VwGH vom 29.03.2017, Ro 2015/15/0030

VwGH vom 29.03.2017, Ro 2015/15/0030

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofrätin Dr. Büsser sowie die Hofräte MMag. Maislinger, Mag. Novak und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Baumann, über die Revision des Finanzamtes St. Johann Tamsweg Zell am See in 5700 Zell am See, Brucker Bundesstraße 13, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom , Zl. RV/6100809/2014, betreffend Haftung für Lohnsteuer für das Jahr 2012 (mitbeteiligte Partei: P GmbH in St. M, vertreten durch die MOORE STEPHENS Salzburg GmbH, Wirtschaftstreuhand- und Steuerberatungsgesellschaft in 5020 Salzburg, Innsbrucker Bundesstraße 126), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Eine bei der Mitbeteiligten durchgeführte Lohnsteuerprüfung u. a. für den Zeitraum Jänner bis Dezember 2012 ergab, dass die Steuerfreiheit der an namentlich genannte Arbeitnehmer ausbezahlten Reisekostenvergütungen (Kilometergelder) mangels geeigneter Aufzeichnungen nicht anerkannt werden könne und die Mitbeteiligte für die Arbeitnehmern zugeflossenen geldwerten Vorteile der Privatnutzung des Firmenfahrzeuges für Fahrten zwischen Wohnort und Arbeitsstätte keinen Sachbezug angesetzt habe.

2 Das Finanzamt erließ am einen Haftungsbescheid gemäß § 82 EStG 1988 betreffend Lohnsteuer für das Jahr 2012 und verwies zur Begründung auf den Bericht über das Ergebnis der Außenprüfung vom selben Tag.

3 Eine gegen den Haftungsbescheid vom gerichtete Berufung der Mitbeteiligten vom wies das Finanzamt mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet ab.

4 Mit Schriftsatz vom beantragte die Mitbeteiligte die Vorlage der Beschwerde an das Bundesfinanzgericht.

5 In einer an das Bundesfinanzgericht gerichteten ersten Beschwerdeergänzung vom brachte sie weitere inhaltliche Argumente für die von ihr angestrebte stattgebende Entscheidung vor. In einer zweiten Ergänzung vom führte sie sodann u.a. aus, dass § 201 BAO gemäß § 202 Abs. 1 BAO auch für Haftungsbescheide gelte. Gemäß § 201 BAO könne bei Selbstbemessungsabgaben - nach Maßgabe der Abs. 2 und 3 - auf Antrag des Abgabepflichtigen oder von Amts wegen eine erstmalige Festsetzung der Abgabe mit Abgabenbescheid erfolgen, wenn der Abgabepflichtige, obwohl er dazu verpflichtet sei, der Behörde keinen selbst berechneten Betrag bekanntgebe oder wenn sich die Selbstberechnung als nicht richtig erweise. Die Mitbeteiligte habe die Selbstbemessungsabgabe fristgerecht dem Finanzamt gemeldet. Es komme daher nur der Tatbestand des § 201 Abs. 2 Z 3 BAO in Frage, wonach das Finanzamt die Festsetzung von Selbstbemessungsabgaben vornehmen könne, wenn bei sinngemäßer Anwendung des § 303 BAO die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens vorlägen. Da vom Finanzamt weder im angefochtenen Bescheid noch in der Beschwerdevorentscheidung dazu Stellung genommen worden sei, welcher Wiederaufnahmegrund vorliege, werde die ersatzlose Aufhebung des Haftungsbescheides beantragt.

6 Das Bundesfinanzgericht brachte dem Finanzamt die Beschwerdeergänzungen vom und vom zur Kenntnis, welches dazu mit Schriftsätzen vom und vom Stellung nahm und eine abweisende Erledigung der Berufung beantragte.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis hob das Bundesfinanzgericht den Haftungsbescheid betreffend Lohnsteuer 2012 vom auf und begründete die Aufhebung damit, dass der Haftungsbescheid nur auf den Bericht über das Ergebnis der Außenprüfung vom selben Tag verweise. Der Verzicht auf eine eigenständige zusammenhängende Darstellung des Sachverhalts und dessen rechtliche Würdigung ziehe wesentliche Begründungsmängel nach sich. So habe das Finanzamt bei der Festsetzung einer Abgabe nach § 201 BAO nach der ständigen Rechtsprechung des unabhängigen Finanzsenats und des Bundesfinanzgerichts jene Sachverhaltselemente zu benennen und den sechs Fallgruppen des § 201 Abs. 2 und 3 BAO zuzuordnen, welche die erstmalige Festsetzung der Abgabe rechtfertigten. Dies könne im Rechtsmittelverfahren bzw. im gerichtlichen Verfahren nicht nachgeholt werden, weshalb der Bescheid vom schon aus diesem Grund ersatzlos zu beheben wäre. Der Bescheid weise zudem einen weiteren Begründungsmangel auf, der nicht sanierbar sei:

Das Finanzamt habe die Festsetzung der Lohnsteuer für die Monate Jänner bis Dezember 2012 in einem Haftungsbescheid zusammengefasst und hätte jene Sachverhaltselemente benennen und den sechs Fallgruppen des § 201 Abs. 2 und 3 BAO zuordnen müssen, die die erstmalige Festsetzung der Abgabe rechtfertigten. Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Lohnsteuer November und Dezember 2012 sei § 201 Abs. 2 Z 1 BAO, weil der Haftungsbescheid am , und damit innerhalb eines Jahres ab Bekanntgabe des für diese beiden Monate selbstberechneten Betrages, ergangen sei. Als Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Lohnsteuer Jänner bis Oktober 2012 komme hingegen nur § 201 Abs. 2 Z 3 zweiter Halbsatz BAO infrage, zumal ein selbstberechneter Betrag bekanntgegeben worden sei, der sich nach Ansicht des Finanzamts als nicht richtig erwiesen habe. Die letztgenannte Bestimmung verweise auf § 303 BAO und lege fest, dass eine Festsetzung nach dieser Norm nur erfolgen könne, wenn die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme vorlägen. Das Finanzamt nenne aber weder im Haftungsbescheid noch in der Beschwerdevorentscheidung einen Wiederaufnahmegrund, der im Streitfall wohl nur der so genannte Neuerungstatbestand des § 303 Abs. 1 lit. b BAO sein könne. Dass die im Zuge der Außenprüfung neu hervorgekommenen Tatsachen aufgrund des im Haftungsbescheid vorgenommenen Verweises auf den Bericht über das Ergebnis der Außenprüfung eindeutig erkennbar seien, treffe nicht zu, weil nicht wesentlich sei, ob das Gericht einen Wiederaufnahmegrund erkenne. Entscheidend sei, ob auch ein durchschnittlicher Bescheidadressat erkennen könne, dass aufgrund des Vorliegens eines Wiederaufnahmegrundes in seine an sich durch die ursprünglich vom Finanzamt unbeanstandet gebliebene Selbstberechnung und den Zeitablauf gesicherte Rechtsposition eingegriffen werde und auf welche Rechtsgrundlage sich die Behörde dabei stütze. Im verfahrensgegenständlichen Fall sei das zu verneinen, zumal sich weder im Haftungsbescheid noch im Bericht über die Außenprüfung ein Hinweis auf die Wiederaufnahme finde, etwa in Form der Nennung der Rechtsgrundlage oder des Wortes Wiederaufnahme. Die allfällige Erkennbarkeit eines Wiederaufnahmegrundes in einem verwiesenen Dokument könne dessen Darlegung in einem Bescheid, verbunden mit der rechtlichen Subsumtion, nicht ersetzen. Da es dem Haftungsbescheid an der Darlegung des Wiederaufnahmegrundes, der maßgeblichen Tatsachen und Beweismittel und der das Neuhervorkommen der Tatsachen und Beweismittel bestätigenden Umstände mangle, könne die Festsetzung nicht auf § 201 Abs. 2 Z 3 BAO gestützt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes berechtige die Bestimmung des § 289 Abs. 1 BAO (nunmehr: § 278 BAO) die Abgabenbehörde zweiter Instanz nicht dazu, den vom Finanzamt herangezogenen Wiederaufnahmegrund durch einen anderen zu ersetzen. Liege der vom Finanzamt angenommene Wiederaufnahmegrund nicht vor (oder habe dieses die Wiederaufnahme auf keinen Wiederaufnahmegrund gestützt), müsse die Berufungsbehörde den vor ihr angefochtenen Wiederaufnahmebescheid des Finanzamtes ersatzlos beheben.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des Finanzamtes.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 Gemäß § 202 Abs. 1 BAO gilt § 201 sinngemäß, wenn nach den Abgabenvorschriften die Selbstberechnung einer Abgabe einem abgabenrechtlich Haftungspflichtigen obliegt. § 201 BAO ist im Revisionsfall bereits in der Fassung nach dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013, (§ 323 Abs. 37 BAO) und nach dem VwG-AnpG-BMF, BGBl. I Nr. 70/2013, (§ 323 Abs. 40 BAO) anzuwenden.

11 Die Festsetzung gemäß § 201 BAO kann demnach dann, wenn sich die bekanntgegebene Selbstberechnung im Sinne des Abs. 1 der Bestimmung als "nicht richtig" erweist, gemäß Abs. 2 Z 3 erfolgen, "wenn bei sinngemäßer Anwendung des § 303 die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens vorliegen würden". Die Vorschrift hat insoweit den Zweck, einen "Gleichklang mit der bei einem durch Bescheid abgeschlossenen Verfahren geltenden Rechtslage" herbeizuführen (vgl. , und vom , 2011/15/0156).

12 Gemäß § 279 Abs. 1 BAO hat das Bundesfinanzgericht außer in hier nicht interessierenden Fällen des § 278 immer in der Sache selbst zu entscheiden. Es ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Bei einer Beschwerde gegen eine Wiederaufnahme von Amts wegen ist die Sache, über welche das Bundesfinanzgericht gemäß § 279 Abs. 1 BAO zu entscheiden hat, nur die Wiederaufnahme aus den vom Finanzamt herangezogenen Gründen, also jene wesentlichen Sachverhaltsmomente, die das Finanzamt als Wiederaufnahmegrund beurteilt hat. Unter Sache ist in diesem Zusammenhang die Angelegenheit zu verstehen, die den Inhalt des Spruches des Bescheides der Abgabenbehörde erster Instanz gebildet hatte. Die Identität der Sache, über die abgesprochen wurde, wird durch den Tatsachenkomplex begrenzt, der als neu hervorgekommen von der für die Wiederaufnahme zuständigen Behörde zur Unterstellung unter den von ihr gebrauchten Wiederaufnahmetatbestand herangezogen wurde (vgl. , mwN).

13 Aufgabe des Bundesfinanzgerichts bei Entscheidungen über ein Rechtsmittel gegen die amtswegige Wiederaufnahme durch ein Finanzamt ist es daher, zu prüfen, ob dieses Verfahren aus den vom Finanzamt gebrauchten Gründen wieder aufgenommen werden durfte, nicht jedoch, ob die Wiederaufnahme auch aus anderen Wiederaufnahmegründen zulässig gewesen wäre. Liegt der vom Finanzamt angenommene Wiederaufnahmegrund nicht vor oder hat das Finanzamt die Wiederaufnahme tatsächlich auf keinen Wiederaufnahmegrund gestützt, muss das Bundesfinanzgericht den vor ihm bekämpften Wiederaufnahmebescheid des Finanzamtes ersatzlos beheben (vgl. nochmals ). Gleiches gilt für Bescheide iSd § 201 Abs. 2 Z 3 BAO () und entsprechende Bescheide nach § 202 BAO.

14 Gemäß § 303 Abs. 1 lit. b BAO kann ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren von Amts wegen wiederaufgenommen werden, wenn Tatsachen oder Beweismittel im Zeitpunkt der Bescheiderlassung "im abgeschlossenen Verfahren" bereits existierten, aber erst danach hervorgekommen sind (vgl. ).

15 Entscheidend ist im Fall einer amtswegigen Festsetzung nach § 201 Abs. 2 Z 3 zweiter Fall BAO und entsprechenden Bescheiden nach § 202 BAO somit, ob und gegebenenfalls welche für das Finanzamt seit der Selbstbemessung neu hervorgekommenen Umstände seitens des Finanzamts herangezogen wurden, die als Wiederaufnahmegrund geeignet sind.

16 Im Haftungsbescheid gemäß § 82 EStG 1988 betreffend Lohnsteuer für das Jahr 2012 vom wird zur Begründung auf den Bericht über das Ergebnis einer bei der Mitbeteiligten durchgeführten Außenprüfung vom selben Tag verwiesen. Dass ein solcher Verweis grundsätzlich zulässig ist, entspricht ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. ein weiteres Mal ). Im verwiesenen Bericht wird u.a. ausgeführt, dass die Mitbeteiligte für die Arbeitnehmern zugeflossenen geldwerten Vorteile der Privatnutzung des Firmenfahrzeuges für Fahrten zwischen Wohnort und Arbeitsstätte keinen Sachbezug angesetzt und Reisekostenvergütungen (Kilometergelder) trotz Nichtvorliegens geeigneter Aufzeichnungen steuerfrei belassen habe. Vor dem Hintergrund der unmittelbar vor der Bescheiderlassung durchgeführten Außenprüfung bringt die Bescheidbegründung mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck, dass es sich dabei um den vom Finanzamt herangezogenen Tatsachenkomplex handelt (vgl. § 201 Abs. 2 Z 3 zweiter Fall).

17 Das Bundesfinanzgericht hat, sofern die Bescheidausführungen des wiederaufnehmenden Finanzamtes mangelhaft sind, ausgehend von einem vom Finanzamt herangezogenen Wiederaufnahmegrund, diesen zu prüfen und zu würdigen und gegebenenfalls erforderliche Ergänzungen vorzunehmen (vgl. ). Die Ergänzung einer mangelhaften Begründung der auf Grund der Feststellungen einer abgabenbehördlichen Prüfung ergangenen Wiederaufnahmebescheide in Richtung der tatsächlich vom Finanzamt herangezogenen Wiederaufnahmegrundlagen stellt kein unzulässiges Auswechseln von Wiederaufnahmegründen dar (vgl. neuerlich das Erkenntnis vom , Ro 2014/15/0035). Das Gleiche muss im Fall einer amtswegigen Festsetzung nach § 201 Abs. 2 Z 3 zweiter Fall BAO und entsprechenden Bescheiden nach § 202 BAO gelten.

18 Das Finanzamt weist demnach in der Revision zu Recht darauf hin, dass das angefochtene Erkenntnis von jener Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche, nach der ein vom Finanzamt genannter Wiederaufnahmegrund im Rechtsmittelverfahren zu prüfen und zu würdigen ist.

19 Entgegen der vom Bundesfinanzgericht im angefochtenen Erkenntnis vertretenen Ansicht erfordern § 201 BAO und ebenso § 202 BAO nicht, dass im Spruch des Bescheides zum Ausdruck gebracht wird, auf welchen Tatbestand des § 201 BAO der Bescheid gestützt ist (vgl. ).

20 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich daher als mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2017:RO2015150030.J00

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