VwGH vom 10.05.2022, Ra 2021/11/0135
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der H L in W, vertreten durch die Schwarz Schönherr Rechtsanwälte KG in 1010 Wien, Parkring 12, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W261 2242840-1/14E, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin vom auf Feststellung ihrer Zugehörigkeit zum Personenkreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 sowie 14 Abs. 1 und 2 BEinstG ab. Unter einem sprach die Behörde aus, der Grad der Behinderung der Revisionswerberin betrage 30 %.
2Die Revisionswerberin erhob Beschwerde und brachte vor, es seien von der belangten Behörde bzw. in den dem Bescheid vom zugrunde gelegten Gutachten neben weiteren physischen und psychischen Leiden insbesondere Schmerzzustände infolge einer Endometriose sowie die sich aus der Adipositas per magna ergebenden Beeinträchtigungen der Revisionswerberin nicht ausreichend berücksichtigt worden.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und bestätigte den Bescheid vom mit der Maßgabe, dass die Anführung des Grades der Behinderung im Spruch entfalle. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
4Das Verwaltungsgericht gab auszugsweise das von der belangten Behörde eingeholte Gutachten Dris. R vom wieder und hielt fest, dass bei der Revisionswerberin kein Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H. vorliege.
5Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, die von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Zwangsstörung sei im Gutachten Dris. R, welches das Bundesverwaltungsgericht als richtig, vollständig, widerspruchsfrei und schlüssig erachtete, bereits berücksichtigt worden. Die Einstufung ihrer psychiatrischen Leiden sei anhand der Einschätzungsverordnung erfolgt. Die Adipositas per magna erreiche nach den Ausführungen der Sachverständigen keinen Grad der Behinderung. Hinsichtlich der in der Beschwerde angeführten gynäkologischen Leiden stünde eine diagnostische Abklärung noch aus. Betreffend die geltend gemachten Zahn- und Augenbeschwerden seien keine medizinischen Befunde vorgelegt worden, sodass diese Leiden von der Sachverständigen nicht hätten berücksichtigt werden können. Dem Gutachten Dris. R sei die Revisionswerberin nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten.
6Im Hinblick auf den festgestellten Grad der Behinderung von 30 v.H. seien die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 BEinstG gegenständlich nicht erfüllt.
7Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht dahin, dass sich der maßgebliche Sachverhalt aus dem Akt der belangten Behörde sowie insbesondere aus dem von dieser eingeholten medizinischen Gutachten ergebe. Die strittige Tatsachenfrage, d.h. die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen der Revisionswerberin, seien von einem Sachverständigen zu beurteilen. Keine der Parteien habe einen Verhandlungsantrag gestellt. All dies lasse die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel sei, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis diene. Zudem werde auf diese Weise das Interesse an der materiellen Wahrheitsfindung und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürzt.
8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich zur Begründung ihrer Zulässigkeit u.a. auf eine Abweichung des Bundesverwaltungsgerichts von der hg. Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht beruft.
9Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revision ist auch begründet.
11Nach der ständigen hg. Rechtsprechung geht es bei der Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten um ein „civil right“ im Sinn des Art. 6 EMRK, sodass die Durchführung einer Verhandlung essenziell ist (vgl. aus vielen , mwN). Gerade die mündliche Verhandlung, deren Durchführung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichts steht (siehe ), ermöglicht es, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, einerseits ergänzende Fragen an die beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (, mwN). Die Einschätzung des Grades der Behinderung auf der Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens stellt auch keine Frage bloß technischer Natur dar (vgl. auf die Judikatur des EGMR Bezug nehmend ).
12Weiters haben Einwendungen gegen die Schlüssigkeit eines Gutachtens einschließlich der Behauptung, die Befundaufnahme sei unzureichend bzw. der Sachverständige gehe von unrichtigen Voraussetzungen aus, ebenso wie Einwendungen gegen die Vollständigkeit des Gutachtens auch dann Gewicht, wenn sie nicht auf gleicher fachlicher Ebene angesiedelt sind, also insbesondere auch ohne Gegengutachten erhoben werden. Die unvollständige und unrichtige Befundaufnahme vermag auch ein Laie nachvollziehbar darzulegen. Das Verwaltungsgericht ist in diesem Fall verpflichtet, sich mit diesen - der Sachverhaltsebene zuzurechnenden - Einwendungen in einer Verhandlung auseinanderzusetzen (; , Ra 2019/07/0077, mwN).
13In der vorliegenden Konstellation war das Bundesverwaltungsgericht somit gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG gehalten, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal in Anbetracht des Beschwerdevorbringens und der dort gegen das Gutachten erhobenen Einwendungen der Sachverhalt nicht als geklärt zu betrachten war.
14Das angefochtene Erkenntnis, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage insbesondere in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannte, war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
15Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht, soweit es davon ausging, von der Revisionswerberin ins Treffen geführte Leiden seien allein deshalb nicht zu berücksichtigen, weil es diesbezüglich an medizinischen Befunden und diagnostischen Abklärungen fehle, seine Verpflichtung verkannt, den maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 17 VwGVG iVm. § 39 Abs. 2 AVG; vgl. erneut ).
16Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG unterbleiben.
17Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da die Revisionswerberin aufgrund der bewilligten Verfahrenshilfe keine Gebühr nach § 24a Z 1 VwGG leisten muss (siehe auch § 23 BEinstG), war das diesbezügliche Kostenmehrbegehren abzuweisen.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021110135.L00 |
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