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VwGH 03.03.2017, Ra 2017/18/0049

VwGH 03.03.2017, Ra 2017/18/0049

Entscheidungsart: Beschluss

Rechtssätze


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Normen
RS 1
Der VwGH hat bereits klargestellt, dass im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt (Hinweis E vom , Ro 2014/03/0066, mwN). Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. zur inhaltsgleichen Bestimmung früherer Rechtslagen etwa das E vom , 2000/20/0494).
Hinweis auf Stammrechtssatz
GRS wie Ra 2015/18/0082 E RS 1
Normen
RS 2
Bei der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation und die von dieser eingeholten Stellungnahme einer Vertrauensperson handelt es sich nicht um einen Beweis durch Sachverständige im Sinne des § 52 AVG, sondern um ein Beweismittel eigener Art, bei dessen Würdigung stets zu berücksichtigen ist, dass die Qualifikation und die Vorgangsweise der ermittelnden Privatperson sich einer Kontrolle weitgehend entziehen und sie im Gegensatz zu einem Sachverständigen im Sinne des § 52 AVG auch nicht persönlich zur Verantwortung gezogen werden kann (vgl. -0101, mwN).

Entscheidungstext

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

Ra 2017/18/0051

Ra 2017/18/0050

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Anträge der revisionswerbenden Parteien 1. K, geboren 1959, und von zwei weiteren Antragstellern, alle vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, der gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom ,

1)

Zl. L519 2129542-1/17E, 2) Zl. L519 2129544-1/15E und

3)

Zl. L519 2129545-1/15E, betreffend Asylangelegenheiten, erhobenen Revision die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, den Beschluss gefasst:

Spruch

Gemäß § 30 Abs. 2 VwGG wird den Anträgen stattgegeben.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurden - im Beschwerdeverfahren - die Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz in Österreich gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen und ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

2 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die Revisionswerber außerordentliche Revision und stellten die gegenständlichen Anträge auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.

Diesen Anträgen kommt Berechtigung zu:

3 Gemäß § 30 Abs. 1 erster Satz VwGG hat die Revision keine aufschiebende Wirkung. Gemäß § 30 Abs. 2 erster Satz VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof ab Vorlage der Revision jedoch auf Antrag des Revisionswerbers die aufschiebende Wirkung mit Beschluss zuzuerkennen, wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses oder mit der Ausübung der durch das angefochtene Erkenntnis eingeräumten Berechtigung für den Revisionswerber ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre.

4 Da mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses für die Revisionswerber - schon im Hinblick auf die erlassene Rückkehrentscheidung - ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre (vgl. etwa die hg. Beschlüsse vom , Ra 2016/18/0053, und vom , Ra 2016/01/0153, mwN) und zwingende öffentliche Interessen, die der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung entgegenstünden, nicht ersichtlich sind, war den Anträgen stattzugeben.

Wien, am

Entscheidungstext

Entscheidungsart: Erkenntnis

Entscheidungsdatum:

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

Ra 2017/18/0051

Ra 2017/18/0050

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wech, über die Revision

1. des K A, 2. der S A, 3. des mj. A P, vertreten durch K und S A, alle in F, alle vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , 1.) Zl. L519 2129542- 1/17E, 2.) Zl. L519 2129544-1/15E und 3.) Zl. L519 2129545-1/15E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Großeltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers und alle armenische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin stellten am , der Drittrevisionswerber am jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund brachten sie zusammengefasst vor, der Erstrevisionswerber sei Mitglied der Organisation "Metsin Tigan", einem freiwilligen Zusammenschluss von aufständischen Kämpfern für den Berg-Karabach-Krieg, und Kommandant des Geheimdienstes unter Vazgen Sargsyan gewesen. Gemeinsam mit Vazgen Sargsyan und anderen habe er im Krieg gekämpft. 1996 sei er Mitglied der Oppositionspartei "AJM" geworden und habe Demonstrationen und Aufstände gegen die Regierung organisiert. Nach der Tötung von Vazgen Sargsyan im Zuge des Anschlags auf das Parlament im Jahr 1999 seien Mitglieder der "Metsin Tigan" und insbesondere er, als Geheimnisträger, von der Regierung beziehungsweise dem KGB verfolgt, festgenommen und gefoltert worden. Anlässlich einer Demonstration im Jahr 2008 sei er für drei Monate eingesperrt worden. Es habe auch zwei Schussattentate auf den Erstrevisionswerber in den Jahren 2010 und 2011 gegeben. Er stehe auf einer "schwarzen Liste" der Regierung. Am seien Leute vom nationalen Sicherheitsdienst in die Wohnung des Erstrevisionswerbers gekommen und hätten die Zweitrevisionswerberin geschlagen. Der Sohn des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin sei infolgedessen von der Polizei aufgefordert worden, zu bestätigen, dass es sich lediglich um einen Unfall gehandelt hätte.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) richtete am eine Anfrage an die Staatendokumentation, in der es um Klärung ersuchte, ob es in Armenien die Organisation "Metsin Tigan" gebe, was darunter zu verstehen sei und wie sich die Lage der Mitglieder darstelle. Weiters fragte es an, wie die Lage der Mitglieder der "AJM" Partei einzuschätzen sei, ob die vom Erstrevisionswerber vorgelegten armenischen Dokumente echt seien, ob der Erstrevisionswerber an der angeführten Adresse tatsächlich und wie lange gewohnt habe und ob eine "schwarze Liste" der Regierung bekannt sei.

3 In der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom hielt diese zunächst fest, im Rahmen der zeitlich begrenzten Internetrecherche mit den zur Verfügung stehenden Quellen keine Informationen zu den Fragen gefunden zu haben, weshalb diese an eine "Vertrauensperson mit Expertise zum Herkunftsland" weitergeleitet worden seien. Diese habe angegeben, dass die Überprüfung der Dokumente keine Anzeichen einer Fälschung ergeben habe, auch sei deren Form authentisch. Der angegebene Straßenname existiere nicht, auch sei er nicht in der Liste der geänderten Straßennamen enthalten. Es gebe keine Informationen oder Berichte über die Existenz einer "schwarzen Liste". Die Organisation "Metsin Tigan" bestehe aus freiwilligen Soldaten, welche am Karabach-Krieg 1989-1994 teilgenommen hätten; nach 1994 sei sie eine nichtstaatliche Organisation von Veteranen geworden. Die Mitglieder hätten keine besonderen Probleme in Armenien und die Organisation sei in den politischen Prozess nicht involviert. Die "AJM" Partei sei in den 90er Jahren eine starke oppositionelle Partei gewesen. Seit über 10 Jahren sei sie loyal zur Macht und an den Rand gedrängt. Viele der führenden Mitglieder der Partei seien an der Regierung beteiligt.

4 Im Rahmen der Einvernahme am wurde den revisionswerbenden Parteien das Ergebnis der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom zur Kenntnis gebracht. Der Erstrevisionswerber gab dazu an, dass die Straßennamen von den alten russischen auf armenische geändert worden seien, weshalb diese nicht gefunden werden könnten. Die "schwarze Liste" sei geheim, weshalb niemand bestätigen könne, ob diese existiere oder nicht. Die Lage der Mitglieder der "Metsin Tigan" werde nicht richtig dargestellt. Diese müssten sagen, dass es ihnen gut gehe, sonst werde es noch schlimmer.

5 Mit Bescheiden vom wies das BFA die Anträge der revisionswerbenden Parteien gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei.

6 Das BFA ging in seiner Entscheidung von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus und stützte sich dabei einerseits auf widersprüchliche Angaben des Erstrevisionswerbers in seinen Einvernahmen und andererseits auf die Ergebnisse der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom .

7 In der Folge wies das BVwG - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerden der revisionswerbenden Parteien mit Erkenntnis vom gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 57 und 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG 2005 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8 Begründend führte das BVwG aus, die Angaben des Erstrevisionswerbers zu seinen Verfolgern, zur Anzahl und Dauer seiner Inhaftierungen, zur Parteizugehörigkeit sowie zu den beiden Schussattentaten seien mit Widersprüchen und Ungereimtheiten behaftet. Es fehle auch am zeitlichen Konnex zwischen den angeblichen Verfolgungshandlungen und seiner Ausreise im Jahr 2012. Zudem existiere kein Haftbefehl gegen den Erstrevisionswerber. Würde ihn der KGB tatsächlich bereits seit vielen Jahren verfolgen und hätte er ihn tatsächlich schon mehrfach festgenommen, hätte er den Erstrevisionswerber schon längst liquidiert. Zudem könne auch davon ausgegangen werden, dass der KGB den Erstrevisionswerber im Zuge der beiden Schussattentate auch tatsächlich getroffen hätte, weil der KGB über entsprechend ausgebildete Schützen verfüge. Auch die Zweitrevisionswerberin habe sich zu den Verhaftungen und den Verfolgern widersprüchlich geäußert. Da ihre Unglaubwürdigkeit letztlich auch durch das Ergebnis der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom bestätigt worden sei, habe den Angaben der revisionswerbenden Parteien kein Glauben geschenkt werden können. Der Drittrevisionswerber habe keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, sondern seinen Heimatstaat wegen der Probleme des Erstrevisionswerbers verlassen.

9 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache unter anderem vorgebracht wird, das BVwG sei von - näher bezeichneter - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es den entscheidungsrelevanten Sachverhalt nicht vollständig erhoben habe, maßgebliche Feststellungen fehlten und das BVwG sich in der Prüfung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens der revisionswerbenden Parteien hauptsächlich auf die vom BFA eingeholte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation gestützt habe, welcher nicht der Beweiswert eines Gutachtens eines Sachverständigen zukomme. Die Beweiswürdigung des BVwG sei in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise erfolgt, weil der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin die asylrelevante Verfolgung im Wesentlichen frei von Widersprüchen erstattet hätten.

10 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

12 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet. 13 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. ; daran anschließend etwa , sowie vom , Ra 2015/18/0283).

14 Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa , mwN, und ).

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat ebenso bereits klargestellt, dass im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt (vgl. etwa , mwN).

16 Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. , mwN).

17 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. , mwN, und ).

18 Das BVwG ging in der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass die behauptete Verfolgung des Erstrevisionswerbers nicht glaubwürdig sei. Es stützte sich dabei im Wesentlichen auf Widersprüche im Vorbringen des Erstrevisionswerbers sowie auf die Ergebnisse der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom .

19 Wie die Revision aufgezeigt hat, erweisen sich die vom BVwG aufgegriffenen Widersprüche im Vorbringen der revisionswerbenden Parteien jedoch nicht als solche bzw sind sie nicht dermaßen gravierend, dass sie die Entscheidung des BVwG zu tragen vermögen. So gab der Erstrevisionswerber bei seinen Einvernahmen am und am übereinstimmend an, vom KGB verfolgt zu werden. Im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG gab er an, von Präsident Sargsyan, dem Innenministerium und dem Sicherheitsdienst KGB verfolgt zu werden. Ein relevanter Widerspruch ist darin nicht zu erkennen. Entgegen den Erwägungen des BVwG, es müsse ein Haftbefehl existieren, wenn der Erstrevisionswerber tatsächlich als "Staatsfeind" angesehen werde, ergibt sich aus den der Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichten der Staatendokumentation, dass Verhaftungen auch ohne Haftbefehle durchgeführt werden. Auch hinsichtlich der beiden Schussattentate sind keine Widersprüche ersichtlich, weil der Erstrevisionswerber einheitlich angab, dass sich diese Anfang Jänner 2010 und Ende Februar 2011 ereignet hätten. Dass er im Zuge der Einvernahme am angab, das Attentat habe sich gegen 20 Uhr ereignet und am ausführte, es sei um 22 Uhr gewesen, ist - angesichts des zeitlich weiten Zurückliegen - als kein gravierender Widerspruch zu werten. Dies gilt ebenso für den Umstand, dass er im Zuge der Einvernahme am offenbar irrtümlich vom Februar "2012" sprach, wobei auch ein Protokollfehler nicht auszuschließen ist. Keine Widersprüche sind schließlich bei seinen Angaben zur Parteizugehörigkeit zu erkennen, wobei er einmal den Parteinamen "AJM" angab, bei Gericht hingegen - wie auch bereits in seiner Einvernahme am  - den Parteiobmann Vazgen Manukyan nannte.

20 Soweit sich das BVwG zur Begründung der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens der Revisionswerber weiters auf die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation und die von dieser eingeholten Stellungnahme einer Vertrauensperson stützt, ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auszuführen, dass es sich dabei um keinen Beweis durch Sachverständige im Sinne des § 52 AVG, sondern um ein Beweismittel eigener Art handelt, bei dessen Würdigung stets zu berücksichtigen ist, dass die Qualifikation und die Vorgangsweise der ermittelnden Privatperson sich einer Kontrolle weitgehend entziehen und sie im Gegensatz zu einem Sachverständigen im Sinne des § 52 AVG auch nicht persönlich zur Verantwortung gezogen werden kann (vgl. -0101, mwN).

21 Der Verweis auf die von der Staatendokumentation eingeholte Stellungnahme einer Vertrauensperson allein vermag im Revisionsfall die Entscheidung des BVwG nicht zu tragen, weil die Stellungnahme nur allgemein festhält, dass Mitglieder der "Metsin Tigan" in Armenien keine besonderen Probleme hätten, ohne auf das individuelle Vorbringen der revisionswerbenden Parteien fallbezogen näher einzugehen. Zudem bleibt völlig offen, was die Stellungnahme mit der Äußerung, die "AJM" sei "loyal zur Macht und an den Rand gedrängt" meint.

22 Damit fehlt dem angefochtenen Erkenntnis aber im Sinne der zitierten hg. Rechtsprechung eine nachvollziehbare Begründung der vom BVwG angenommenen Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens.

23 Das angefochtene Erkenntnis lässt relevante Feststellungen und dazu notwendige weitergehende Ermittlungen vermissen. So hat das BVwG zwar allgemeine Feststellungen zu Armenien getroffen, es hat sich aber nicht näher mit dem Vorbringen des Erstrevisionswerbers auseinandergesetzt, Mitglied (sowie Gruppenleiter und Kommandant) der Gruppe der aufständischen Kämpfer um Vazgen Sargsyan gewesen zu sein, der im Rahmen eines Anschlags auf das armenische Parlament im Jahr 1999 getötet worden ist. Wie die Revision aufzeigt, hat der Erstrevisionswerber im Verfahren mehrmals vorgebracht, dass er aufgrund seiner oppositionellen Haltung und der von ihm organisierten Aufstände - genauso wie andere aufständische Kämpfer unter Vazgen Sargsyan - in Konflikt mit dem damaligen amtierenden Präsidenten und dessen Nachfolger geraten und dadurch einer Verfolgung ausgesetzt sei.

24 Vor dem Hintergrund dieses Vorbringens wäre daher die tatsächliche Verflechtung des Erstrevisionswerbers zu Vazgen Sargsyan und die nunmehrige Lage der Kriegsveteranen in der Region Berg-Karabach, vor allem für den Erstrevisionswerber als damaligen Gruppenleiter und Kommandanten, zu untersuchen und der Erstrevisionswerber in der mündlichen Verhandlung dazu näher zu befragen gewesen. Gegebenenfalls wäre ein länderkundlicher Sachverständiger beizuziehen gewesen, um die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Erstrevisionswerbers einer Prüfung zu unterziehen.

25 Um die Plausibilität des von der Zweitrevisionswerberin vorgebrachten Angriffs auf ihre Person am zu überprüfen, hätte überdies ihr Sohn als Zeuge befragt werden können, welcher sich nach Angaben der Zweitrevisionswerberin ebenfalls in Österreich als Asylwerber aufhält und dessen inländischen Aufenthalt das BVwG sogar im Erkenntnis selbst anspricht (vgl. , mwN).

26 Indem das BVwG diese Ermittlungen und Feststellungen unterlassen hat, hat es seine Verpflichtung, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln, verletzt. Die Beweiswürdigung des BVwG erweist sich somit insgesamt als unvollständig und daher unschlüssig, weshalb sich die rechtliche Beurteilung einer nachprüfenden Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes entzieht.

27 Das BVwG wird daher im fortgesetzten Verfahren - ausgehend von konkreten Feststellungen zum maßgebenden Sachverhalt und nach Würdigung des individuellen Vorbringens und der weiteren Ermittlungsergebnisse - zu beurteilen haben, ob den revisionswerbenden Parteien in Armenien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht.

28 Aus den dargelegten Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat aufzuheben.

29 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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Normen
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §57;
AsylG 2005 §8 Abs1;
FrPolG 2005 §46;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
FrPolG 2005 §55;
VwGG §30 Abs2;
ECLI
ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017180049.L00
Datenquelle

Fundstelle(n):
MAAAE-75066