VwGH vom 17.11.2011, 2010/21/0514
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des J, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-FR-10-1028, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Nigerias, beantragte nach seiner Einreise in Österreich am erfolglos die Gewährung von Asyl. In diesem Verfahren wurde gemäß § 8 Asylgesetz 1997 festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria zulässig sei; es erging auch eine Ausweisung aus dem Bundesgebiet nach Nigeria. Ein vom Beschwerdeführer am gestellter zweiter Asylantrag wurde am rechtskräftig gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde über den Beschwerdeführer gemäß § 28 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 SMG eine neunmonatige Freiheitsstrafe (davon sechs Monate bedingt nachgesehen) verhängt. Er hatte am in Wien 87,5 g Heroin (brutto) mit dem Vorsatz besessen, es in Verkehr zu setzen, sowie am eine Kugel Heroin an einen unbekannten Suchtgiftabnehmer und am eine Kugel Heroin an eine Suchtgiftkonsumentin verkauft.
Hierauf gestützt verhängte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom über den Beschwerdeführer gemäß § 62 Abs. 1 und 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein auf zehn Jahre befristetes Rückkehrverbot.
Mit weiterem rechtskräftigen Urteil vom verhängte das Landesgericht für Strafsachen Wien über den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 Z. 1 achter Fall und Abs. 3 SMG eine achtmonatige Freiheitsstrafe. Er hatte am in Wien gewerbsmäßig einem verdeckten Ermittler drei Kugeln Heroin und einem weiteren Abnehmer eine nicht mehr feststellbare geringe Menge an Heroin bzw. Kokain verkauft. Die genannte Freiheitsstrafe verbüßte der Beschwerdeführer bis zum .
Hierauf gestützt verhängte die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich über ihn mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z. 1 FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot. Dieser Bescheid wurde (ebenso wie der das zuvor erwähnte Rückkehrverbot betreffende Bescheid) vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht in Beschwerde gezogen.
Während des Vollzuges der genannten Freiheitsstrafe beantragte der Beschwerdeführer am neuerlich die Gewährung von internationalem Schutz. Mit Verfahrensanordnung vom teilte das Bundesasylamt unter Zitierung der "§§ 4, 5 AsylG und § 68 Abs. 1 AVG, § 29 Abs. 3 Z. 4 AsylG" mit, es sei beabsichtigt, diesen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, weil entschiedene Sache im Sinn des § 68 AVG vorliege. Weiters sei beabsichtigt, den faktischen Abschiebeschutz durch mündlichen Bescheid aufzuheben (§ 12a Abs. 2, § 29 Abs. 3 Z. 6 AsylG). Die Erlassung eines derartigen Bescheides kann den vorgelegten Verwaltungsakten nicht entnommen werden.
Mit am selben Tag (der Entlassung des Beschwerdeführers aus der mehrfach erwähnten Freiheitsstrafe) in Vollzug gesetztem Bescheid vom verhängte die Bundespolizeidirektion St. Pölten über den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 1 iVm § 76 Abs. 2a Z. 5 FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung nach § 10 AsylG 2005, des Verfahrens zur Erlassung eines Rückkehr- oder Aufenthaltsverbotes sowie seiner Abschiebung. Die Rechtsfolgen dieses Bescheides sollten nach der Entlassung aus der Gerichtshaft eintreten.
Begründend führte sie aus, der Beschwerdeführer sei im Bundesgebiet ohne Unterstand, Reisedokument und Niederlassungsbewilligung "angetroffen" worden. "Dabei" sei festgestellt worden, dass er am einen Folgeantrag iSd § 2 Abs. 1 Z. 23 AsylG 2005 gestellt habe und "der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben" worden sei. Eine Information der Asylbehörde vom besage, dass die Zurückweisung des Antrages vom sowie weiters beabsichtigt sei, den faktischen Abschiebeschutz mit mündlichem Bescheid aufzuheben. Auf Grund der (bereits dargestellten) Straftaten und der massiven Ausreiseunwilligkeit sei ein Sicherungsbedarf gegeben, dessen Abdeckung mit der bloßen Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 Abs. 1 FPG nicht gewährleistet sei.
Gegen seine Anhaltung in Schubhaft erhob der Beschwerdeführer am Beschwerde an die belangte Behörde. Darin brachte er u.a. vor, dass in seinem anhängigen Asylverfahren der faktische Abschiebeschutz nicht aufgehoben worden sei. § 76 Abs. 2a Z. 5 FPG sei daher nicht anwendbar. Dasselbe gelte für § 76 Abs. 1 FPG, weil er Asylwerber sei. Auch bestritt er den Sicherungsbedarf, habe er doch lediglich "bisher haftbedingt noch keine Gelegenheit zur selbständigen Ausreise" gehabt, wozu komme, dass er mangels Heimreisezertifikats derzeit nicht abgeschoben werden könnte.
Am enthaftete die Fremdenpolizeibehörde den (entsprechend seiner Ankündigung mittlerweile im Hungerstreik befindlichen) Beschwerdeführer mit der Begründung, dass die für den vorgesehene "Vorführung zur Botschaftsbefragung" nicht erfolgen könne. "Da im Asylverfahren (Folgeantrag) noch keine Entscheidung ergangen ist, ergibt sich, dass der Sicherungsbedarf derzeit nicht mehr gegeben ist."
Nach seiner Enthaftung tauchte der Beschwerdeführer unter, sodass das anhängige Asylverfahren am eingestellt wurde.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 FPG als unbegründet ab.
Dazu führte sie nach Darstellung des Verwaltungsgeschehens und der Rechtslage aus, die erhebliche Delinquenz des Beschwerdeführers vergrößere das Gewicht des öffentlichen Interesses an seiner baldigen Abschiebung maßgeblich. Der Beschwerdeführer habe kurz vor seiner Haftentlassung den erwähnten dritten "Asylantrag" mit dem ausschließlichen Zweck gestellt, ein weiteres Mal seine Abschiebung hintanzuhalten und bei erster Gelegenheit unterzutauchen. Dazu komme, dass er am ausgeführt habe, nicht nach Nigeria zurückkehren zu wollen und nötigenfalls in einen Hungerstreik zu treten. Das Vorliegen eines - auch nicht durch Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 FPG abdeckbaren - Sicherungsbedarfs sei daher zu bejahen. Diese Überlegung werde durch das Untertauchen des Beschwerdeführers nach seiner Entlassung aus der Schubhaft bestätigt.
Die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung habe - so argumentierte die belangte Behörde abschließend - gemäß § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei.
Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdeführer argumentiert zu Recht damit, dass in dem die Schubhaft anordnenden Bescheid der Bundespolizeidirektion St. Pölten vom auf Grundlage seiner Sachverhaltsfeststellungen keine taugliche Rechtsgrundlage aufscheint.
Der zitierte § 76 Abs. 1 FPG ist nämlich auf den Beschwerdeführer als Asylwerber (im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z. 14 AsylG 2005) gemäß § 1 Abs. 2 FPG nicht anzuwenden.
Gemäß § 76 Abs. 2a Z. 5 FPG hat die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber Schubhaft anzuordnen, wenn der Asylwerber einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z. 23 AsylG 2005) gestellt hat und der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufgehoben wurde. Erforderlich ist somit eine bereits tatsächlich erfolgte (und nicht nur für die Zukunft in Aussicht gestellte) Aufhebung des faktischen Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005.
Zu dieser Voraussetzung enthält der Bescheid vom - wie oben dargestellt - einander widersprechende Feststellungen. Ihr Vorliegen, das nach der Aktenlage nicht indiziert ist, wird in der an die belangte Behörde gerichteten Administrativbeschwerde ausdrücklich bestritten. Dessen ungeachtet trifft der angefochtene Bescheid dazu - offensichtlich in Verkennung der rechtlichen Notwendigkeit - und ohne Durchführung einer zur Klärung dieses strittigen Umstandes allenfalls erforderlichen mündlichen Verhandlung nicht einmal Feststellungen.
Der bekämpfte Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am