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VwGH vom 17.11.2010, 2008/23/0254

VwGH vom 17.11.2010, 2008/23/0254

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2008/23/0255

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall sowie den Hofrat Dr. Hofbauer und die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, in der Beschwerdesache 1. des R I, geboren 1974, und 2. der S T, geboren 1982, beide vertreten durch Dr. Klaus Kocher Mag. Wilfried Bucher, Rechtsanwälte in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , Zlen. 256.715/0- III/07/05 (ad 1., protokolliert zur hg. Zl. 2008/23/0254), sowie 256.718/0-III/07/05 (ad 2., protokolliert zur hg. Zl. 2008/23/0255), betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (ad 1.) bzw. §§ 10, 11 Asylgesetz 1997 (ad 2.) (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der erstangefochtene Bescheid wird hinsichtlich seiner Spruchpunkte 1.) (Asyl) und 2.) (Refoulement) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, hinsichtlich seines Spruchpunktes 3.) (Ausweisung) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der zweitangefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 2.212,80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzughörigkeit, stammen aus der Teilrepublik Tschetschenien und sind miteinander verheiratet. Am stellten der Erstbeschwerdeführer einen Antrag auf Gewährung von Asyl und die Zweitbeschwerdeführerin einen Antrag auf Erstreckung des dem Erstbeschwerdeführer zu gewährenden Asyls. Zu seinen Fluchtgründen führte der Erstbeschwerdeführer aus, er habe im ersten Tschetschenienkrieg tschetschenische Widerstandskämpfer unterstützt, ohne selbst gekämpft zu haben, 1996 sei sein Elternhaus durch einen Raketenbeschuss großteils zerstört worden und er selbst sei mehrmals von russischen Soldaten im Zuge von Säuberungsaktionen verprügelt worden, wobei er konkret einen Vorfall im Jahr 2000 nannte.

Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Erstbeschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, erklärte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation für zulässig und wies gemäß § 8 Abs. 2 AsylG den Erstbeschwerdeführer "aus dem österreichischen Bundesgebiet" aus. Das Bundesasylamt traf Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und erachtete das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers zwar als glaubwürdig, aber wegen mangelndem Bezug zur Genfer Flüchtlingskonvention bzw. fehlendem zeitlichen Konnex zur Ausreise nicht als asylrelevant. Hilfsweise ging das Bundesasylamt vom Bestehen einer internen Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation aus. Mit Bescheid vom selben Tag wies das Bundesasylamt auch den Erstreckungsantrag der Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 10 iVm § 11 Abs. 1 AsylG ab.

In den dagegen erhobenen Berufungen wurde zusammengefasst einerseits der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen getreten und andererseits neu vorgebracht, dass der Erstbeschwerdeführer auch zweimal aus ethnischen und politischen Gründen inhaftiert und dabei gefoltert worden sei; erst durch Lösegeldzahlungen durch seine Eltern sei er freigekommen. Nach seinen Verhaftungen habe die Zweitbeschwerdeführerin bei ihren Eltern gelebt, er habe sich bei Verwandten und Freunden an verschiedenen Orten versteckt, darunter auch bei seiner Tante, welche sieben Kilometer von der tschetschenisch-dagestanischen Grenze entfernt wohne.

Mit dem erstangefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht Folge, wies den Erstbeschwerdeführer aber zielstaatsbezogen - nach Dagestan - aus. Sie erhob die vom Bundesasylamt vornehmlich auf Basis von Länderberichten aus den Jahren 2002 und 2003 getroffenen Länderfeststellungen sowie die Sachverhaltsfeststellungen zum Vorbringen des Erstbeschwerdeführers zum Inhalt des erstangefochtenen Bescheides und führte aus, dass eine Rückkehr des Erstbeschwerdeführers nach Tschetschenien nicht in Betracht komme, da er dort vor dem Hintergrund seiner eigenen Angaben und den Feststellungen des Bundesasylamtes Gefahr liefe, asylrechtlich relevanter Bedrohung ausgesetzt zu sein. Jedoch stehe ihm die zumutbare Alternative, bei seiner Tante in Dagestan Zuflucht zu suchen, offen, da er eine Gefährdung in Dagestan - Festnahme durch die Miliz bei Bestehen eines Verdachts - lediglich als abstrakte Möglichkeit in den Raum gestellt habe. Andere Umstände bzw. Probleme, die einen Verbleib bei der Tante in Dagestan unzumutbar erscheinen ließen, habe der Erstbeschwerdeführer auf die Nachfrage, ob er Probleme bei seiner Tante gehabt habe, nicht vorgebracht; offensichtlich sei auch seiner Tante, die ebenfalls zur Volksgruppe der Tschetschenen gehöre, ein Leben in Dagestan möglich. Als (relativ) jungem Mann sei es dem Erstbeschwerdeführer in Anbetracht der vorhandenen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte und Unterstützung auch grundsätzlich zumutbar, sich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten "durchzuschlagen".

Die Ausweisung betreffend den Erstbeschwerdeführer wurde damit begründet, dass dieser in Österreich "abgesehen von seiner Ehegattin, deren Asylerstreckungsantrag mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom selben Tag abgewiesen worden (sei), über keine familiären Anknüpfungspunkte" verfüge.

Mit dem zweitangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Zweitbeschwerdeführerin ebenfalls ab.

Gegen diese Bescheide der belangten Behörde richten sich die vorliegenden - wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

I.

1. Die Beschwerde gegen den erstangefochtenen Bescheid macht unter anderem als Verfahrensmangel eine Verletzung der Verhandlungspflicht der belangten Behörde geltend und ist damit im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z. 43a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , Zlen. 2008/19/0216, 0217, und vom , Zl. 2007/01/0352, jeweils mwN).

Die belangte Behörde hat sich mit dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers in seiner Berufung, wonach er zweimal verhaftet und gefoltert worden sei, nicht weiter auseinandergesetzt, sondern hat das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers vor dem Bundesasylamt als wahr unterstellt. Damit hat die belangte Behörde aber, zumal sie von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Erörterung des neuen Vorbringens abgesehen hat, auch keine Feststellungen zu den Umständen und Motiven dieser Verhaftungen getroffen. Die Relevanz dieses Verfahrensmangels ist schon deshalb nicht auszuschließen, weil sich ohne nähere Prüfung des neuen Vorbringens des Erstbeschwerdeführers noch nicht abschließend beurteilen lässt, ob dieser in der Vergangenheit nicht bereits in solcher Weise in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden seines Herkunftsstaates geraten ist, dass ihm im Fall seiner Rückkehr - landesweit - Gefahr droht. Vor diesem Hintergrund erweist sich die von der belangten Behörde im erstangefochtenen Bescheid getroffene Einschätzung, dem Erstbeschwerdeführer drohe bei seiner Tante in Dagestan keinerlei Gefahr, als nicht ausreichend begründet; auch hätte es dazu fundierterer (und aktuellerer) Länderfeststellungen bedurft, zumal sich eine Verfolgungssicherheit in Dagestan nicht ohne weiteres aus den von der belangten Behörde im erstangefochtenen Bescheid im Verweisweg getroffenen Länderfeststellungen zu Tschetschenien ableiten lässt.

Der erstangefochtene Bescheid war daher im Umfang seiner Spruchpunkte 1.) und 2.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

2. Mit der Bestätigung der Ausweisung des Erstbeschwerdeführers hat die belangte Behörde aber auch die Rechtslage verkannt. Infolge der asylrechtlichen Ausweisung erscheint es möglich, dass der Erstbeschwerdeführer das Bundesgebiet ohne seine Ehefrau zu verlassen hat. Die Ausweisung stellt somit einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Familienleben des Erstbeschwerdeführers mit der Zweitbeschwerdeführerin dar, welcher einer Rechtfertigung bedürfte. Eine derartige Rechtfertigung enthält der erstangefochtene Bescheid jedoch nicht, zumal die belangte Behörde auch nicht dargelegt hat, warum öffentliche Interessen es erfordern würden, dass der Erstbeschwerdeführer Österreich schon vor einer allfälligen Entscheidung der zuständigen Fremdenbehörde über die Ausweisung der Zweitbeschwerdeführerin verlassen müsste (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2007/19/0851, und etwa das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2008/23/1015, mwN).

Der erstangefochtene Bescheid war daher insoweit, als damit die Ausweisung des Erstbeschwerdeführers nach Dagestan verfügt wurde, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

II.

Bei diesem Verfahrensergebnis kann auch der zweitangefochtene Bescheid keinen Bestand haben. Die rückwirkende Behebung des erstangefochtenen Bescheides belastet aus den im hg. Erkenntnis vom , Zl. 98/01/0402, dargestellten Gründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, auch den hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin ergangenen Berufungsbescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Der zweitangefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am

Fundstelle(n):
QAAAE-85768