Rückwirkend festgesetzte ag Belastung; Wiederaufnahmegrund; verfrühter Vorlageantrag
Rechtssätze
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Stammrechtssätze | |
RV/7102632/2024-RS1 | Ein verfrühter Vorlageantrag ist dann zulässig, wenn die Begründung bereits zugestellt ist und der Abgabepflichtige somit den Bescheidinhalt bereits kennt ().
Die belangte Behörde hat am abweisende Beschwerdevorentscheidungen betreffend 2019 und 2021 erlassen und am eine abweisende Beschwerdevorentscheidung betreffend 2020. In allen drei Jahren war das Begehren des Bf identisch. Alle drei Beschwerdevorentscheidungen haben wortgleich die selbe Begründung. Es erscheint denkunmöglich, dass die belangte Behörde das ausstehende Jahr 2020 anders entschieden hätte. Mit Zustellung der Bescheide für 2019 und 2021 war dem Bf die Begründung für 2020 ebenso bekannt. Die soeben erwähnte Rechtsprechung des VwGH ist auf diese Fallkonstellation daher ebenso anwendbar. |
RV/7102632/2024-RS2 | Dass die Abgabenbehörde nicht berechtigt ist, die Vorfrage des Grades der Behinderung selbst zu entscheiden, ändert nichts daran, dass es sich um eine solche handelt. Denn gemäß § 116 Abs 1 BAO ist maßgeblich, dass es sich um eine Hauptfrage des Verfahrens einer anderen Behörde handelt. Die Berechtigung der Abgabenbehörde, selbst eine Vorfrage zu beurteilen, steht ihr nur zu, sofern die Abgabenvorschriften nichts anderes bestimmen. Letzteres ist hier der Fall. § 303 Abs 1 lit c BAO wiederum stellt ganz allgemein darauf ab, dass die Vorfrage nunmehr anders entschieden wurde. Ob die Änderung gegenüber der eigenen Beurteilung der Abgabenbehörde oder gegenüber einer ursprünglich anderen Beurteilung der in der Hauptfrage zuständigen Behörde eingetreten ist, darauf kommt es nicht an. |
Entscheidungstext
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesfinanzgericht hat durch den Richter Dr. Hans Blasina in der Beschwerdesache
***Bf1***, ***Bf1-Adr***, über die Beschwerde vom gegen die Bescheide des Finanzamtes Österreich vom betreffend Abweisung eines Antrages auf Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend Einkommensteuer (Arbeitnehmerveranlagung) 2018 sowie Einkommensteuer 2019 bis 2021,
Steuernummer ***BF1StNr1*** zu Recht erkannt:
I.1. Der angefochtene Bescheid betreffend Wiederaufnahme Einkommensteuer 2018 wird gemäß § 279 BAO aufgehoben.
I.2. Im übrigen werden die angefochtenen Bescheide im Sinne des Beschwerdebegehrens gemäß § 279 BAO abgeändert:
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Beträge in Euro | 2019 | 2020 | 2021 |
Gesamtbetrag der Einkünfte | 57.780,86 | 58.813,94 | 59.197,70 |
Sonderausgaben | -496,20 | 662,44 | -627,40 |
-2.051,00 | -4.331,00 | -4.450,00 | |
Einkommen | 55.233,66 | 53.820,50 | 54.120,30 |
Festgesetzte Einkommensteuer nach anrechenbarer Lohnsteuer und Rundung (Gutschrift) | -1.045,00 | -2.072,00 | -2.132,00 |
II. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art 133 Abs 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang
Strittig im Verfahren sind einerseits verfahrensrechtliche Komponenten, andererseits die Zuerkennung von außergewöhnlichen Belastungen aufgrund vorliegender Behinderungen.
II. Das Bundesfinanzgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt
Nachdem ursprünglich automatische Arbeitnehmerveranlagungen in allen Jahren erfolgt waren, führte eine nachträgliche Spendenmeldung für das Jahr 2018 zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens und Veranlagung mit Bescheiden vom .
Am reichte der Beschwerdeführer (Bf) Steuererklärungen (Arbeitnehmerveranlagung) für die Jahre 2018-2021 ein.
Am legte der Bf auf ein Ergänzungsersuchen hin Sachverständigengutachten zu den im Jahr 2022 ausgestellten Behindertenausweisen für sich und seine Frau vor.
Am erließ die belangte Behörde Einkommensteuerbescheide 2019-2021, in denen sie die beantragten Frei- und Pauschbeträge gemäß § 35 Abs 3 EStG nicht berücksichtigte, sowie einen Bescheid, mit dem sie die Steuererklärung 2018 als Antrag auf Wiederaufnahme wertete und abwies.
Über die dagegen erhobene Beschwerde vom erließ die belangte Behörde abweisende Beschwerdevorentscheidungen, und zwar über die Jahre 2018, 2019 und 2021 am (zugestellt am ), das Jahr 2020 betreffend am (zugestellt am ); die Begründungen der Beschwerdevorentscheidungen für 2019-2021 sind wortgleich.
Der Bf richtete gegen alle Beschwerdevorentscheidungen am einen Vorlageantrag und legte mit Eingabe vom Bestätigungen über die rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung vor.
Der Bf wies in den Jahren 2018-2021 einen Grad der Behinderung in Höhe von 70 % auf. Seine Frau, die in allen Jahren im gemeinsam Haushalt gelebt und Einkünfte unter 6.000 Euro jährlich erzielt hat, wies in den Jahren 2018-2021 einen Grad der Behinderung in Höhe von 80 % auf.
2. Beweiswürdigung
Die Feststellungen ergeben sich aus dem Akt des Verwaltungsverfahrens.
Die Höhe des Grades der Behinderung ergibt sich ergibt sich aus den Sachverständigengutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom (Bf) bzw (Frau).
Das rückwirkende Vorliegen der Behinderung im jeweiligen Ausmaß ab 2018 ergibt sich aus den Bestätigungen des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom April 2024.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zu Spruchpunkt I. (Abänderung/Stattgabe)
Zur Wiederaufnahme 2018:
Die belangte Behörde hat die Abgabe der Erklärung zur Arbeitnehmerveranlagung 2018 als Antrag auf Wiederaufnahme gedeutet und abgesprochen, es lägen für den beantragenden Steuerpflichtigen keine neu hervorgekommenen Tatsachen vor, weshalb der Antrag auf Wiederaufnahme scheitern müsse. Die belangte Behörde hat mit dem Heranziehen des Wiederaufnahmetatbestandes gemäß § 303 Abs 1 lit b BAO eine unpassende Norm gewählt, weil diese gar nicht einschlägig ist, sondern § 303 Abs 1 lit c BAO: Über das Vorliegen einer Behinderung, die zur Anwendbarkeit des Freibetrages nach § 35 Abs 1 EStG führt, hat gemäß § 35 Abs 2 TS 3 EStG das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zu entscheiden. Der Behindertenausweis wurde im Jahr 2022 ausgestellt. In weiterer Folge wurde im Jahr 2024 von dieser Behörde festgestellt, dass die Behinderung rückwirkend seit 2018 vorliegt. Die Vorfrage wurde somit in wesentlichen Punkten anders entschieden. Dies hätte auch zu einem im Ergebnis anders lautenden Bescheid geführt (siehe dazu unten).
Dass die Abgabenbehörde nicht berechtigt ist, die Vorfrage des Grades der Behinderung selbst zu entscheiden, ändert nichts daran, dass es sich um eine solche handelt. Denn gemäß § 116 Abs 1 BAO ist maßgeblich, dass es sich um eine Hauptfrage des Verfahrens einer anderen Behörde handelt. Die Berechtigung der Abgabenbehörde, selbst eine Vorfrage zu beurteilen, steht ihr nur zu, sofern die Abgabenvorschriften nichts anderes bestimmen. Letzteres ist hier der Fall. Die Abgabenbehörde darf die Vorfrage nicht nach eigener Anschauung beurteilen.
§ 303 Abs 1 lit c BAO wiederum stellt ganz allgemein darauf ab, dass die Vorfrage nunmehr anders entschieden wurde. Ob die Änderung gegenüber der eigenen Beurteilung der Abgabenbehörde oder gegenüber einer ursprünglich anderen Beurteilung der in der Hauptfrage zuständigen Behörde eingetreten ist, darauf kommt es nicht an.
Zuständig zur Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens ist die Abgabenbehörde (vgl § 305 BAO). Dem Bundesfinanzgericht steht es nicht zu, einen unpassenden durch einen treffenderen Wiederaufnahmegrund zu ersetzen. Es kann lediglich die unrichtige Entscheidung aufheben, womit das Anbringen des Bf vor der Abgabenbehörde wieder unerledigt ist.
Wenn die belangte Behörde schon ohne weiteres Ermittlungsverfahren das Anbringen des Bf als Wiederaufnahmeantrag wertet, so hat sie doch die für ihn günstigste Annahme zu treffen. Darüber hinaus hätte sie auch § 295a BAO als Anspruchsgrundlage in Betracht ziehen können.
Zum Vorlageantrag 2020:
Die belangte Behörde beantragt die Zurückweisung des Vorlageantrages (§ 264 Abs 5 BAO), weil dieser "vor Erlass der Beschwerdevorentscheidung" gestellt worden sei.
Grundsätzlich ist der belangten Behörde darin Recht zu geben, dass nur Beschwerden vor Beginn der Beschwerdefrist eingebracht werden können (§ 260 Abs 2 BAO), auf Vorlageanträge ist dies nicht anzuwenden (vgl zB ; ). Die Frist zur Stellung eines Vorlageantrages konnte jedoch nicht bereits mit Bescheiderlassung am (einen Tag vor dem Vorlageantrag) in Gang gesetzt werden, sondern erst mit Zustellung am .
Ein verfrühter Vorlageantrag ist jedoch dann zulässig, wenn die Begründung bereits zugestellt ist und der Abgabepflichtige somit den Bescheidinhalt bereits kennt ().
Die belangte Behörde hat am abweisende Beschwerdevorentscheidungen betreffend 2019 und 2021 erlassen und am eine abweisende Beschwerdevorentscheidung betreffend 2020. In allen drei Jahren war das Begehren des Bf identisch. Alle drei Beschwerdevorentscheidungen haben wortgleich die selbe Begründung. Es erscheint denkunmöglich, dass die belangte Behörde das ausstehende Jahr 2020 anders entschieden hätte. Mit Zustellung der Bescheide für 2019 und 2021 war dem Bf die Begründung für 2020 ebenso bekannt. Die soeben erwähnte Rechtsprechung des VwGH ist auf diese Fallkonstellation daher ebenso anwendbar.
Darüber hinaus erscheint es im höchsten Maße ungewöhnlich, über ein und dieselbe Frage ausgerechnet das mittlere Jahr zunächst vorzuenthalten. Nicht nur ein Steuerpflichtiger, der bereits das achtzigste Lebensjahr deutlich überschritten hat und einen hohen Grad der Behinderung aufweist, wäre in dieser Konstellation wohl davon ausgegangen, dass die Behörde sein gesamtes alle Jahre umfassendes Begehren abgehandelt hat und hätte somit sämtliche Bescheide betreffend einen Vorlageantrag gestellt, ohne der späteren Zustellung einer weiteren Erledigung verfahrensrechtliche Bedeutung beizumessen.
Entscheidung in der Sache
Bereits die Abgabenbehörde hat im Vorlagebericht eingeräumt, dass in den Jahren 2019 und 2021 die beantragten Freibeträge und Pauschbeträge gemäß der Verordnung über außergewöhnliche Belastungen, BGBl 1996/303, zustehen. Dies trifft dem Grunde nach auch auf die Jahre 2018 und 2020 zu, weil ab 2018 die Voraussetzungen des § 35 EStG gegeben sind. Betreffend das Jahr 2018 war nur über die Wiederaufnahme abzusprechen, in den anderen drei Jahren waren die Freibeträge durch das BFG zuzusprechen.
3.2. Zu Spruchpunkt II. (Revision)
Gegen ein Erkenntnis des Bundesfinanzgerichtes ist die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Darüber, ob die anspruchsbegründende von einer anderen Behörde zu entscheidende Frage des Grades der Behinderung eine Vorfrage iSd § 303 Abs 1 lit c BAO ist, fehlt eine höchstgerichtliche Rechtsprechung; ebenso zu der Frage, ob es in der gegebenen Konstellation zulässig ist, einen Vorlageantrag vor Beginn der Rechtsmittelfrist zu stellen.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Materie | Steuer |
betroffene Normen | § 303 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 § 260 Abs. 2 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 § 264 Abs. 5 BAO, Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961 § 35 Abs. 3 EStG 1988, Einkommensteuergesetz 1988, BGBl. Nr. 400/1988 |
Verweise | |
ECLI | ECLI:AT:BFG:2024:RV.7102632.2024 |
Datenquelle: Findok — https://findok.bmf.gv.at