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VwGH vom 19.06.2013, 2011/16/0227

VwGH vom 19.06.2013, 2011/16/0227

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Mairinger, Mag. Dr. Köller, Dr. Thoma sowie die Hofrätin Mag. Dr. Zehetner als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Wagner, über die Beschwerde des Finanzamtes Baden Mödling gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom , Zl. RV/2989-W/10, betreffend Gewährung von Familienbeihilfe (Differenzzahlung) für den Zeitraum Februar 2009 (mitbeteiligte Partei: R in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein deutscher Staatsangehöriger, beantragte die Gewährung von Familienbeihilfe (Differenzzahlung) für seine drei in Polen wohnhaften minderjährigen Kinder für Februar bis November 2009.

Mit Bescheid vom wies das beschwerdeführende Finanzamt den Antrag für den Zeitraum Februar 2009 mit der Begründung ab, nach den "Prioritätsregeln des Artikel 10a der DVO 574/72 und Anhang 8 DVO" übernehme jener Staat die Kosten der Familienleistungen auf Grund der ersten Beschäftigung für den gesamten Zeitraum. Mit Polen sei ein Bezugszeitraum von einem Monat vereinbart worden. Da der Mitbeteiligte ab in Österreich beschäftigt sei, sei ein Anspruch auf Differenzzahlung für den Februar 2009 nicht gegeben.

Mit Schriftsatz vom berief der Mitbeteiligte dagegen mit der Begründung, er habe die Beschäftigung mit aufgenommen, weil am ein Feiertag gewesen sei und er an diesem Tag keinen Vertrag habe unterschreiben können. Außerdem seien seiner Ehefrau vergleichbare Leistungen in Polen seit September 2008 abgelehnt worden.

Mit Berufungsvorentscheidung vom wies das Finanzamt die Berufung als unbegründet ab. Der Mitbeteiligte sei "ab " in Österreich bei einem näher genannten Unternehmen beschäftigt gewesen. Da die erste Beschäftigung im Monat Februar 2009 durch seine Ehefrau in Polen ausgeübt worden sei, bestehe kein Anspruch auf Differenzzahlung in Österreich. Dass in Polen auf Grund der Höhe des Familieneinkommens nach den polnischen Rechtsvorschriften kein Anspruch auf Familienleistungen bestehe, begründe nach den genannten Prioritätsregeln keinen Anspruch auf Differenzzahlung in Österreich.

In dem mit Schriftsatz vom eingebrachten Vorlageantrag wies der Mitbeteiligte im Zusammenhang mit der "Erstbeschäftigung" seiner Ehefrau darauf hin, dass die zuständige polnische Sozialbehörde seiner Ehefrau die vergleichbaren polnischen Familienleistungen wegen des Einkommenskriteriums für dieselbe Zeit abgelehnt habe. Den entsprechenden Ablehnungsbescheid mit beglaubigter Übersetzung habe er bereits vorgelegt.

Mit dem angefochtenen Bescheid hob die belangte Behörde den vor ihr bekämpften Bescheid des Finanzamtes vom auf. Der Mitbeteiligte habe im Jahr 2009 vom 2. Februar bis zum bei einem näher genannten österreichischen Unternehmen gearbeitet. Die Familie des Mitbeteiligten habe ihren Wohnsitz in Polen, der Mitbeteiligte selbst habe bereits seit einen Nebenwohnsitz in Österreich gehabt. Die Ehefrau des Mitbeteiligten sei im fraglichen Zeitraum in Polen beschäftigt gewesen. Da die Einkommensgrenze nach polnischem Recht überschritten worden sei, habe kein Anspruch auf polnische Familienbeihilfe bestanden. Nach Wiedergabe verschiedener Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates und des Art. 10a der Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates hielt die belangte Behörde fest, die "Erstbeschäftigung" werde im Februar (von der Ehefrau des Mitbeteiligten) im Ausland ausgeübt. Es sei unerheblich, ob eine Erstbeschäftigung des Antragstellers oder des Partners vorliege. Deshalb bestünden die ausschließliche Zuständigkeit zur Zahlung der Familienleistungen des Heimatstaates und kein Anspruch auf Differenzzahlung für Februar in Österreich.

Auf Grund der vorgebrachten Unterlagen sei jedoch festgestellt worden, dass die Ehefrau des Mitbeteiligten bereits seit September 2008 keinen Anspruch auf polnische Beihilfe gehabt habe, weil die Einkommensgrenze für die Gewährung nach polnischem Recht überschritten worden sei. Aus diesem Grund sei dem Mitbeteiligten durch das Finanzamt auch für den restlichen Bezugszeitraum (März bis November 2009) als Differenzzahlung der volle Anspruch auf österreichische Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag gewährt worden. Demnach habe es keinen Anspruch auf polnische Beihilfe im strittigen Monat Februar 2009 gegeben. Wenn in einem der beiden Mitgliedstaaten, entweder im Beschäftigungsstaat oder im Wohnsitzstaat, kein Anspruch auf Beihilfe auf Grund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften bestehe, könne es auch zu keiner Kumulierung von Ansprüchen kommen. Deswegen seien in einem Fall wie dem im Beschwerdefall vorliegenden die "Antikumulierungs"-Regeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates sowie der Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates nicht anzuwenden. In diesem Fall sei somit nach den Vorschriften des Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates der Beschäftigungsstaat für die Familienleistungen zuständig.

Dagegen richtet sich die gemäß § 292 BAO erhobene Beschwerde des Finanzamtes, mit dem ersichtlich erklärten Umfang der Anfechtung, dass die belangte Behörde Art. 10a Buchstabe d der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates nicht angewendet habe.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und reichte eine Gegenschrift ein, in welcher sie die Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967 (FLAG) haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für minderjährige Kinder.

§ 3 FLAG legt zusätzliche Voraussetzungen für Personen und für Kinder fest, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben.

Gemäß § 53 Abs. 1 FLAG sind Staatsbürger von Vertragsparteien des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), soweit es sich aus dem genannten Übereinkommen ergibt, im FLAG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt. Hiebei ist der ständige Aufenthalt eines Kindes in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums nach Maßgabe der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem ständigen Aufenthalt eines Kindes in Österreich gleichzuhalten.

Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der konsolidierten Fassung ABlEG Nr. L 28 vom , (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchstabe f der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gemäß einer der Vorschriften in den vorhergehenden Buchstaben oder einer der Ausnahmen oder Sonderregelungen der Art. 14 bis 17 auf sie anwendbar würden, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, nach Maßgabe allein dieser Rechtsvorschriften.

Gemäß Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 hat ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.

Der mit "Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen gemäß den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates und den Rechtsvorschriften des Staates, in dem die Familienangehörigen wohnen" überschriebene Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:

"(1) Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Artikel 73 bzw. 74 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag."

Titel II der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der konsolidierten Fassung ABlEG Nr. L 28 vom , (im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72) enthält Vorschriften mit der Überschrift "Durchführung der allgemeinen Vorschriften der Verordnung" und darunter einen Art. 10 mit der Überschrift "Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder - beihilfen für Arbeitnehmer und Selbständige" (sogenannte Antikumulierungsvorschriften) sowie einen Art. 10a.

Art. 10a der Verordnung Nr. 574/72 lautet samt Überschrift:

"Art. 10a

Vorschriften für Arbeitnehmer oder Selbständige, für die während ein und desselben Zeitraums oder eines Teils eines Zeitraums nacheinander Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gelten

Galten für einen Arbeitnehmer oder Selbständigen während eines Zahlungszeitraums, wie er in den Rechtsvorschriften eines oder zweier beteiligter Mitgliedstaaten für die Gewährung von Familienleistungen vorgesehen ist, nacheinander die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten, so sind folgende Vorschriften anzuwenden:

a) Die Familienleistungen, die der Betreffende nach den Rechtsvorschriften jedes dieser Mitgliedstaaten beanspruchen kann, entsprechen der Anzahl der nach den jeweiligen Rechtsvorschriften geschuldeten täglichen Leistungen. Sehen die Rechtsvorschriften dieser Mitgliedstaaten keine täglichen Familienleistungen vor, so werden die Familienleistungen im Verhältnis der Dauer gewährt, während der für die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines jeden Mitgliedstaats unter Berücksichtigung des in den jeweiligen Rechtsvorschriften festgelegten Zeitraums galten.


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b)
...
c)
...
d)
Abweichend von Buchstabe a) übernimmt im Rahmen der in Anhang 8 der Durchführungsverordnung genannten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der Träger, der die Kosten der Familienleistungen auf Grund der ersten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit im Verlauf des Bezugszeitraums zu tragen hat, diese Kosten für den gesamten Zeitraum."
Anhang 8 der Verordnung Nr. 574/72 samt Überschrift lautet:
"Anhang 8
Gewährung von Familienleistungen
(Artikel 4 Absatz 8, Artikel 10a Buchstabe d und Artikel 122 der Durchführungsverordnung)
Art. 10a Buchstabe d der Durchführungsverordnung gilt für:
A. Arbeitnehmer und Selbständige
a)
Mit einem Kalendermonat als Bezugszeitraum in den Beziehungen zwischen
-
...
-
Österreich und Polen
-
..."
Nach dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung des Art. 10a der Verordnung Nr. 574/72 samt seiner Überschrift ist diese Bestimmung anwendbar, wenn in einem Bezugszeitraum (hier der Kalendermonat)
nacheinander die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten galten, sohin wenn für einen Teil des Zeitraums die Rechtsvorschriften des einen Mitgliedstaates und danach für den weiteren Teil (ausschließlich) die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates galten.
Im Beschwerdefall galten nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen der belangten Behörde, dass die Ehefrau des Mitbeteiligten im gesamten Streitzeitraum in Polen beschäftigt gewesen ist, die Rechtsvorschriften Polens nach Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 hinsichtlich der Ehefrau für den gesamten Februar 2009. Die Rechtsvorschriften Österreichs galten nach derselben Bestimmung für den Mitbeteiligten selbst ab dem . Damit kann aber nicht davon gesprochen werden, dass im Beschwerdefall (wobei es nicht darauf ankommt, welcher Elternteil des Kindes die Voraussetzungen erfüllt - vgl. etwa das (Christine Dodl und Petra Oberhollenzer), Rn 58 bis 62) die Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten
nacheinander gegolten haben. Für den größten Teil des Zeitraums Februar 2009 haben nämlich die Rechtsvorschriften beider Mitgliedstaaten nebeneinander gegolten.
Somit ist im Beschwerdefall der Tatbestand des Art. 10a der Verordnung Nr. 574/72 gar nicht erfüllt und hat die belangte Behörde im Ergebnis zu Recht Art. 10a der Verordnung Nr. 574/72 nicht angewendet.
Es sind somit für den Kalendermonat Februar 2009 für den Mitbeteiligten nach Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften Österreichs anzuwenden, er hat damit nach Art. 73 der Verordnung 1408/71 Anspruch auf Familienbeihilfe unter Anwendung der Antikumulierungsvorschriften nach Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und des Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 unter Beachtung des Anspruchs auf Familienleistungen im Wohnmitgliedstaat (vgl. das (Gudrun Schwemmer), Rn 55).
Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am