VwGH vom 22.01.2014, 2013/21/0175

VwGH vom 22.01.2014, 2013/21/0175

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des MA, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-02/32/4886/2013-11, betreffend Festnahme und Zurückschiebung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Pakistans, reiste nach eigenen Angaben am Landweg über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn am illegal nach Österreich ein, wo er nach dem Grenzübertritt um 05.15 Uhr in Andau aufgegriffen wurde. Um 10.00 Uhr desselben Tages beantragte er die Gewährung von internationalem Schutz.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom vollinhaltlich abgewiesen, der Beschwerdeführer wurde nach Pakistan ausgewiesen. Dagegen erhob er Beschwerde, die der Asylgerichtshof mit - am zugestelltem - Erkenntnis vom als unbegründet abwies. Der ihm darin auferlegten Verpflichtung, binnen 14 Tagen nach Zustellung des genannten Erkenntnisses aus Österreich auszureisen, kam der Beschwerdeführer nicht nach.

Am erging daher ein auf § 74 Abs. 2 Z. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG gestützter Festnahmeauftrag. Dieser wurde am vollzogen. Am Tag darauf wurde der Beschwerdeführer mit Bezug auf Art. 3 Abs. 1 des mit Ungarn abgeschlossenen Rückübernahmeabkommens gemäß § 45 Abs. 1 Z. 1 FPG nach Ungarn zurückgeschoben. Die Außerlandesschaffung erfolgte am um 10.00 Uhr.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am Beschwerde, in der er geltend machte, seine Festnahme und die Überstellung an die ungarischen Behörden wären "rechtswidrig und willkürlich ohne Rechtsgrundlage" erfolgt. Infolge der durch den Asylgerichtshof gebilligten Ausweisung nach Pakistan komme eine Überstellung nach Ungarn nicht in Betracht. Das als Rechtsgrundlage genannte Übereinkommen mit Ungarn könne "die Entscheidung der Asylbehörden nicht außer Kraft setzen". Auch erweise sich die gewählte Vorgangsweise als mit der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungs-RL) unvereinbar.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die Beschwerde nach mündlicher Verhandlung gemäß § 67a Abs. 1 Z. 2 iVm § 67c Abs. 3 AVG als unbegründet ab.

Nach Wiedergabe des bereits dargestellten Sachverhalts und der Rechtslage führte sie - auf das im vorliegenden Zusammenhang Wesentliche zusammengefasst - aus, nach Rechtskraft des erwähnten Erkenntnisses des Asylgerichtshofes sei dem Beschwerdeführer nicht mehr die vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 zugekommen. Er wäre verpflichtet gewesen, binnen 14 Tagen nach Zustellung dieses Erkenntnisses aus Österreich auszureisen. Da er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei und er auch über keine Aufenthaltsbewilligung nach anderen Gesetzen verfügt habe, sei sein Aufenthalt rechtswidrig gewesen. Eine zwangsweise Außerlandesschaffung sei - wie auch im Erkenntnis des Asylgerichtshofes angekündigt - rechtlich möglich. Die Fremdenpolizeibehörde sei nicht zwingend verpflichtet, die in Entsprechung des § 10 AsylG 2005 ergangene Ausweisung in den Heimatstaat exekutiv durchzusetzen, sofern ihr noch ein anderes Verfahren zur Außerlandesschaffung des Fremden zur Verfügung stehe. Dies liege hier in einer Zurückschiebung des Beschwerdeführers nach § 45 Abs. 1 Z. 1 FPG, sei er doch am nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist und noch am selben Tag - also binnen sieben Tagen - betreten worden. Die Fremdenpolizeibehörde sei nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht verpflichtet gewesen, den Beschwerdeführer ohne Verzug, also bereits am oder den darauf folgenden Tagen, nach Ungarn zurückzuschieben.

§ 45 Abs. 1 FPG normiere nämlich keine Frist für die Zurückschiebung. Der Asylantrag habe somit zum Anlass genommen werden dürfen, den Fremden nicht unverzüglich zurückzuschieben. Diese Maßnahme stehe auch mit Art. 3 Abs. 1 des zwischen der Republik Österreich und Ungarn bestehenden Rückübernahmeabkommens aus 1992 im Einklang. Schließlich sei kein Grund ersichtlich, weshalb die gewählte Vorgangsweise mit der Richtlinie 2008/115/EG unvereinbar sein sollte, zumal diese selbst eine Inhaftnahme zum Zweck der Abschiebung zulasse. Die Zurückschiebung des Beschwerdeführers sei daher rechtmäßig erfolgt; die dagegen sowie gegen die am Tag davor erfolgte Festnahme erhobene Beschwerde sei als unbegründet abzuweisen gewesen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Der Beschwerdeführer vertritt nunmehr die Ansicht, eine Zurückschiebung im Sinne des Gesetzes liege schon deshalb nicht vor, weil er nicht "betreten" worden sei, sondern sich aktiv an die Behörden gewandt habe, um einen Asylantrag zu stellen, und weil "die fünftägige Frist im April 2013 längst abgelaufen war". "Der völkerrechtliche Vertrag zwischen Österreich und Ungarn" könne keine rechtliche Basis "für die durchgeführte Abschiebung" bilden, weil dieser Vertrag "keine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG" sei und es sich auch um keine "für den Beschwerdeführer 'günstigere Bestimmung' im Sinne der Absätze 2-5 der genannten Richtlinie" handle. Die dennoch vorgenommene Zurückschiebung ignoriere somit die rechtskräftige Entscheidung des Asylgerichtshofes und erweise sich daher als gesetzwidrig. Dasselbe gelte für die Festnahme als Vorbereitung dieser Zurückschiebung.

Der Beschwerde kommt im Ergebnis Berechtigung zu:

Vorauszuschicken ist, dass gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren - soweit (wie für den vorliegenden "Altfall") durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz (VwGbk-ÜG), BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist - die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen des VwGG weiter anzuwenden sind.

§ 45 Abs. 1 Z. 1 FPG in der hier maßgeblichen Stammfassung

lautete:

"Zurückschiebung

§ 45. (1) Fremde können von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag der Behörde zur Rückkehr ins Ausland verhalten werden (Zurückschiebung), wenn sie

1. nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist sind und binnen sieben Tagen betreten werden ..."

Art. 3 des Abkommens zwischen der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Republik Ungarn über die Übernahme von Personen an der gemeinsamen Grenze vom , BGBl. Nr. 315/1995, Abs. 1 idF des Abkommens vom , BGBl. III Nr. 25/1998, lautet auszugsweise:

"Artikel 3

(1) Jede Vertragspartei übernimmt einen Drittausländer, der die österreichisch-ungarische Staatsgrenze rechtswidrig überschritten hat, unabhängig davon, ob ein Einreiseverbot gegen ihn besteht und ob er sich rechtmäßig oder rechtswidrig in dem Vertragsstaat aufgehalten hat, von dem aus er die Staatsgrenze überschritten hat.

(2) Der Übernahmsantrag kann innerhalb von 90 Tagen nach der rechtswidrigen Einreise des Drittausländers jederzeit gestellt werden. Der Antrag muss die Personaldaten der zu übernehmenden Person sowie Angaben betreffend die rechtswidrige Überschreitung der gemeinsamen Grenze enthalten. Auf den Übernahmsantrag ist innerhalb von 72 Stunden nach dessen Übermittlung eine Antwort zu erteilen. Die ersuchte Vertragspartei übernimmt den Drittausländer auf Grund einer Übernahmserklärung. ...

(3) Die in Abs. 1 genannten Drittausländer werden formlos übernommen, wenn die andere Vertragspartei innerhalb von 7 Tagen nach dem rechtswidrigen Grenzübertritt darum ersucht. …"

Diese Bestimmungen bilden allerdings nur die Grundlage für die Setzung verfahrensfreier Maßnahmen im Sinn einer Anwendung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Die Zurückschiebung soll demnach, ebenso wie die Zurückweisung, eine Umgehung der Grenzkontrolle wirksam verhindern und sogleich jenen Zustand herstellen, der beim Versuch eines gesetzmäßigen Grenzübertrittes bestehen würde (vgl. dazu etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B 1117/93 und B 1119/93).

Verfahrensfreie Maßnahmen kommen jedoch in der vorliegenden Konstellation eines bereits durchgeführten Verwaltungsverfahrens, das mit einem vollstreckbaren Titel in Bezug auf einen anderen Staat (hier mit der im Asylverfahren ergangenen rechtskräftigen Ausweisungsentscheidung) abgeschlossen worden war, nicht mehr in Betracht.

Dass dem Gesetz eine derartige Doppelgleisigkeit fremd ist, ergibt sich zunächst aus § 52 Abs. 3 FPG idF des FrÄG 2011. Demnach ist von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 dieser Bestimmung abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 FPG vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll. Ist die verfahrensfreie Maßnahme einer Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat möglich, soll also von der Schaffung eines aufenthaltsbeendenden Titels abgesehen werden. Ist es jedoch infolge eines von Österreich meritorisch zu behandelnden Antrages auf internationalen Schutz zu einem solchen Titel (asylrechtliche Ausweisung in den Herkunftsstaat, die gemäß § 10 Abs. 7 AsylG 2005 idF des FrÄG 2011 mit ihrer Durchsetzbarkeit als Rückkehrentscheidung gilt) gekommen, steht umgekehrt die verfahrensfreie Maßnahme der Zurückschiebung nicht mehr zur Verfügung.

Das ergibt sich des Weiteren aus Art. 16 Abs. 1 lit. e der Dublin II - Verordnung, weil die demnach bestehende Verpflichtung Österreichs zur Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen, der sich nach Antragsablehnung unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhält, einer - verfahrensfreien - Verbringung des Drittstaatsangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat entgegensteht.

Insoweit besteht ein wesentlicher Unterschied zu bereits früher vom Verwaltungsgerichtshof beurteilten, im tatsächlichen Bereich ähnlichen Sachverhalten (siehe dazu etwa das - zur inhaltlich vergleichbaren Vorschrift des § 35 Abs. 1 des Fremdengesetzes aus 1992 ergangene - Erkenntnis vom , Zl. 96/02/0347).

Der angefochtene, dennoch die Zulässigkeit der Zurückschiebung des Beschwerdeführers nach Ungarn im Rahmen einer verfahrensfreien Maßnahme bejahende Bescheid hat somit die Rechtslage verkannt, sodass er gemäß § 42 Abs. 1 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben war. Dies gilt sinngemäß für die der Vorbereitung der genannten Zurückschiebung dienende Festnahme.

Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der (auf "Altfälle" gemäß § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014, weiter anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am