VwGH vom 28.10.2004, 2001/09/0058

VwGH vom 28.10.2004, 2001/09/0058

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Graf und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Blaschek, Dr. Rosenmayr und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Lier, über die Beschwerde des E in W, vertreten durch Mag. Hans Pircher, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Seilerstätte 5, gegen den Bescheid der Landesgeschäftsstelle Wien des Arbeitsmarktservice vom , Zl. LGSW/Abt.10/13115/1032205/2000, betreffend Nichtausstellung eines Befreiungsscheines nach § 4c Abs. 2 des Ausländerbeschäftigungsgesetzes, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Arbeitsmarktservice hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit der vorliegenden Beschwerde ist ein im Instanzenzug ergangener Bescheid der Landesgeschäftsstelle Wien des Arbeitsmarktservice vom angefochten, mit welchem der Antrag des Beschwerdeführers vom auf Ausstellung eines Befreiungsscheines nach § 4c Abs. 2 des Ausländerbeschäftigungsgesetzes "gemäß § 4c Abs. 2 (des) Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslBG) BGBl. Nr. 218/1975 idgF. ... in Verbindung mit § 4c Abs. 2 AuslBG in Verbindung mit

Artikel 7 2. Unterabsatz des Beschlusses 1/1980 des Assoziationsrates vom (ARB Nr. 1/1980) über die Entwicklung der Assoziation" abgelehnt wurde. Der angefochtene Bescheid wurde damit begründet, dass die Art. 6 und 7 des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei (ARB) Nr. 1/80 lediglich zwischen der EWG und der Türkei abgeschlossen worden seien und daher die türkische Staatsangehörigkeit voraussetzten. Dem Beschwerdeführer sei jedoch mit Beschluss des Ministerausschusses der Türkei vom die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt worden und er sei seither staatenlos. Die Bestimmungen des ARB fänden auf ihn daher keine Anwendung.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Der Beschwerdeführer erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid nach seinem gesamten Beschwerdevorbringen in dem Recht auf Ausstellung des beantragten Befreiungsscheines nach § 4c Abs. 2 AuslBG in Verbindung mit Art. 7 des ARB Nr. 1/1980 verletzt. Er beantragt, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Der § 4c AuslBG in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 78/1997 lautet:

"(1) Für türkische Staatsangehörige ist eine Beschäftigungsbewilligung von Amts wegen zu erteilen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Unterabsatz oder nach Art. 7 erster Unterabsatz oder nach Art. 7 letzter Satz oder nach Artikel 9 des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei - ARB Nr. 1/1980 erfüllen.

(2) Türkischen Staatsangehörigen ist von Amts wegen ein Befreiungsschein auszustellen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 dritter Unterabsatz oder nach Art. 7 zweiter Unterabsatz des ARB Nr. 1/1980 erfüllen.

(3) Die Rechte türkischer Staatsangehöriger auf Grund der sonstigen Bestimmungen dieses Bundesgesetzes bleiben unberührt. Für die Verfahrenszuständigkeit und die Durchführung der Verfahren gemäß Abs. 1 und 2 gelten, soweit dem nicht Bestimmungen des ARB Nr. 1/1980 entgegenstehen, die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes."

Art. 7 des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei (ARB Nr. 1/1980) lautet:

"Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,


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haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
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haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.
Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.
..."
Der klare Wortlaut des Art. 7 zweiter Unterabsatz des ARB Nr. 1/1980 lässt keinen Zweifel daran, dass die darin enthaltenen Rechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer allen Kindern von darin näher umschriebenen türkischen Arbeitnehmern, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, eingeräumt sind. Dies ergibt sich schon aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift in allen authentischen Sprachfassungen. Art. 7 ARB Nr. 1/80 enthält sohin keine besonderen Voraussetzungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit der begünstigten Familienangehörigen. Seine Vergünstigungen gelten gleichermaßen für Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer anderer oder - wie im vorliegenden Fall - ohne Staatsangehörigkeit (vgl. Gutmann, Die Assoziationsfreizügigkeit türkischer Staatsangehöriger, 2. Auflage 1999, 116). Für eine Einschränkung der Rechte der Kinder türkischer Arbeitnehmer gemäß Art. 7 zweiter Unterabsatz ARB Nr. 1/1980 auf solche türkischer Staatsangehörigkeit kann auch kein Anhaltspunkt in der Rechtsprechung des EuGH gefunden werden (vgl. etwa die Urteile vom , in der Rechtssache Eroglu, C-355/93, Slg I-5113, oder vom in der Rechtssache Akman, C-210/97, Slg I-7519). Dies ist auch aus dem erkennbaren Zweck des Art. 7 ARB Nr. 1/80 zu ersehen, der Erleichterung der Beschäftigung von türkischen Wanderarbeitnehmern in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu dienen, dazu gehört auch die Regelung bestimmter Rechte ihrer Familienangehörigen.
Im Übrigen enthalten auch die vergleichbaren Bestimmungen der Art. 10 bis 12 der Verordnung Nr. 1612/68/EWG des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft keine Einschränkung betreffend die Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen von dort berechtigten Wanderarbeitnehmern. Mit Bezug auf diese hat der EuGH in seinem Urteil vom , in der Rechtssache Baumbast, C 413/99, Slg 2002, I-7091, ausdrücklich erkannt, dass diese Bestimmungen für Familienangehörige ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gelten, welche Aussage er auch hinsichtlich des Art. 12 leg. cit. (in welchem - anders als in Art. 10 und Art. 11 leg. cit. - die Formulierung "ungeachtet Ihrer Staatsangehörigkeit" oder "selbst wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzen", nicht enthalten ist) getroffen hat (vgl. Rz 56).
Aus dem Inhalt und der Entstehungsgeschichte des § 4c AuslBG geht hervor, dass mit dieser Bestimmung im Anschluss an das hg. Erkenntnis vom , Zl. 96/09/0088, die innerstaatliche Umsetzung der Art. 6 und 7 ARB in Form der Rechtsinstitute der Beschäftigungsbewilligung und des Befreiungsscheins erfolgen sollte (vgl. die Erläuterungen der Regierungsvorlage zur AuslBG-Novelle BGBl. I Nr. 78/1997, 698 Blg. NR, 20. GP. S 14). Daraus ergibt sich der unzweifelhafte Sinn des § 4c Abs. 2 AuslBG, dass damit auch allen gemäß Art. 7 zweiter Unterabsatz des ARB Nr. 1/1980 berechtigten Kindern türkischer Arbeitnehmer das Recht auf Ausstellung eines Befreiungsscheines eingeräumt werden sollte.
Zwar kommt den in Art. 7 ARB Nr. 1/1980 eingeräumten Rechten unmittelbare Wirkung zu und werden die daraus erfließenden subjektiven Rechte nicht erst durch die Ausstellung einer behördlichen Erlaubnis begründet. Einem nach dem nationalen Recht dennoch vorgesehenen behördlichem Dokument - hier einem Befreiungsschein - ist für die Anerkennung der aus dem ARB Nr. 1/1980 erfließenden subjektiven Rechte lediglich "deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion" beizumessen (vgl. etwa das Eyüp, C 65/98, Slg. 2000, I-4747 ff (Rz 45); und das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom , Zl. 2000/09/0212, jeweils mit weiteren Nachweisen). Es wäre aber mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander (vgl. dazu etwa die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom , VfSlg. 14.191, und vom , VfSlg. 16.214) nicht zu vereinbaren, die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die nicht die türkische Staatbürgerschaft besitzen (und die auch keine österreichischen Staatsbürger oder EWR-Bürger sind), von der Ausstellung eines Befreiungsscheines nach § 4c Abs. 2 AuslBG nur wegen des Mangels der türkischen Staatsbürgerschaft auszuschließen, hiefür wäre keine sachliche Rechtfertigung zu ersehen. Eine derart unterschiedliche Behandlung wäre auch diskriminatorisch im Sinne des Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK, da eine "objektive und vernünftige Rechtfertigung" dafür nicht ersichtlich ist, weil sie offenkundig kein legitimes Ziel verfolgt (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , VfSlg 14.863, und die dort zitierten Urteile des EGMR vom , im Fall Abdulaziz, EuGRZ 1985, 567 ff. (570), vom im Fall Inze, ÖJZ 1988, 177 f. (178), und vom im Fall Darby, ÖJZ 1991, 392 ff. (392)).
Ähnlich wie im zuletzt zitierten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes kann auch im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob man die Lösung in einer verfassungskonformen Interpretation sieht oder ob man annimmt, dass hinsichtlich jener gemäß Art. 7 zweiter Unterabsatz ARB Nr. 1/1980 berechtigter Kinder türkischer Arbeitnehmer, die nicht die türkische Staatsbürgerschaft besitzen (und die auch keine österreichischen Staatsbürger oder EWR-Bürger sind), in § 4a Abs. 2 AuslBG eine - planwidrige - Lücke besteht, die in verfassungskonformer Weise zu schließen ist. Beides führt zum selben Ergebnis: § 4c Abs. 2 AuslBG ist jedenfalls dahin auszulegen, dass auch gemäß Art. 7 zweiter Unterabsatz ARB Nr. 1/1980 berechtigten Kindern türkischer Arbeitnehmer, die nicht die türkische Staatsbürgerschaft besitzen (und die auch keine österreichischen Staatsbürger oder EWR-Bürger sind), ein Befreiungsschein auszustellen ist.
Dies hat die belangte Behörde verkannt, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG i.V.m. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am