VwGH vom 19.03.2013, 2012/15/0021

VwGH vom 19.03.2013, 2012/15/0021

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2012/15/0022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Zorn, Dr. Büsser, MMag. Maislinger und Dr. Sutter als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Zaunbauer, über die Beschwerden des 1. G L und des 2. G V, beide in W, beide vertreten durch Dr. Peter Gatternig und Mag. Karl Gatternig, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Renngasse 9, gegen die Bescheide des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom , zu 1. Zl. RV/1827-W/10 und zu 2. Zl. RV/1803-W/10, jeweils betreffend Versagung einer Nachsicht gemäß § 236 BAO, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Ansuchen vom beantragten die Beschwerdeführer, die Umsatzsteuer 1995 der GesbR G.L. und Mitbesitzer in Höhe von EUR 153.726,80 und die hierauf entfallenden Nebengebühren nachzusehen. Begründend brachten sie vor, dass die Vorschreibung der Umsatzsteuer 1995 deshalb erfolgt sei, weil die Miteigentümer ihre ursprüngliche Absicht, die hergestellten Häuser zu vermieten, nicht verwirklicht hätten. Diese Absicht hätten sie nur notgedrungen aufgegeben, weil die von ihnen mit der Errichtung der vier Häuser betraute Baufirma ihre Arbeiten äußerst mangelhaft durchgeführt und die Häuser schließlich in einem Zustand übergeben habe, welcher jegliche Vermietungsmöglichkeit ausgeschlossen habe. Letztlich hätten sie die Häuser über Aufforderung und Drängen der finanzierenden Bank weit unter den Gestehungskosten verkaufen müssen, wodurch ihnen ein erheblicher Verlust und zusätzlich infolge der Zeitverzögerung von einigen Jahren auch ein unermesslicher Schaden in Höhe der weiterlaufenden Zinsen des aufgenommenen Kredites von mehreren Millionen ATS entstanden sei.

Bezüglich der finanziellen Verhältnisse verwies der Erstbeschwerdeführer darauf, dass er zwar eine Pension beziehe, diese aber bis auf das Existenzminimum gepfändet sei, und er außerdem auf Grund einer chronischen Erkrankung hohe zusätzliche Aufwendungen habe. Der Zweitbeschwerdeführer verwies darauf, dass er nach wie vor nur eine unter dem Existenzminimum liegende Pension samt Ausgleichszulage beziehe und ihn weiterhin die bereits mitgeteilten Sorgepflichten träfen. Ergänzend werde jeweils auf die Eingaben vom und die mit diesen vorgelegten Vermögensverzeichnisse verwiesen.

Mit Bescheid vom wies das Finanzamt die Ansuchen ab.

Daraufhin erhoben die Beschwerdeführer Berufung und beantragten die Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung.

Im Beschwerdefall habe sich kein Nachteil im Rahmen eines gewöhnlichen Unternehmerrisikos verwirklicht. Das auf ein schweres Verschulden des von den Miteigentümern beauftragten Bauunternehmers zurückzuführende Scheitern ihres Projektes falle vielmehr unter die Kategorie eines nicht vorhersehbaren völlig außergewöhnlichen Risikos, sodass sachliche Unbilligkeit der Abgabeneinhebung vorliege.

Auch persönliche Unbilligkeit liege vor, weil es die auch Kreditinstituten bekannten erheblichen Abgabenverbindlichkeiten der Beschwerdeführer verhindern würden, dass die Miteigentümer eine normale Bankverbindung eingehen könnten und sie dadurch keine Möglichkeit mehr hätten, einen kleineren Kredit aufzunehmen, um ein übliches Leben zu führen. Die Miteigentümer würden kein Unternehmen mehr betreiben, welches bereits existenzgefährdend wäre, sondern es gehe ihnen darum, durch die Abgabennachsicht die Möglichkeit zu haben, ein Leben wie jeder andere Abgabepflichtige mit normalen Bankverbindungen zu führen.

Nachdem im Berufungsverfahren auch Neuerungen möglich seien, würden sie ihren Antrag auf Nichteinhebung der verfahrensgegenständlichen Abgabe ausdrücklich auch darauf stützen, dass das Finanzamt schon seit zehn Jahren versuche, die gegenständliche Abgabe einbringlich zu machen, jedoch alle Eintreibungsversuche zufolge Vermögenslosigkeit erfolglos geblieben und weitere Einbringungsmaßnahmen offensichtlich aussichtslos seien. Deshalb werde der Anspruch auf Nichteinhebung der verfahrensgegenständlichen Abgabe nicht nur auf die Bestimmung des § 236 BAO, sondern auch auf jene des § 235 BAO gestützt, welcher die Abschreibung einer Abgabe bei Uneinbringlichkeit vorsehe.

Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen ab.

Zum Antrag der Beschwerdeführer auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei zu bemerken, dass diese durch das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zwar in ihrem aus § 284 Abs. 1 BAO erfließenden Verfahrensrecht verletzt würden. Auf Grund des zu beachtenden Gebotes der Verwaltungsökonomie sei jedoch in Hinblick darauf, dass nach den vorstehenden Ausführungen ausgeschlossen werden könne, dass die belangte Behörde bei Vermeidung dieses Mangels (Durchführung einer mündlichen Verhandlung) zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen worden.

Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer sei die Berichtigung der am für den Voranmeldungszeitraum 11/1995 geltend gemachten Vorsteuer aus der Errichtung der zur Vermietung vorgesehenen Häuser auf Grund des vor dem Ablauf der neunjährigen Frist vorgenommenen Verkaufes und damit der Änderungen der Verhältnisse gemäß § 12 Abs. 10 UStG keinesfalls eine nicht vorherzusehende Rechtsfolge. Es möge zwar sein, dass die letztliche Unmöglichkeit der Vermietung der Häuser infolge der aufgetretenen und nicht behobenen Baumängel für die Beschwerdeführer ein außergewöhnliches und nicht vorhergesehenes Ereignis dargestellt habe. Im Bereich der Unbilligkeit nach § 236 BAO komme es jedoch nicht darauf an, sondern werde ausschließlich auf die Vorhersehbarkeit der steuerlichen Rechtsfolge bei Verwirklichung eines Sachverhaltes (ob vorhersehbar oder nicht) abgestellt. Damit eine dem Gesetz entsprechende Abgabe als unbillig angesehen werden könne, müsse sie nicht vorhersehbar gewesen sein, was auf die Vorsteuerberichtigung als logische Folge des Liegenschaftsverkaufes nicht zutreffe. In diesem Zusammenhang müsse dem Vorbringen des Finanzamtes gefolgt werden, weil nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nachteilige Folgen, die alle Wirtschaftstreibenden in ähnlicher Lage träfen (hier: die zu berichtigende Vorsteuer im Falle einer Verwendungsänderung), und Geschäftsvorfälle, die dem Bereich des Unternehmerwagnisses zuzuordnen seien (hier: die faktische Unmöglichkeit der Vermietung auf Grund von Baumängeln), eine Nachsicht nicht rechtfertigten. Darüber hinaus würde eine Bejahung der Unbilligkeit bei dieser Fallkonstellation bedeuten, dass das Unternehmerrisiko auf den Abgabengläubiger abgewälzt werde. Eine sachliche Unbilligkeit liege sohin nicht vor.

Weiters sei auf Grund des Parteienvorbringens zu prüfen, ob eine persönliche Unbilligkeit vorliege. Hierbei sei zunächst noch keine Ermessensentscheidung zu treffen, sondern ein unbestimmter Gesetzesbegriff auszulegen. Eine persönlich bedingte Unbilligkeit liege im Besonderen dann vor, wenn die Einhebung der Abgaben die Existenzgrundlagen des Nachsichtwerbers gefährde. Da die Beschwerdeführer angegeben hätten, sie bezögen zwar entweder eine Pension, die bis auf das Existenzminimum gepfändet sei (Erstbeschwerdeführer), oder eine bereits unter dem Existenzminimum liegende Pension (Zweitbeschwerdeführer) und verfügten beide über kein Vermögen, könne eine persönliche Unbilligkeit nicht vorliegen, weil Einbringungsmaßnahmen ohnedies nicht gesetzt werden könnten. Auch nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sei eine Unbilligkeit dann nicht gegeben, wenn die finanzielle Situation des Abgabenschuldners so schlecht sei, dass auch die Gewährung der beantragten Nachsicht nicht den geringsten Sanierungseffekt hätte und an der Existenzgefährdung nichts änderte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , 2010/15/0196, ausgeführt hat, begründet die Nichtdurchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung durch den unabhängigen Finanzsenat in Verletzung von § 284 BAO einen besonders gravierenden Verfahrensmangel, der im Anwendungsbereich der Grundrechtecharta jedenfalls zu einer Bescheidaufhebung führt.

Eine Relevanzprüfung entfällt in diesem Fall ungeachtet dessen, dass eine Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG im Allgemeinen nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides führt, wenn die belangte Behörde bei deren Einhaltung zu einem anders lautenden Bescheid hätte kommen können, also nur dann, wenn dieser Verfahrensmangel relevant im Sinne eines möglichen Einflusses auf den angefochtenen Bescheid sein könnte und der Beschwerdeführer eine solche Relevanz auch aufzuzeigen vermochte.

Umsatzsteuerverfahren fallen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts; jedenfalls für solche Abgabenverfahren ergibt sich daher seit aus Art. 47 Abs. 2 GRC das Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Mit der Vollziehung des UStG 1994 wird augenscheinlich in "Durchführung des Rechts der Union" im Sinn des Art. 51 Abs. 1 GRC gehandelt, weshalb auch auf die Verbürgung der Grundrechte der GRC Bedacht zu nehmen ist.

Da auch die Behandlung von Nachsichtsanträgen zur Erhebung der Umsatzsteuer und insofern zur Durchführung von Unionsrecht im Sinne von Art 51 Abs. 1 GRC zu zählen ist, ist auch im Beschwerdefall von einer Anwendbarkeit der GRC auszugehen (vgl. die Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom , C-617/10, Fransson , Rn. 19 ff, 25 ff sowie vom , C-132/06, Kommission/Italien ).

Das Verwaltungsverfahren ist sohin in den Beschwerdefällen jeweils mit einem wesentlichen Mangel belastet, der gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG zur Aufhebung der angefochtenen Bescheide führt.

Die Zuerkennung der Verfahrenskosten im beantragten Umfang beruht auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am