VwGH vom 04.08.2016, Ra 2016/21/0083

VwGH vom 04.08.2016, Ra 2016/21/0083

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag.a Ortner, über die Revision von 1. S P P, 2. W P, 3. I P und

4. S P, alle vertreten durch Mag. Elisabeth Mace, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Mariahilfer Straße 124/15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W184 2112510-1/2E, W184 2112513-1/2E, W184 2112508-1/2E und W184 2112511-1/2E, betreffend Versagung von Visa nach § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Islamabad), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber ist seinem Vorbringen zufolge der Vater der angeblich 1997, 1999 und 2001 geborenen Zweit- bis Viertrevisionswerber. Alle sind Staatsangehörige von Afghanistan und halten sich - nach der mit der Aktenlage im Einklang stehenden Mitteilung ihrer Rechtsvertreterin vom - nicht in Österreich auf.

2 Sie stellten am bei der Österreichischen Botschaft Islamabad (im Folgenden: Botschaft) - bezogen auf ihre seit Juli 2010 in Österreich befindliche Ehefrau bzw. Mutter, der hier im Dezember 2013 der Status der Asylberechtigten zuerkannt wurde - Anträge auf Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 Abs. 1 AsylG 2005. Als Beweismittel wurden im Verfahren eine Urkunde über die am erfolgte Eheschließung zwischen dem Erstrevisionswerber und der Bezugsperson sowie Geburtsurkunden aller Revisionswerber vorgelegt.

3 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) übermittelte mit Schreiben vom eine "Mitteilung gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005". Deren Inhalt wurde den Revisionswerbern dann insoweit zur Kenntnis gebracht, dass die Gewährung von Asyl für die Revisionswerber nicht wahrscheinlich sei und ihre Visumsanträge daher abzuweisen seien, weil die Fortsetzung des Familienlebens zwischen den Revisionswerbern und der Bezugsperson in Pakistan möglich wäre und die Angaben der Revisionswerber zur Angehörigeneigenschaft "in mehrfacher Hinsicht" den Angaben der Bezugsperson in ihrem Asylverfahren widersprächen.

4 Dem traten die Revisionswerber in der Stellungnahme vom mit einem ausführlichen Vorbringen entgegen. Insbesondere brachten sie vor, dass die Fortsetzung des Familienlebens in Pakistan unmöglich sei, weil zu diesem Staat kein Bezug bestehe. Sie hätten ihn nur zur Einbringung der gegenständlichen Anträge aufgesucht, jedoch immer in Afghanistan gelebt. Hinsichtlich der angeblichen Widersprüche in Bezug auf das Alter der Kinder wurde bemängelt, sie seien nicht konkretisiert worden. In diesem Zusammenhang wurde auch gerügt, dass die Bezugsperson dazu nicht befragt worden sei. Außerdem verwiesen sie auf die vorgelegten Personenstandsurkunden.

5 Das damit befasste BFA teilte am - unter Aufrechterhaltung des bisherigen Standpunkts - mit, diese Stellungnahme der Revisionswerber "hätte zu keiner anderen Entscheidung geführt".

6 Hierauf wies die Botschaft die Visumsanträge der Revisionswerber mit Bescheid vom ab. Diese Entscheidung begründete die Botschaft damit, dass das BFA mitgeteilt hatte, die Gewährung desselben Schutzes wie der Bezugsperson sei nicht wahrscheinlich, weil die Fortsetzung des Familienlebens zwischen den Revisionswerbern und der Bezugsperson in Pakistan möglich sei. Außerdem widersprächen die Angaben der Revisionswerber zur Angehörigeneigenschaft "in mehrfacher Hinsicht" den Angaben der Bezugsperson in ihrem Asylverfahren. Daher seien die Anträge abzuweisen, wobei sich die Botschaft offenbar an die Beurteilung des BFA gebunden erachtete.

7 In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde im Wesentlichen ganz ähnlich wie in der im Verwaltungsverfahren erstatteten Stellungnahme vom argumentiert und mit näherer Begründung ins Treffen geführt, für das Bundesverwaltungsgericht bestehe keine Bindung an die (negative) Mitteilung des BFA.

8 Diese Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom gemäß § 35 AsylG 2005 als unbegründet ab. Außerdem sprach es aus, dass die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung seitens der Botschaft erwogen hat:

10 Die Revision ist - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - zulässig und auch berechtigt.

11 Das BVwG ging in seiner primär tragenden Begründung davon aus, es sei wie die Botschaft an die negative Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des BFA gebunden. Insoweit gleicht der vorliegende Fall jenem, der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2015/21/0068, zugrunde lag. Dort legte der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Ausführungen unter Rz 32 und 33 im Erkenntnis vom , Ro 2015/18/0002 bis 0007, dar, dass dann, wenn gegen einen Bescheid nach § 35 AsylG 2005 Beschwerde erhoben werde, die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung des BFA im Rahmen des § 27 VwGVG einer Überprüfung durch das BVwG unterliege. Indem das BVwG seiner Entscheidung die gegenteilige Auffassung zugrunde legte, belastete es das angefochtene Erkenntnis schon deshalb mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes.

12 Soweit das BVwG die Bestätigung des Bescheides der Botschaft überdies noch auf Alternativbegründungen stützte, vermag dies das angefochtene Erkenntnis aber auch nicht zu tragen:

13 Einerseits beruht diese Begründung auf der vom BVwG getroffenen Annahme, das Alter der Zweit- bis Viertrevisionswerber könne nicht festgestellt werden. Beweiswürdigend wurde dazu ausgeführt, das BFA sei zu Recht von der Unglaubwürdigkeit der behaupteten Geburtsdaten ausgegangen, weil die Bezugsperson, also deren angebliche Mutter, in ihrem Asylverfahren jeweils ein um mehrere Jahre höheres Alter angegeben habe. Demnach müssten die vorgelegten Geburtsurkunden einen unwahren Inhalt haben.

14 Diesbezüglich bemängelt die Revision zu Recht (zusammengefasst), dass dieser Widerspruch in den Angaben der Beteiligten weder im Vorhalt der Botschaft betreffend die negative Mitteilung des BFA noch im Bescheid der Botschaft konkretisiert worden war. Demnach wurde in diesem Punkt das Parteiengehör nur unzureichend gewährt (siehe das schon erwähnte Erkenntnis vom , Ro 2015/18/0002 bis 0007, Rz 32, wonach diesfalls auch das Neuerungsverbot nach § 11a Abs. 2 FPG nicht gilt). In diesem Zusammenhang zeigen die Revisionswerber auch insofern eine relevante Mangelhaftigkeit des Verfahrens auf, als das BVwG die - schon in der Stellungnahme vom angesprochene - Vernehmung der Bezugsperson zur allfälligen Aufklärung bzw. Manifestierung des angenommenen Widerspruchs in den Altersangaben sowie der daraus abgeleiteten Zweifel am wahren Inhalt der Geburtsurkunden und (demzufolge) an der Richtigkeit des behaupteten Alters der Zweit- bis Viertrevisionswerber unterlassen hat (siehe in diesem Zusammenhang noch zum Verständnis des nach § 35 Abs. 4 AsylG 2005 maßgeblichen Wahrscheinlichkeitskalküls die Ausführungen unter Rz 31 des schon wiederholt genannten Erkenntnisses vom , Ro 2015/18/0002 bis 0007).

15 Andererseits vertritt das BVwG - ähnlich wie auch schon das BFA in einem Aktenvermerk zu seiner Wahrscheinlichkeitsprognose - die Meinung, die Beweiskraft der vorgelegten Heiratsurkunde sei gering, weil afghanische Personenstandsurkunden unwahren Inhalts weit verbreitet seien, zumal derartige Urkunden von den Behörden auch ohne adäquaten Nachweis ausgestellt würden.

16 Abgesehen davon, dass auch die diesbezüglichen Zweifel weder im Vorhalt der Botschaft betreffend die negative Mitteilung des BFA noch im Bescheid der Botschaft dargelegt wurden, ist darauf hinzuweisen, dass ein solcher bloß allgemeiner Verdacht nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen (vgl. zuletzt das Erkenntnis vom , Zl. 2013/21/0236 bis 0239, mwN).

17 Soweit das BVwG in diesem Zusammenhang noch (erstmals) unter Bezugnahme auf die - allerdings an Hand einer aus 1990 datierenden Quelle ermittelte - Rechtslage in Afghanistan die Meinung vertritt, es liege mangels Registrierung jedenfalls keine gültige Ehe nach staatlichem Recht vor, verletzte es aber das sogenannte "Überraschungsverbot" (zu dessen Geltung auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/21/0058, mwN; dazu, dass die Ermittlung ausländischen Rechts dem Bereich der Tatfrage zuzuordnen ist, siehe beispielsweise aus der letzten Zeit das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/06/0027, mwN). Das hat zur Folge, dass das BVwG den in der Revision (zulässig) unter Bezugnahme auf bestimmte Quellen vorgetragenen Einwand, auch nicht registrierte Ehen seien staatlich anerkannt und mit sämtlichen eherechtlichen Pflichten und Rechten verbunden, nicht berücksichtigen konnte.

18 Schließlich meinte das BVwG noch, die Revisionswerber hätten "nicht plausibel dargelegt", dass eine Fortführung des Privat- und Familienlebens nicht auch in einem anderen Staat möglich wäre, etwa in Pakistan. Damit bezieht sich das BVwG auf die Voraussetzung für die Gewährung desselben Schutzes nach § 34 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005, wonach die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich sein dürfe.

19 Die Annahme des Vorliegens dieses Ausnahmetatbestandes hätte aber eine positive Feststellung über die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Führung eines Familienlebens der Revisionswerber mit der Bezugsperson in Pakistan vorausgesetzt, was in der Regel einen - von den Revisionswerbern im Verfahren ausdrücklich bestrittenen - besonderen Bezug zu diesem Staat und zumindest die Möglichkeit der Erlangung eines nicht nur vorübergehenden Aufenthaltsrechts voraussetzt. Diesbezügliche Ermittlungen wurden allerdings im bisherigen Verfahren unterlassen. Auch das macht die Revision zutreffend geltend.

20 Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis somit wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

21 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

22 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere unter Bedachtnahme auf § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am