feststellungsverfahren unerheblich und die Wirksamkeit der UVP-Richtlinie gewahrt sei; die Rechtsprechung des EuGH zur Beurteilung von Änderungsvorhaben als „Bau“ sei uneinheitlich bzw. das BVwG weiche von dieser ab; die vom BVwG vorgenommene „abstrakte Prüfung“ führe zu einer beträchtlichen Rechtsunsicherheit für zahlreiche Erhaltungs-, Verbesserungs- und Änderungsprojekte betreffend Autobahnen, weil klare Kriterien für die Abgrenzung von Neubau- und Änderungsvorhaben fehlten; das BVwG weiche auch von der hg. Rechtsprechung betreffend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab.
10 Die Revision erweist sich bereits aufgrund des aufgezeigten Unterbleibens einer Verhandlung als zulässig und auch als begründet.
11 § 24 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013, lautet:
„Verhandlung
§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
...
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, entgegenstehen.
...“
12 Ein Entfall der Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG kommt dann nicht in Betracht, wenn Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC die Durchführung einer solchen gebieten. Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird (vgl. etwa , Rn. 26, mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Im gegenständlichen Verfahren kam Unionsrecht zur Anwendung.
Der EGMR hielt in seiner Judikatur unter anderem fest, dass der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung in Fällen gerechtfertigt sein könne, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen würden (vgl. EGMR , Saccoccia/Österreich, 69917/01, Z 76, unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung; , Efferl/Österreich, 13556/07; und , Tusnovics/Österreich, 24719/12, Z 21). In diesem Zusammenhang gelangte der EGMR etwa in Bezug auf die von einem Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, ob es sich bei einem bestimmten Bauernhof um einen Erbhof handle, zu dem Schluss, dass dessen Beschwerde komplexe Rechts- und Tatfragen aufwerfe, weshalb das Gericht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht hätte verzichten dürfen (vgl. EGMR , Osinger/Österreich, 54645/00; vgl. zum Ganzen auch ).
13 Im Revisionsfall hatte das BVwG die Frage zu klären, ob Anhang I Z 7 lit. b UVP-Richtlinie vollständig in nationales Recht umgesetzt wurde, ob das UVP-G 2000 diesbezüglich einer unionsrechtskonformen Auslegung zugänglich ist oder das innerstaatliche Recht verdrängt wird und die relevanten Bestimmungen der UVP-Richtlinie unmittelbar anzuwenden sind. Es handelt sich dabei um eine komplexe Rechtsfrage im Sinn der oben dargestellten Judikatur des EGMR. Das BVwG konnte zwar auf ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes () verweisen, das einen vergleichbaren Argumentationspfad aufweist. Dennoch kann die Verdrängung nationalen Rechts nicht als - wie das BVwG formulierte - Rechtsfrage „allgemeiner Natur“ oder von keiner besonderen Komplexität angesehen werden. Dazu kommt, dass die in Rede stehenden Rechtsfragen erstmals durch das BVwG behandelt bzw. gewürdigt wurden, nachdem sie in den Beschwerden aufgeworfen wurden und die Revisionswerberin dazu eine „ausführliche Stellungnahme“ erstattete. Die vom BVwG in diesem Zusammenhang zitierte hg. Rechtsprechung (; , 2010/05/0080; , Ra 2017/04/0040) ist nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar, weil in keinem dieser Verfahren die Verdrängung nationalen Rechts und die unmittelbare Anwendung von Unionsrecht zu beurteilen war.
14 Vor diesem Hintergrund kann fallbezogen nicht davon ausgegangen werden, dass das BVwG im Hinblick auf die Zuordnung des gegenständlichen Vorhabens zu einem Tatbestand des Anhanges I UVP-Richtlinie Rechtsfragen zu entscheiden hatte, die nicht übermäßig komplex sind, weshalb auf Grund des Art. 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten war.
15 Ein Verstoß des BVwG gegen die aus Art. 47 GRC abgeleitete Verhandlungspflicht führt auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG.
16 Für das fortzusetzende Verfahren wird Folgendes angemerkt:
Strittig ist, ob das gegenständliche Vorhaben nach den Bestimmungen der UVP-Richtlinie als Neubau oder als Änderungsvorhaben zu beurteilen ist, und ob diese Beurteilung „- aufgrund der Merkmale des konkreten Projekts - abstrakt“ zu erfolgen hat, wie das BVwG argumentiert.
Das BVwG begründete seine Entscheidung einerseits damit, dass nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. beispielsweise EuGH C-142/07, Rn. 36) ein Projekt zur Erneuerung einer Straße, das aufgrund seines Umfanges und seiner Art einem Bau gleichkomme, als Bau im Sinn des Anhanges I Nr. 7 lit. b UVP-Richtlinie betrachtet werden könne. Andererseits nannte das BVwG auch konkret jene Kriterien (siehe oben Rn. 5), aufgrund derer davon auszugehen sei, dass das gegenständliche Vorhaben vergleichbare Auswirkungen auf die Umwelt wie ein (Neu)Bau verursachen könne.
Das Argument der Revisionswerberin, die Entscheidungen des EuGH seien jeweils in Genehmigungsverfahren und nicht in Feststellungsverfahren getroffen worden und deshalb für den vorliegenden Fall nicht relevant, überzeugt nicht. Die Zuordnung des gegenständlichen Vorhabens zu einem Tatbestand des Anhanges I der UVP-Richtlinie hat zur Folge, dass keine Prüfung im Sinn des Anhanges II Z 13 lit. a iVm Art. 4 Abs. 2 UVP-Richtlinie (die im nationalen Recht durch § 3 Abs. 7 bzw. § 24 Abs. 5 UVP-G 2000 umgesetzt wurden), sondern jedenfalls ein UVP-Genehmigungsverfahren durchzuführen ist. Insofern entspricht ein Vorhaben, das einen Tatbestand des Anhanges I der UVP-Richtlinie erfüllt, auch nicht „den Zielen der UVP-Richtlinie“, wenn statt eines Genehmigungsverfahrens (nur) ein Feststellungsverfahren durchgeführt wird.
Das BVwG differenzierte zwischen der Zuordnung eines Vorhabens zu einem Tatbestand in Anhang I der UVP-Richtlinie aufgrund der Merkmale des konkreten Projektes (ohne Prüfung der zu erwartenden Umweltauswirkungen), und der nur für Vorhaben des Anhanges II UVP-Richtlinie vorgesehenen Prüfung der zu erwartenden Umweltauswirkungen, um festzustellen, ob ein UVP-Genehmigungsverfahren durchzuführen ist. Dies kann nicht als rechtswidrig angesehen werden. Es mag zutreffen, dass das eine oder andere dem Anhang I UVP-Richtlinie zuzuordnende Projekt keine erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt (im Sinn des Anhanges II Z 13 lit. a UVP-Richtlinie) haben kann. Dies ändert jedoch nichts daran, dass aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Art. 4 Abs. 1 UVP-Richtlinie auch für dieses Projekt ein UVP-Genehmigungsverfahren durchzuführen ist.
17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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Normen | EURallg MRK Art6 UVPG 2000 §24 Abs5 UVPG 2000 §3 Abs7 VwGG §42 Abs2 Z3 VwGVG 2014 §24 Abs4 12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 32011L0092 UVP-RL Anh1 32011L0092 UVP-RL Anh1 Z7 litb 32011L0092 UVP-RL Anh2 Z13 lita 32011L0092 UVP-RL Art4 Abs1 32011L0092 UVP-RL Art4 Abs2 |
Schlagworte | Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021060110.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
KAAAF-45506