VwGH vom 17.10.2019, Ro 2019/18/0005
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter sowie die Hofrätinnen MMag. Ginthör und Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W255 1437661- 2/6E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M A), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt diesen Antrag hinsichtlich des begehrten Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Mitbeteiligten aber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis . 3 Diese Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge mehrfach verlängert, zuletzt mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom für einen Zeitraum bis zum .
4 Am stellte der Mitbeteiligte einen Antrag auf neuerliche Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung. 5 Mit Bescheid des BFA vom wurde dem Mitbeteiligten der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aberkannt (Spruchpunkt I.) und sein Antrag vom auf weitere Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.), es wurde ihm kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).
6 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis statt. Es behob die Spruchpunkte I. und III. bis VI. des verwaltungsbehördlichen Bescheides ersatzlos und verlängerte dem Mitbeteiligten in Abänderung von Spruchpunkt II. des verwaltungsbehördlichen Bescheides die befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum . Die Revision erklärte das BVwG für zulässig.
7 Begründend führte das BVwG aus, das BFA habe die Aberkennung des subsidiären Schutzes ausschließlich auf § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 gestützt. Die Anwendung dieser Norm setze eine Änderung der Umstände voraus, die so wesentlich und nicht nur vorübergehend sei, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz habe, nicht mehr länger Gefahr laufe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Im gegenständlichen Fall liege eine solche Änderung der Umstände - aus näher dargestellten Gründen - entgegen der Rechtsansicht des BFA nicht vor. Die darauf gestützte Aberkennung des subsidiären Schutzes und sämtliche Folgeaussprüche seien daher nicht rechtens gewesen. Im gegenständlichen Fall wäre zwar überdies eine Prüfung des Aberkennungstatbestands des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 naheliegend, weil der Mitbeteiligte mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten strafrechtlich verurteilt und zuletzt wegen eines Suchtmitteldelikts angezeigt worden sei. Nach Auffassung des BVwG wäre jedoch die "Sache" des Beschwerdeverfahrens und damit die Kognitionsbefugnis des BVwG überschritten, würde das Verwaltungsgericht das Vorliegen dieses weiteren Aberkennungstatbestands prüfen, ohne dass die Verwaltungsbehörde in dieser Hinsicht tätig geworden sei. Würde man Gegenteiliges annehmen, so würde dies für die Verwaltungsgerichtsbarkeit die nahezu vollständige Übernahme der Aufgaben der Verwaltungsbehörde an sich bedeuten, was im Einzelfall umfassende Ermittlungspflichten auslösen könnte, die von der Verwaltungsbehörde vielleicht nicht einmal ansatzweise vorgenommen worden seien. Dies zeige auch die vorliegende Konstellation: So scheine zwar das Vorliegen des Tatbestands von § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 im gegenständlichen Fall aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung des Mitbeteiligten wegen eines Verbrechens naheliegend, doch bedürfte es für dessen Annahme einer unionsrechtskonformen Auslegung im Lichte von Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie, wonach zusätzlich zum Kriterium der rechtskräftigen Verurteilung des Mitbeteiligten wegen eines Verbrechens auch eine vollständige Prüfung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls notwendig sei (Hinweis auf ). Im gegenständlichen Fall seien im Hinblick auf die Verurteilungen des Mitbeteiligten vom BFA weder Ermittlungsschritte gesetzt noch ausreichende Feststellungen getroffen worden. Zu all diesen Fragen fehle es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, weshalb die Revision zuzulassen gewesen sei.
8 In der vorliegenden Amtsrevision schloss sich das BFA der Rechtsansicht des BVwG an, wonach es an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Prüfungsumfang des BVwG im Beschwerdeverfahren betreffend die Aberkennung von subsidiärem Schutz fehle. Dabei stelle sich die Frage, ob eine Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 im Beschwerdeverfahren durch eine Aberkennung gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 oder eine solche gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 ersetzt werden könne, was nach näher begründeter Auffassung der Amtsrevision jeweils möglich gewesen wäre. 9 Der Mitbeteiligte hat zu dieser Amtsrevision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017 (AsylG 2005), lauten
wie folgt:
"Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) ... (bis) (2) ...
(3) Ein Fremder ist im Sinne dieses Bundesgesetzes
straffällig geworden, wenn er
1. wegen einer vorsätzlich begangenen gerichtlich strafbaren
Handlung, die in die Zuständigkeit des Landesgerichtes fällt, oder
2. mehr als einmal wegen einer sonstigen vorsätzlich
begangenen gerichtlich strafbaren Handlung, die von Amts wegen zu
verfolgen ist
rechtskräftig verurteilt worden ist.
...
Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten
§ 9. (1) Einem Fremden ist der Status eines subsidiär
Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn
1. die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des
subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) nicht oder nicht mehr
vorliegen;
2. er den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem
anderen Staat hat oder
3. er die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates erlangt
hat und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen neuen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention oder für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(2) Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Abs. 1 abzuerkennen, so hat eine Aberkennung auch dann zu erfolgen, wenn
1. einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe vorliegt;
2. der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die
Sicherheit der Republik Österreich darstellt oder
3. der Fremde von einem inländischen Gericht wegen eines
Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, entspricht.
In diesen Fällen ist die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
(3) Ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3) und das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 oder 2 wahrscheinlich ist.
(4) Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist mit dem Entzug der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu verbinden. Der Fremde hat nach Rechtskraft der Aberkennung Karten, die den Status des subsidiär Schutzberechtigten bestätigen, der Behörde zurückzustellen.
Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme
§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit
einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur
Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden,
wenn
1. ... (bis) 4. ...
5. einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten
aberkannt wird
und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein
Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird."
12 Mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009, BGBl. I Nr. 122/2009, wurden die bereits bestehenden Aberkennungstatbestände des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 um die - oben angeführten - Tatbestände des Abs. 2 leg. cit. erweitert. 13 In den Gesetzesmaterialien (330 BlgNR 24. GP, 9f) wurde dazu Folgendes ausgeführt:
"Die geltende Rechtslage führt zu dem rechtspolitisch unbefriedigenden Ergebnis, dass Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten - samt den damit verbundenen Rechten (Arbeitsmarktzugang uä.) - nicht aberkannt werden kann, solange die Abschiebung in den Herkunftsstaat eine Menschenrechtsverletzung im Sinne der EMRK bedeuten würde. Dies gilt auch dann, wenn der Fremde in Österreich mittlerweile (auch schwerste) Straftaten begangen hat. Nunmehr soll dies möglich sein und damit ein Zeichen gesetzt werden, dass Straffälligkeit mit dem Verlust von Rechten einhergeht und die Rechtsposition dieser Fremden auf das notwendige Maß beschränkt werden.
Der neue Abs. 2 stellt demgemäß eine Erweiterung der Aberkennungstatbestände des Abs. 1 dar. So hat eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auch in drei weiteren Fällen von Amts wegen zu erfolgen (Z 1 bis 3). Diese Aberkennungstatbestände entsprechen den in Art. 19 Abs. 3 iVm Art. 17 Abs. 1 der Statusrichtlinie (RL 2004/83/EG des Rates) normierten Aberkennungstatbeständen. Von diesen europarechtlich vorgesehenen Aberkennungsmöglichkeiten soll nun innerstaatlich Gebrauch gemacht werden. Die Z 1 und 2 orientieren sich dabei auch an den Aberkennungs- bzw. Ausschlussgründen für den Status des Asylberechtigten gemäß § 6 Abs. 1 Z 2 und 3. Abweichend von der in Z 3 geforderten formalen Grenze des ‚Verbrechens (§ 17 StGB)' kann der Aberkennungstatbestand der Z 2 auch dann erfüllt sein, wenn mehrere minderschwere Straftaten vorliegen, welche für sich das Kriterium der Z 3 nicht erfüllen. Der in Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie geregelte Aberkennungstatbestand der ‚schweren Straftat' wird im Sinne der österreichischen Strafrechtsterminologie mit der ‚rechtskräftigen Verurteilung zu einem Verbrechen (§ 17 StGB)' umgesetzt (Z 3). Die hier geforderte Schwelle des Verbrechens im Sinne des § 17 StGB steht in keinem direkten Bezug zum ‚besonders schweren Verbrechen' gemäß § 6 Abs. 1 Z 4. Die Beurteilung einer Tat (oder mehrerer Taten) als besonders schweres Verbrechen im Sinne des § 6 Abs. 1 Z 4 ist vielmehr unabhängig von dieser formalen Einordnung und nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Straftat, die objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzt.
Die neuen Aberkennungstatbestände des Abs. 2 sind nur subsidiär anzuwenden, wenn die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des Abs. 1 zu erfolgen hat. Dies ergibt sich daraus, dass in den Fällen einer Aberkennung nach Abs. 1 die Gefahr einer durch die Abschiebung drohenden Menschenrechtsverletzung jedenfalls nicht gegeben ist und die Ausweisung und Abschiebung dieser Fremden daher zulässig ist. Der Berufung auf diese Aberkennungstatbestände ist sohin konsequenterweise der Prüfvorrang einzuräumen. Da die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bei einer drohenden Verletzung der Rechte nach der EMRK im Sinne des Refoulementverbots selbstverständlich nicht zu einer Abschiebung des Fremden führen soll, ist die Aberkennung nach Abs. 2 mit der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist. Siehe dazu auch die Änderung des § 10 Abs. 1, wonach eine Aberkennung nach Abs. 2 nicht mit einer Ausweisung zu verbinden ist. Der Aufenthalt dieser Fremden im Bundesgebiet ist gemäß dem neuen § 46a FPG geduldet, solange eine Abschiebung unzulässig ist. ...
Der neue Abs. 3 normiert analog zur neuen Bestimmung des § 7 Abs. 2, dass ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten bei Straffälligkeit (§ 2 Abs. 3) des Fremden jedenfalls einzuleiten ist, wenn das Vorliegen einer Aberkennungsvoraussetzung wahrscheinlich ist. ..."
14 Gemäß § 9 Abs. 3 AsylG 2005 ist bei Straffälligkeit des subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 2 Abs. 3 AsylG 2005 (die auch im vorliegenden Fall gegeben ist) jedenfalls ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten einzuleiten, wenn das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 9 Abs. 1 oder 2 AsylG 2005 wahrscheinlich ist.
15 Für dieses Verfahren legen § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 folgendes Prüfschema fest:
Nach § 9 Abs. 1 AsylG 2005 ist vorrangig zu klären, ob eine Aberkennung des subsidiären Schutzes nach dieser Gesetzesstelle vorzunehmen ist. Das ist dann der Fall, wenn zumindest einer der in § 9 Abs. 1 Z 1 bis 3 AsylG 2005 vorgesehenen Aberkennungstatbestände vorliegt. Korrespondierend damit sieht § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 für den Fall der Aberkennung des subsidiären Schutzstatus die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, wenn auch kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt wird. An die Erlassung der Rückkehrentscheidung knüpft das FPG wiederum die dort näher geregelten weiteren Aussprüche, insbesondere jenen nach § 52 Abs. 9 FPG.
Ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht schon aus den Gründen des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 abzuerkennen, so hat eine Aberkennung nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 auch dann zu erfolgen, wenn zumindest einer der in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 vorgesehenen Aberkennungstatbestände gegeben ist. In diesen Fällen ist die Aberkennung des subsidiären Schutzstatus - seit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2017, BGBl. I Nr. 145/2017 - mit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Feststellung zu verbinden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat unzulässig ist, weil dies eine der in § 9 Abs. 2 letzter Satz AsylG 2005 angeführten Gefahren begründen würde. 16 § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 enthält zwei unterschiedliche Aberkennungstatbestände: Dem Fremden ist der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen abzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) nicht oder nicht mehr vorliegen.
17 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfasst der erste Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 die Konstellation, in der der Fremde schon im Zeitpunkt der Zuerkennung von subsidiärem Schutz die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllt hat. § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 betrifft hingegen jene Konstellationen, in denen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nachträglich weggefallen sind (vgl. , Rn. 77; , Ra 2016/20/0038, Rn 32).
18 Im gegenständlichen Fall führt das BVwG im angefochtenen Erkenntnis aus, dass das BFA die Aberkennung des subsidiären Schutzes des straffällig gewordenen Mitbeteiligten auf den zweiten Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 gestützt habe, diese Voraussetzungen aber nicht vorlägen. Dies bleibt von der Amtsrevision unbekämpft und ist daher auch nicht weiter zu überprüfen.
19 Wenn die Amtsrevision erstmals vorbringt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes hätten im gegenständlichen Fall - auch in tatsächlicher Hinsicht - nie vorgelegen, weshalb eine Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 stattfinden hätte können und müssen, handelt es sich dabei um eine (unzulässige) Neuerung im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof, zumal dies weder im verwaltungsbehördlichen Verfahren zugrunde gelegt noch im Beschwerdeverfahren vor dem BVwG geltend gemacht worden ist. Auf dieses Vorbringen ist daher im gegenständlichen Revisionsverfahren nicht weiter einzugehen.
20 Von Bedeutung ist aber die vom BVwG selbst angesprochene Rechtsfrage, ob es die Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichts überschritten hätte, wenn das BVwG im vorliegenden Fall anstelle des Aberkennungstatbestands nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 den Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 herangezogen hätte.
21 Das BVwG vertritt die Auffassung, dem Verwaltungsgericht sei ein solcher Austausch des Aberkennungsgrundes wegen § 27 VwGVG verwehrt, obwohl im gegenständlichen Fall strafrechtliche Verurteilungen des Mitbeteiligten vorlägen. In diesem Zusammenhang stellt das BVwG fest, dass der Mitbeteiligte mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt worden sei. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom sei er überdies wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach den § 83 Abs. 1, 84 Abs. 4 StGB rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Am sei der Mitbeteiligte von Organen der Landespolizeidirektion Wien wegen § 27 Abs. 1 SMG angehalten und angezeigt worden.
22 Diese Rechtsansicht des BVwG wird vom Verwaltungsgerichtshof aus folgenden Gründen nicht geteilt:
23 Der Verwaltungsgerichtshof judiziert in mittlerweile ständiger Rechtsprechung, dass das Verwaltungsgericht prinzipiell nicht nur die gegen einen verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen hat, die von der Verwaltungsbehörde zu entscheiden war (vgl. etwa , mwN). Eine Auslegung des § 27 VwGVG dahingehend, dass die Prüfbefugnis der Verwaltungsgerichte stark eingeschränkt zu verstehen wäre, ist demnach unzutreffend (vgl. , mit Hinweis auf ). Allerdings stellt die "Sache" des bekämpften Bescheides den äußersten Rahmen für die Prüfbefugnis des Verwaltungsgerichts dar. "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht ist jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruchs der vor dem Verwaltungsgericht belangten Verwaltungsbehörde gebildet hat (vgl. etwa , mwN).
24 Die zuvor dargestellte historische Entwicklung des § 9 AsylG 2005, die gesetzlich vorgesehene Verpflichtung, bei Straffälligkeit des subsidiär Schutzberechtigten jedenfalls ein Aberkennungsverfahren einzuleiten und die in den § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 festgelegten Prüfschritte, die dabei vorzunehmen sind, zeigen, dass das BFA in einem Fall wie dem vorliegenden nicht bloß das Fortbestehen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Sinne des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 zu überprüfen hatte. Die zu entscheidende Angelegenheit war vielmehr die Aberkennung des subsidiären Schutzstatus an sich und damit sämtliche in § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 vorgesehenen Prüfschritte und Aussprüche.
25 Dementsprechend war die "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem BVwG nicht nur die Klärung der Frage, ob die vom BFA angenommene Änderung der Umstände nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 tatsächlich vorlag, sondern sie umfasste sämtliche Prüfschritte und Aussprüche, die im Verfahren zur Aberkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 vorzunehmen sind.
26 Es war dem BVwG daher auch nicht verwehrt, bei Verneinung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AsylG 2005 zu prüfen. Bei entsprechenden Anhaltspunkten für das Vorliegen eines derartigen Tatbestands, die das BVwG fallbezogen als gegeben ansah, war das Verwaltungsgericht zu einem solchen Vorgehen auch verpflichtet. 27 Wenn das BVwG in diesem Zusammenhang ausführt, diese Sichtweise würde "für die Verwaltungsgerichtsbarkeit die nahezu vollständige Übernahme der Aufgaben der Verwaltungsbehörde an sich bedeuten, was im Einzelfall umfassende Ermittlungspflichten auslösen könnte", vermag dem nicht zugestimmt zu werden. 28 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert. Deswegen ist die in § 28 Abs. 3 zweiter Fall VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf den gesetzlich zugewiesenen Raum beschränkt. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. dazu grundlegend ).
29 Hat das BFA die Aberkennung des subsidiären Schutzes (bei Straffälligkeit des subsidiär Schutzberechtigten) nur auf eine Änderung der Umstände nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 gestützt und zeigt sich im Beschwerdeverfahren, dass diese Einschätzung unrichtig war, so liegt es am BVwG zu klären, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung des verwaltungsbehördlichen Bescheides nach § 28 Abs. 3 zweiter Fall VwGVG unter Berücksichtigung der oben dargestellten Leitlinien aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung gegeben sind.
30 Wurden die Grundlagen für eine Aberkennung des subsidiären Schutzes nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 vom BFA bloß ansatzweise ermittelt oder wurden insoweit nur völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt, käme eine Aufhebung des verwaltungsbehördlichen Bescheides nach § 28 Abs. 3 zweiter Fall VwGVG in Betracht.
31 Das BVwG weist im Übrigen zu Recht darauf hin, dass eine Aberkennung des subsidiären Schutzes nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 nicht allein darauf gestützt werden kann, dass der Mitbeteiligte wegen eines Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , Ra 2018/18/0295, vor dem Hintergrund des Ahmed, C-369/17, näher erläutert hat, ist bei der Anwendung des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 jedenfalls auch eine Einzelfallprüfung durchzuführen, ob eine "schwere Straftat" im Sinne des Art. 17 Abs. 1 lit. b der Statusrichtlinie vorliegt. Dabei ist die Schwere der fraglichen Straftat zu würdigen und eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen. Bei dieser einzelfallbezogenen Würdigung sind auch die konkret verhängte Strafe und die Gründe für die Strafzumessung zu berücksichtigen.
32 Von Bedeutung ist weiters, dass es unter Berücksichtigung der Rechtskraftwirkungen von Bescheiden grundsätzlich nicht zulässig ist, die Aberkennung des subsidiären Schutzes auszusprechen, obwohl sich der maßgebliche Sachverhalt seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 (die nur im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung erteilt werden darf) nicht geändert hat (vgl. das Erkenntnis vom heutigen Tag, Ra 2019/18/0353, mwN).
33 Im Zusammenhang mit der Straffälligkeit des subsidiär Schutzberechtigten wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG überdies auf die Begründung des hg. Erkenntnisses vom , Ra 2017/18/0155, verwiesen, in dem die Unterschiede zwischen den Aberkennungstatbeständen des § 9 Abs. 2 Z 2 und Z 3 AsylG 2005 näher erläutert wurden. Liegt in Bezug auf den Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 seit der Zuerkennung des Schutzstatus oder der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung kein maßgeblich geänderter Sachverhalt vor, so wäre auch der Aberkennungstatbestand des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 in den Blick zu nehmen. Dieser Aberkennungstatbestand setzt jedoch im Unterschied zu § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 eine Gefahr des Fremden für die Allgemeinheit und damit eine entsprechende Gefährdungsprognose voraus. Insoweit ist es der Behörde bzw. dem Verwaltungsgericht aber nicht verwehrt, auch vor der Zuerkennung des Schutzstatus oder der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung begangene Straftaten in die Gesamtbeurteilung einfließen zu lassen, wenn danach neue Sachverhaltselemente hinzugetreten sind.
34 Zusammenfassend erweist sich die ersatzlose Behebung des verwaltungsbehördlichen Bescheides und die weitere Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, die das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vorgenommen hat, ohne die vorhandenen Anhaltspunkte für eine Aberkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 geprüft zu haben, als inhaltlich rechtswidrig.
35 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019180005.J00 |
Schlagworte: | Gemeinschaftsrecht Richtlinie richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts EURallg4/3 |
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