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VwGH vom 29.01.2019, Ro 2018/08/0020

VwGH vom 29.01.2019, Ro 2018/08/0020

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision der F D in Wien, vertreten durch Dr. Ingo Riss, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 14, Top 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , Zl. W266 2104353-1/14E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Hietzinger Kai), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Ausspruch über die Rückforderung der Notstandshilfe wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Im Übrigen wird die Revision als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht die Notstandshilfe der Revisionswerberin für näher genannte Zeiträume zwischen dem und dem widerrufen und die Revisionswerberin gemäß § 38 iVm § 25 Abs. 1 AlVG zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe in Höhe von EUR 3.240,92 verpflichtet.

2 Die Revisionswerberin habe am bei der belangten Behörde (im Folgenden: AMS) einen weiteren Antrag auf Zuerkennung von Notstandshilfe gestellt. Anlässlich der Antragsbearbeitung sei dem AMS bekannt geworden, dass der Ehemann der Revisionswerberin vom 4. April bis Kinderbetreuungsgeld in Höhe von EUR 14,53 täglich bezogen habe. Seit sei er in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis bei Mag. W. gestanden. Die Revisionswerberin habe im Rahmen einer Niederschrift angegeben, sie habe dem AMS die genannten Umstände nicht gemeldet, weil sie nicht gewusst habe, dass das Kinderbetreuungsgeld sowie das Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung genauso zum Familieneinkommen (zum Einkommen des Partners) zählen würden wie das Einkommen aus einer vollversicherten Beschäftigung. Das Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung habe durchgehend EUR 80,-- monatlich betragen.

3 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Bestimmungen über die Anrechnung des Partnereinkommens zwar mittlerweile aufgehoben worden, aber für diesen Fall auf Grund der expliziten Anordnung des Gesetzgebers weiterhin anzuwenden seien. Nach § 36a Abs. 3 Z 1 AlVG zähle das Kinderbetreuungsgeld sowohl für den Notstandshilfeempfänger als auch für dessen Ehegatten oder Lebensgefährten zum anzurechnenden Einkommen. Auch andere Leistungen wie u.a. das Wochengeld, das Karenzurlaubsgeld, das Pflegekarenzgeld und das Arbeitslosengeld würden als steuerfreies Partnereinkommen angerechnet werden. Allerdings erscheine die "Verfassungskonformität" des § 5 Abs. 1 zweiter Satz Notstandshilfeverordnung zweifelhaft, weil die dort (im Unterschied zum Partnereinkommen iSd § 6 Notstandshilfeverordnung) verfügte Nichtanrechnung des Kinderbetreuungsgeldes als Einkommen des Notstandshilfeempfängers im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut des § 36a AlVG stehe. Darauf müsse jedoch mangels Präjudizialität des § 5 NH-VO nicht näher eingegangen werden.

4 Unter Berücksichtigung des anzurechnenden Einkommens des Partners der Revisionswerberin habe das AMS den Bezug der Notstandshilfe für die genannten Zeiträume zu Recht widerrufen. Die Revisionswerberin habe weder den Bezug des Kinderbetreuungsgeldes durch ihren Ehemann noch dessen geringfügige Beschäftigung dem AMS gemeldet, obwohl im Antrag auf Zuerkennung von Notstandshilfe darauf hingewiesen worden sei, dass auch steuerfreies Nettoeinkommen anzugeben sei. Die Rückforderung von Notstandshilfe sei daher zu Recht erfolgt.

5 Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig. Die Revisionswerberin habe auf eine Gleichheitswidrigkeit hingewiesen, welche sich aus der Regelung des § 36a Abs. 3 Z 1 AlVG iVm § 5 und 6 NH-VO ergebe. Beziehe ein Arbeitsloser selbst Notstandshilfe und Kinderbetreuungsgeld, werde das Kinderbetreuungsgeld nicht als eigenes Einkommen auf die Notstandshilfe angerechnet, weil § 5 Abs. 1 letzter Satz NH-VO ausdrücklich normiere, dass eine Anrechnung von Einkommen iSd § 3 Abs. 1 Z 5 lit. a bis d EStG 1988 nicht stattfinde. Würde aber der Arbeitslose Notstandshilfe und sein Partner das Kinderbetreuungsgeld beziehen, sei gemäß § 36a Abs. 3 Z 1 AlVG iVm § 6 NH-VO das Kinderbetreuungsgeld als Partnereinkommen anzurechnen, weil § 6 NH-VO keine Regelung enthalte, die § 5 Abs. 1 letzter Satz NH-VO entsprechen würde. Das gleiche Einkommen werde sohin innerhalb eines Gesetzes iVm der NH-VO unterschiedlich gewertet. Dazu gebe es keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

6 In ihrer gegen dieses Erkenntnis gerichteten Revision verweist die Revisionswerberin auf die Zulässigkeitsbegründung des Verwaltungsgerichts und ergänzt, dass das angefochtene Erkenntnis mit dem Erkenntnis , in Widerspruch stehe. Demnach sei es nicht im Sinne eines Vorsatzes oder bedingten Vorsatzes vorwerfbar, dass eine Verpflichtung zur Bekanntgabe des Bezugs einer steuerfreien Sozialleistung wie des Kinderbetreuungsgeldes durch den Angehörigen (Partner) nicht erkannt worden sei. Das Wissen um die Anrechenbarkeit des Kinderbetreuungsgeldes würde sich dem Normadressaten auch nicht etwa z.B. durch naheliegende Überlegungen über den Zweck dieser Sozialleistung von selbst erschließen, wie schon die nicht widerspruchsfreie Rechtslage hinsichtlich der Notstandshilfe einerseits und hinsichtlich des Kinderbetreuungsgeldes andererseits zeigen würde. Zur Klärung der Frage, "inwieweit die Vorwerfbarkeit (dolus/dolus eventualis) maßgeblich ist", hätte es einer Beweisaufnahme (durch Parteienvernehmung) im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht bedurft.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Die Revision ist aus den genannten Gründen zulässig und im

Ergebnis teilweise berechtigt.

8 Gemäß § 79 Abs. 161 AlVG idF BGBl. I Nr. 157/2017 treten

§ 6 Abs. 2, § 36 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 und Abs. 6, § 42 sowie § 43 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 157/2017 mit in Kraft und gelten für Zeiträume nach dem . Für Zeiträume vor dem gelten § 6 Abs. 2, § 36 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 bis 8, § 42 sowie § 43 in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 157/2017 weiter.

9 Gemäß § 80 Abs. 16 AlVG idF BGBl. I Nr. 157/2017 treten § 34 samt Überschrift und § 42 Abs. 6 sowie die Notstandshilfeverordnung, BGBl. Nr. 352/1973, in der Fassung der Verordnung BGBl. II Nr. 490/2001, mit außer Kraft; sie gelten jedoch für Zeiträume vor dem weiter.

10 Gemäß § 33 Abs. 3 AlVG liegt Notlage (als Voraussetzung für die Gewährung der Notstandshilfe) vor, wenn dem Arbeitslosen die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse unmöglich ist.

11 Nach § 36 Abs. 1 AlVG in der für den vorliegenden Fall zeitraumbezogen noch anzuwendenden Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 157/2017 hatte der Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz nach Anhörung der gesetzlichen Interessenvertretungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer Richtlinien über das Vorliegen einer Notlage im Sinne des § 33 Abs. 3 AlVG zu erlassen.

12 Gemäß § 36 Abs. 2 AlVG in der genannten Fassung waren bei der Beurteilung der Notlage die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des (der) Arbeitslosen selbst sowie des (der) mit dem (der) Arbeitslosen im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehegatten, Ehegattin, eingetragenen Partners, eingetragenen Partnerin, Lebensgefährten oder Lebensgefährtin zu berücksichtigen.

§ 36 Abs. 3 AlVG in der genannten Fassung regelte, was bei der Erlassung der genannten Richtlinien einerseits bei der Berücksichtigung des Einkommens des Arbeitslosen und andererseits bei der Berücksichtigung des Einkommens des (der) Ehegatten, Ehegattin, eingetragenen Partners, eingetragenen Partnerin, Lebensgefährten oder Lebensgefährtin zu beachten war. Gemäß § 36a Abs. 1 AlVG in der genannten Fassung war bei der Feststellung des Einkommens für die Anrechnung auf die Notstandshilfe insbesondere nach § 36a Abs. 2 und 3 AlVG vorzugehen. Diese Bestimmungen lauten auszugsweise:

"(2) Einkommen im Sinne dieses Bundesgesetzes ist das Einkommen gemäß § 2 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes 1988 (EStG 1988), BGBl. Nr. 400, in der jeweils geltenden Fassung, (...).

(3) Dem Einkommen nach § 2 Abs. 2 EStG 1988 sind die folgenden Beträge hinzuzurechnen:

1. Steuerfreie Bezüge gemäß § 3 Abs. 1 Z 3 lit. b bis e,

Z 4 lit. a und lit. e, Z 5 lit. a bis d, Z 8 bis 12, Z 15 lit. a,

Z 15 lit. b, Z 22 bis 24, sowie § 29 Z 1 zweiter Satz und § 112 Z 1 EStG 1988;

2. (...)

(...)."

13 Das Kinderbetreuungsgeld ist ein steuerfreier Bezug iSd § 3 Abs. 1 Z 5 lit. b EStG 1988 und sohin gemäß § 36a Abs. 3 Z 1 AlVG dem Partnereinkommen zum Zwecke der Beurteilung der Notlage hinzuzurechnen. Eine Verfassungswidrigkeit dieser Anrechnungsbestimmung ist nicht zu erkennen, zumal ihr nur die Funktion zukommt, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Partners im Hinblick darauf einzuschätzen, ob sich der Arbeitslose in einer Notlage befindet, und dem Gesetzgeber ein weiter Ermessensspielraum bei der Entscheidung zusteht, auf welche Indikatoren er sich dabei stützt. § 6 der (mit außer Kraft getretenen, für den vorliegenden Fall aber noch anzuwendenden) Notstandshilfeverordnung bekräftigt diese gesetzliche Anrechnungsvorschrift. Auf die anderweitige, für das vorliegende Verfahren nicht maßgebliche Verordnungsbestimmung des § 5 Abs. 1 zweiter Satz Notstandshilfeverordnung, wonach bei einer Berücksichtigung des Einkommens des Arbeitslosen "eine Anrechnung von Einkommen gemäß § 3 Abs. 1 Z 4 lit. a und Z 5 lit. a bis d EStG 1988" nicht stattfindet, wird in § 6 Abs. 7 Notstandshilfeverordnung nicht verwiesen. Anders als die Revision meint, macht dies § 6 Abs. 7 Notstandshilfeverordnung nicht gesetzwidrig.

14 Das Verwaltungsgericht hat daher gemäß § 24 Abs. 2 erster Satz AlVG die Zuerkennung der Notstandshilfe, die wegen der unterbliebenen Anrechnung von Partnereinkommen teilweise nicht berechtigt war, in einem der Höhe nach nicht bestrittenen Ausmaß zu Recht widerrufen.

15 Die Revisionswerberin hat zum Rückforderungsanspruch nach § 25 Abs. 1 AlVG in ihrer Beschwerdeergänzung vom vorgebracht, weder unwahre Angaben gemacht, noch maßgebende Tatsachen verschwiegen zu haben. Sie habe auch nicht erkennen müssen, dass ihr die Leistung nicht in dieser Höhe gebühre. Es sei richtig, dass sie den Kinderbetreuungsgeldbezug ihres Ehemannes dem AMS nicht gemeldet habe. Sie habe allerdings nicht gewusst, dass sie dazu verpflichtet gewesen sei. Die Verwirklichung des Tatbestandes des § 25 Abs. 1 AlVG erfordere zumindest mittelbaren Vorsatz. Dieser sei nicht gegeben, wenn weder auf Grund der Gestaltung des Antragsformulars noch auf Grund der Rechtslage der Antragstellerin erkennbar sei, dass eine Verpflichtung zur Bekanntgabe der steuerfreien Sozialleistung "Kinderbetreuungsgeld" bestehe. Zwar sei im Antragsformular für den Anspruch auf Notstandshilfe beim Partnereinkommen der Hinweis enthalten, "jegliches (auch steuerfreie) Nettoeinkommen" des Angehörigen anzugeben. Trotz dieses Hinweises habe die Revisionswerberin aber nicht angenommen, dass darunter auch das Kinderbetreuungsgeld fallen könnte. Unter dem Wort "Nettoeinkommen" sei ihres Erachtens das Einkommen aus einer Beschäftigung zu verstehen.

16 Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

17 Es gehört aber im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer - bei der Geltendmachung von "civil rights" (zu denen auch Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zählen) in der Regel von Amts wegen durchzuführenden - mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen ().

18 Im vorliegenden Fall hat die Revisionswerberin bestritten, beim Ausfüllen des Antragsformulars gemäß § 46 Abs. 1 AlVG (bedingt) vorsätzlich unwahre Angaben gemacht oder maßgebende Tatsachen verschwiegen zu haben. Dieses Vorbringen ist prozessrelevant, hängt doch davon ab, ob das Verhalten der Revisionswerberin einen Rückforderungstatbestand iSd § 25 Abs. 1 AlVG erfüllt (zu den für die Beurteilung des Verschuldens maßgeblichen Feststellungen im Zusammenhang mit einem Ausfüllen des Antragsformulars vgl. ). Im Hinblick darauf hätte aber das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, um durch eine unmittelbare Beweisaufnahme (insbesondere Vernehmung der Revisionswerberin) eine zuverlässige Klärung des Sachverhalts herbeizuführen. Indem das Verwaltungsgericht die Durchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung unterlassen hat, hat es seine Entscheidung mit Rechtswidrigkeit belastet.

19 Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

20 Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2019:RO2018080020.J00

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