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VwGH vom 18.10.2021, Ra 2020/14/0418

VwGH vom 18.10.2021, Ra 2020/14/0418

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie die Hofrätinnen Mag. Schindler und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des X Y, vertreten durch Dr. Manfred Schiffner, Rechtsanwalt in 8054 Seiersberg-Pirka, Haushamer Straße 2/4. OG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W195 2224089-3/3E, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt B) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Bangladeschs, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) und gab im Rahmen der Erstbefragung an, am geboren zu sein.

2Mit Beschluss des Bezirksgerichts Neunkirchen vom wurde die Obsorge für den damals minderjährigen Revisionswerber seinem Schwager übertragen. Im Beschluss ist als Geburtsdatum des Revisionswerbers der angeführt. Der Beschluss erwuchs in Rechtskraft.

3Mit dem vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) in Auftrag gegebenen rechtsmedizinischen Sachverständigengutachten zum Lebensalter des Revisionswerbers vom wurde festgehalten, dass sein fiktives Geburtsdatum der sei. Das ergebe sich aus der Zusammenschau der Ergebnisse der Anamneseerhebung, der körperlichen Untersuchung sowie der Röntgenbefunde der Handwurzel, des Gebisses und der Schlüsselbeine des Revisionswerbers.

4Dieses Ermittlungsergebnis wurde dem Revisionswerber, seiner damaligen gesetzlichen Vertretung sowie dem Pflegschaftsgericht zur Kenntnis gebracht. Das Bezirksgericht nahm aber keine Änderung oder Berichtigung des Beschlusses vom vor.

5Mit Bescheid des BFA vom wurde der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen, festgestellt, dass seine Abschiebung nach Bangladesch zulässig sei und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt. Dieser Bescheid wurde dem Schwager des Revisionswerbers als Obsorgeberechtigten am durch Hinterlegung zugestellt.

6Die gegen diesen Bescheid am von einem Rechtsanwalt eingebrachte Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Beschluss vom als unzulässig zurück, weil der Revisionswerber selbst und nicht sein Obsorgeberechtigter den Rechtsanwalt mit der Vertretung beauftragt hätte. Eine zuvor an den Schwager des Revisionswerbers gerichtete Aufforderung durch das BVwG, insbesondere ob eine allfällige Bevollmächtigung des Rechtsvertreters von ihm als Obsorgeberechtigten genehmigt werde, sei unbeantwortet geblieben.

7Am stellte der Revisionswerber einen (anwaltlich eingebrachten) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und erhob unter einem Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom .

8Das BFA wies mit Bescheid vom den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und erkannte dem Antrag die aufschiebende Wirkung zu.

9In der Folge erhob der (anwaltlich vertretene) Revisionswerber mit Schriftsatz vom Beschwerde gegen den Bescheid vom verbunden mit einer Beschwerde gegen den Bescheid vom .

10Mit Erkenntnis vom wies das BVwG die Beschwerde gegen den Bescheid vom als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und beschlussmäßig die Beschwerde gegen den Bescheid vom als verspätet zurück (Spruchpunkt B). Weiters sprach es aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt C).

11In seiner rechtlichen Beurteilung führte das BVwG - soweit für den Revisionsfall von Bedeutung - aus, das Pflegschaftsgericht habe das Geburtsdatum des Revisionswerbers beschlussmäßig mit festgesetzt und dieses Datum in weiterer Folge nicht berichtigt, sodass der Revisionswerber erst mit Ablauf des die Volljährigkeit erreicht habe. Der Bescheid des BFA vom sei dem Obsorgeberechtigten des Revisionswerbers daher am rechtswirksam zugestellt worden. Die Beschwerdefrist gemäß § 7 Abs. 4 erster Satz VwGVG habe sohin am geendet. Da die Beschwerde am , gemeinsam mit dem Wiedereinsetzungsantrag, eingebracht worden sei, sei sie als verspätet zurückzuweisen gewesen, zumal auch der Wiedereinsetzungsantrag abgewiesen worden sei.

12Die vorliegende außerordentliche Revision richtet sich gegen Spruchpunkt B des angefochtenen Erkenntnisses. Zur Zulässigkeit wird unter anderem vorgebracht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen bzw. liege keine gesicherte Judikatur zur Frage, wann der Revisionswerber volljährig geworden sei, vor. Inhalt des Spruches des Obsorgebeschlusses vom sei die Übertragung der Obsorge für den damals minderjährigen Revisionswerber an seinen Schwager gewesen. Bei dem im Spruch des Obsorgebeschlusses angeführten Geburtsdatum des Revisionswerbers handle es sich um eine biologische Tatsache, wobei die Obsorge für ein Kind ipso iure mit dem Eintritt der Volljährigkeit erlösche. Bei der Aufnahme des Geburtsdatums im Spruch der Entscheidung handle es sich nicht um eine normativ verbindliche, der Rechtskraft zugängliche gerichtliche Feststellung. Es bestehe keine Bindungswirkung an das im Obsorgebeschluss angeführte Geburtsdatum. Entsprechend den getroffenen Feststellungen sei ausgehend vom eingeholten Gutachten das spätmöglichste Geburtsdatum des Revisionswerbers der , weshalb er zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung am volljährig gewesen sei. Die „vermeintlich ordnungsgemäße“ Zustellung des Bescheids vom sei am an den Schwager des Revisionswerbers durch Hinterlegung erfolgt.

13Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

14Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

15Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mit der Frage, ob ein Beschluss des Pflegschaftsgerichts, mit dem die Obsorge für einen Asylwerber übertragen wurde, hinsichtlich des im Spruch enthaltenen Geburtsdatums des Asylwerbers eine Bindungswirkung für das Asylverfahren entfaltet, im Erkenntnis vom , Ro 2019/19/0010, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, auseinandergesetzt und eine Bindungswirkung mit näherer Begründung verneint.

16Demnach ist auch im vorliegenden Fall eine Bindungswirkung an das im Obsorgebeschluss des Pflegschaftsgerichts angeführte Geburtsdatum des Revisionswerbers zu verneinen. Indem das BVwG die Rechtsauffassung vertrat, das Pflegschaftsgericht habe das Geburtsdatum des Revisionswerbers mit dem festgesetzt und auch nicht berichtigt, weshalb der Revisionswerber (erst) mit Ablauf des die Volljährigkeit erreicht habe, ohne sich mit dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachten und den darauf basierenden Feststellungen im negativen Asylbescheid auseinanderzusetzen, wonach das fiktive Geburtsdatum der sei, belastete es sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

17Aus Anlass der Revision ist auch darauf hinzuweisen, dass die Einschätzung des BVwG, wonach der Bescheid vom durch Hinterlegung an den Schwager des Revisionswerbers als Obsorgeberechtigten rechtswirksam zugestellt wurde, sich infolge der zu Unrecht angenommenen Bindungswirkung an den Obsorgebeschluss insofern ebenfalls als verfehlt erweist. Das BVwG hätte nicht ohne nähere Prüfung von einer aufrechten gesetzlichen Vertretung des Revisionswerbers (durch den vormals Obsorgeberechtigten) im Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides am ausgehen dürfen.

18Im fortgesetzten Verfahren wird bei der Beurteilung der Rechtzeitigkeit der Beschwerde allenfalls auch zu beachten sein, dass nach der Aktenlage das BFA in der Zustellverfügung den „obsorgeberechtigten“ Schwager namentlich als Empfänger genannt hat. Dass der Revisionswerber auch nach Eintritt der Volljährigkeit seinen Schwager gegenüber der belangten Behörde zum Empfang von Schriftstücken bevollmächtigt hätte, lässt sich der Aktenlage hingegen nicht entnehmen. Die fehlerhafte Bezeichnung einer Person als Empfänger in der Zustellverfügung kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aber nicht heilen (vgl. , mwN). Ein mangelhafter und dementsprechend gesetzwidriger Zustellvorgang steht einer rechtswirksamen Zustellung entgegen. Er löst den Beginn der Rechtsmittelfrist nicht aus (vgl. , mwN). Im Einparteienverfahren (als solches stellt sich hier das behördliche Verwaltungsverfahren dar) setzt die Erhebung einer Beschwerde aber zwingend die Erlassung eines damit angefochtenen Bescheides voraus (vgl. , mwN).

19Nach dem Gesagten war daher das Erkenntnis im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

21Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, Z 5 und Z 6 VwGG abgesehen werden.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020140418.L00

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