VwGH 25.08.2022, Ra 2021/01/0416
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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Normen | B-VG Art133 Abs4 VwGG §28 Abs3 |
RS 1 | Im Fall einer zulässigen Revision ist der Verwaltungsgerichtshof nicht auf die in der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen beschränkt (vgl. ; , Ra 2016/21/0289). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2017/15/0075 E RS 1 |
Normen | |
RS 2 | Sobald die ao Revision die Zulässigkeitsschwelle überschritten hat, weil sie eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufzeigt, kann der VwGH auch eine andere (als die in der Revision aufgezeigte) Rechtswidrigkeit aufgreifen (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation das E vom , Ro 2014/09/0049; im vorliegenden Fall: amtswegiges Aufgreifen der Unzuständigkeit des VwG) |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2014/11/0065 E RS 2 (hier: Aufgreifen der Unzuständigkeit der belangten Behörde) |
Normen | |
RS 3 | Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Verwaltungsgerichte in jenen Fällen, in denen die Verwaltungsbehörde, deren Entscheidung bekämpft wird, unzuständig war, allein dafür zuständig sind, diese Unzuständigkeit - unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer dies im Verfahren vorgebracht hat - aufzugreifen und den bekämpften Bescheid ersatzlos zu beheben (vgl. ; , Ra 2015/06/0095, mwN und Hinweis auf die insoweit übertragbare Judikatur zur Rechtslage vor Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz). Die Unzuständigkeit kann auch darin liegen, dass ein für die verwaltungsbehördliche Entscheidung notwendiger Antrag fehlt (vgl. , mwN). |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2018/08/0234 E RS 7 (hier ohne den letzten Satz) |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Röder, über die Revision des Magistrats der Stadt Wien gegen das am mündlich verkündete und mit schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, Zl. VGW-101/070/2963/2021-15, betreffend eine Angelegenheit nach dem Personenstandsgesetz 2013 (mitbeteiligte Partei: M M in W), zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Spruchunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses wird dahingehend abgeändert, dass er zu lauten hat:
„I. Der Beschwerde wird Folge gegeben und der Bescheid des Magistrats der Stadt Wien vom , Zl. MA 63-642.452-2020-8, gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG ersatzlos aufgehoben.“
Begründung
1 Mit Bescheid der belangten Behörde, des Magistrats der Stadt Wien (in der Folge: Magistrat), vom wurde der Antrag der Mitbeteiligten, einer irakischen Staatsangehörigen, vom auf Eintragung der Geburt der Mitbeteiligten und Ausstellung einer Geburtsurkunde gemäß § 35 Abs. 2 Z 3 Personenstandsgesetz 2013, BGBl. I Nr. 16 (PStG 2013), abgewiesen.
2 Begründend führte der Magistrat aus, der Mitbeteiligten sei - als irakischem Staatsangehörigen [vormals] männlichen Geschlechts - am der Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG 2005 zuerkannt worden; 2019 sei die Verlängerung ihrer Aufenthaltsberechtigung bewilligt worden. Gemäß § 35 Abs. 2 PStG 2013 sei ein im Ausland eingetretener Personenstandsfall einzutragen, wenn der Personenstandsfall einen österreichischen Staatsbürger (Z 1), einen Staatenlosen oder eine Person ungeklärter Staatsangehörigkeit (Z 2) oder einen Flüchtling im Sinne der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er seinen Wohnsitz, mangels eines solchen seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (Z 3), betreffe.
3 Diese Aufzählung sei taxativ; die Frage, ob subsidiär Schutzberechtigte unter die Personengruppe der Z 3 leg. cit. fielen, sei durch eine näher genannte Durchführungsanleitung des Bundesministeriums für Inneres abschlägig beantwortet worden. Es sei daher spruchgemäß zu entscheiden gewesen.
4 Über die dagegen von der Mitbeteiligten erhobene Beschwerde entschied das Verwaltungsgericht mit dem Spruch des angefochtenen Erkenntnisses wie folgt:
„I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde Folge und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben. Dem Antrag der Beschwerdeführerin vom auf Eintragung der Geburt der Beschwerdeführerin gemäß §§ 9 ff PStG und auf Ausstellung einer Geburtsurkunde gemäß § 53 Abs. 3 Z 1, § 54 PStG wird stattgegeben. Die belangte Behörde hat die Eintragung binnen 14 Tagen ab Zustellung dieser mündlich verkündeten Entscheidung vorzunehmen und die diesbezügliche Geburtsurkunde der Beschwerdeführerin auszufolgen.“
Eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt (II.).
5 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Mitbeteiligte sei im Irak intergeschlechtlich geboren und von ihrer Familie als Bub/Mann großgezogen worden; sie habe im Jahr 2011 in Indien geschlechtsanpassende Maßnahmen vornehmen lassen. Der Mitbeteiligten komme in Österreich zwar kein Asylstatus zu, jedoch sei aufgrund der rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Situation gegenüber LGBT-Gemeinschaften im Irak überhaupt nicht absehbar, wann diese ihre Beziehungen zu ihrem Ursprungsstaat wiederaufnehmen könnte, ohne sich selbst zu gefährden.
6 Im Gegensatz zur Bestimmung des § 9 Abs. 3 IPRG sehe § 35 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3 PStG 2013 für einen im Ausland eingetretenen Personenstandsfall die Möglichkeit der Eintragung einer Änderung, Ergänzung oder Berichtigung nur Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vor. Diesen Status habe die Mitbeteiligte derzeit in Österreich nicht.
7 Der Gesetzgeber habe in § 35 Abs. 2 Z 3 PStG offenbar den gegenständlichen Fall nicht bedacht, dass nämlich eine Person - nach Änderung ihrer Geschlechtsidentität - keine Möglichkeit habe, in ihrem „Ursprungsland“ die Änderung ihrer Geschlechtsidentität bekannt zu geben und eine Ausstellung der Geburtsurkunde zu beantragen.
8 Es liege daher insofern eine Regelungslücke vor, die - schon zur Vermeidung einer verfassungsrechtlich bedenklichen Ungleichbehandlung der Mitbeteiligten - durch Analogie zu schließen sei.
9 Die Unzulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht im Wesentlichen damit, dass der gegenständlichen Entscheidung keine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme und diese Entscheidung im Übrigen weder von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche noch eine derartige Rechtsprechung fehle.
10 Dagegen richtet sich die Amtsrevision des Magistrats mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes. Zur Zulässigkeit führt die Revision aus, es liege keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage vor, ob von der Aufzählung des § 35 Abs. 2 PStG 2013 auch subsidiär Schutzberechtigte erfasst seien. Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dieser Rechtsfrage käme keine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung bei, sei nicht nachvollziehbar, weil demnach bei jedem Antrag eines subsidiär Schutzberechtigten auf Ausstellung einer Personenstandsurkunde geprüft werden müsste, ob nicht derselbe bzw. ein ähnlicher Sachverhalt vorliege und eine Personenstandsurkunde auszustellen wäre.
11 Die Mitbeteiligte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurück- bzw. Abweisung der Amtsrevision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12 § 9 des IPR-Gesetzes, BGBl. Nr. 304/1978 (IPRG), lautet (auszugsweise):
„Personalstatut einer natürlichen Person
§ 9. (1) Das Personalstatut einer natürlichen Person ist das Recht des Staates, dem die Person angehört. Hat eine Person neben einer fremden Staatsangehörigkeit auch die österreichische Staatsbürgerschaft, so ist diese maßgebend. ....
(2) ...
(3) Das Personalstatut einer Person, die Flüchtling im Sinn der für Österreich geltenden internationalen Übereinkommen ist oder deren Beziehungen zu ihrem Heimatstaat aus vergleichbar schwerwiegenden Gründen abgebrochen sind, ist das Recht des Staates, in dem sie ihren Wohnsitz, mangels eines solchen ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat; eine Verweisung dieses Rechtes auf das Recht des Heimatstaates (§ 5) ist unbeachtlich.“
13 Die maßgeblichen Bestimmungen des Personenstandsgesetzes 2013, BGBl. I Nr. 16 idF BGBl I Nr. 120/2016 (PStG 2013), lauten:
„Behörden und Aufgaben der Behörden
§ 3. (1) Die in diesem Bundesgesetz geregelten Personenstandsangelegenheiten einschließlich des Matrikenwesens sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt wird, von den Gemeinden im übertragenen Wirkungsbereich zu besorgen.
...
Pflicht zur Eintragung
§ 35. (1) Jeder im Inland eingetretene Personenstandsfall sowie Änderungen, Ergänzungen und Berichtigungen des Personenstandes sind einzutragen.
(2) Ein im Ausland eingetretener Personenstandsfall ist einzutragen, wenn der Personenstandsfall betrifft:
1. einen österreichischen Staatsbürger;
2. einen Staatenlosen oder eine Person ungeklärter Staatsangehörigkeit, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben;
3. einen Flüchtling im Sinne der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, und des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, wenn er seinen Wohnsitz, mangels eines solchen seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.
...“
14 Die Amtsrevision ist aus den im Zulässigkeitsvorbringen genannten Gründen zulässig; sie ist im Ergebnis auch berechtigt:
15 Im Fall einer zulässigen Revision ist der Verwaltungsgerichtshof nicht auf jene Rechtsfragen beschränkt, die zur Zulässigkeit vorgebracht wurden (vgl. etwa ; , Ra 2021/19/0325, jeweils mwN). Vielmehr kann der Gerichtshof auch eine andere als die in der Revision aufgezeigte Rechtswidrigkeit aufgreifen, wenn die Revision - wie vorliegend - die Zulässigkeitsschwelle überschritten hat (vgl. , mwN).
16 Gegenstand des beim Verwaltungsgericht angefochtenen Bescheides war die Entscheidung über Anträge auf Eintragung der Geburt der Mitbeteiligten und Ausstellung einer Geburtsurkunde. Dabei handelt es sich um Personenstandsangelegenheiten, die gemäß § 3 Abs. 1 PStG 2013 von den Gemeinden im übertragenen Wirkungsbereich zu besorgen sind.
17 In Entsprechung des Art. 119 Abs. 2 erster Satz B-VG bestimmt § 79 Abs. 1 erster Satz WStV, dass der übertragene Wirkungsbereich vom Bürgermeister ausgeübt wird. Für Angelegenheiten des PStG 2013 ist somit vorliegend der Bürgermeister der Stadt Wien und nicht der Magistrat zuständig (vgl. , Rn. 13 bis 17).
18 Der im Akt erliegende Bescheid des Magistrats vom führt in seinem Kopf die Bezeichnung „Magistrat der Stadt Wien Magistratsabteilung 63“ an; die Fertigung erfolgte „Für den Abteilungsleiter“.
19 Der beim Verwaltungsgericht angefochtene Bescheid ist daher aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes nicht dem Bürgermeister der Stadt Wien, sondern dem Magistrat zuzurechnen, der mit der Erlassung dieses Bescheides seine behördliche Kompetenz - als Bezirksverwaltungsbehörde - überschritten hat (vgl. den erwähnten Beschluss VwGH Ra 2022/01/0033, Rn. 18 bis 25).
20 Grundlage des angefochtenen Erkenntnisses des Verwaltungsgerichts war somit ein vom Magistrat als unzuständiger Behörde erlassener Bescheid.
21 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Verwaltungsgerichte in jenen Fällen, in denen die Verwaltungsbehörde, deren Entscheidung bekämpft wird, unzuständig war, allein dafür zuständig, diese Unzuständigkeit - unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer dies im Verfahren vorgebracht hat - aufzugreifen und den bekämpften Bescheid ersatzlos zu beheben (vgl. ; , Ra 2018/08/0234, jeweils mwN).
22 Das Verwaltungsgericht hätte daher bei richtiger rechtlicher Beurteilung die Unzuständigkeit des Magistrats gemäß § 27 VwGVG von Amts wegen wahrnehmen und den Bescheid vom (ausschließlich) ersatzlos aufheben müssen, statt - wie hier - (zudem) über die Anträge der Mitbeteiligten inhaltlich zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hat insofern das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet (vgl. abermals VwGH Ra 2018/08/0234, mwN).
23 Zur Fällung der vorliegenden Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof bedurfte es im vorliegenden Verfahren keiner weiteren Ermittlungen. Im Interesse der Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Kostenersparnis konnte daher gemäß § 42 Abs. 1 und 4 VwGG in der Sache selbst entschieden und das angefochtene Erkenntnis im Sinn einer Behebung des vor dem Verwaltungsgericht bekämpften Bescheids abgeändert werden (vgl. , Rn. 12).
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | B-VG Art133 Abs4 VwGG §28 Abs3 VwGG §42 Abs1 VwGG §42 Abs4 VwGVG 2014 §27 VwGVG 2014 §28 Abs1 VwGVG 2014 §28 Abs2 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010416.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
BAAAF-45415