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VfGH vom 03.12.2013, WI2/2013

VfGH vom 03.12.2013, WI2/2013

19820

Leitsatz

Keine Stattgabe der Anfechtung der Wahl zum Niederösterreichischen Landtag im März 2013; kein Widerspruch des Vorzugsstimmensystems der Nö Landtagswahlordnung 1992 zum Homogenitätsprinzip; keine Überschreitung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Landesgesetzgebers durch die Regelung über die Gültigkeit eines Stimmzettels mit einer Vorzugsstimme für einen Bewerber als Stimme für dessen Partei

Spruch

Der Wahlanfechtung wird nicht stattgegeben.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Anfechtung und Vorverfahren

1.1. Am fand die von der Niederösterreichischen Landesregierung mit Kundmachung vom , LGBl 0300/12-0, ausgeschriebene Wahl des Niederösterreichischen Landtages statt.

1.2. Dieser Wahl lagen die von der Kreiswahlbehörde überprüften, gemäß § 48 Abs 5 der Niederösterreichischen Landtagswahlordnung 1992, LGBl 0300-9 (im Folgenden: NÖ LWO), abgeschlossenen und veröffentlichten Wahlvorschläge folgender wahlwerbender Parteien zugrunde:

Liste 1: Volkspartei Niederösterreich – ÖVP, Liste 2: Sozialdemokratische Partei Österreichs – SPÖ, Liste 3: Freiheitliche Partei Österreichs – FPÖ, Liste 4: Die Grünen – GRÜNE, Liste 5: Piraten Partei Österreich – PIRAT, Liste 6: Kommunistische Partei Österreichs – KPÖ, Liste 7: Mutbürger – MUT, Liste 8: Team Frank Stronach – FRANK, Liste 9: Christliche Partei Österreichs – Mitte Partei – CPÖMP.

1.3. Laut Feststellung der Landeswahlbehörde wurden bei dieser Wahl insgesamt 975.746 gültige Stimmen abgegeben, 19.527 Stimmzettel wurden als ungültig gewertet; es gelangten 56 Mandate zur Vergabe. Davon entfielen auf die

ÖVP: 495.557 Stimmen (30 Mandate), SPÖ: 210.504 Stimmen (13 Mandate), FPÖ: 80.122 Stimmen (4 Mandate), GRÜNE: 78.678 Stimmen (4 Mandate), PIRAT: 501 Stimmen (0 Mandate), KPÖ: 7.559 Stimmen (0 Mandate), MUT: 5.968 Stimmen (0 Mandate), FRANK: 96.016 Stimmen (5 Mandate), CPÖMP: 841 Stimmen (0 Mandate).

2. Mit ihrer am zur Post gegebenen, auf Art 141 Abs 1 lita B VG gestützten Wahlanfechtung beantragt die wahlwerbende Partei "Die Grünen", vertreten durch ihren zustellungsbevollmächtigten Vertreter, "das Verfahren für die Wahl zum NÖ Landtag [...] ab der 'Feststellung des örtlichen Wahlergebnisses' ([§§] 83 ff NÖ-Landtagswahlordnung 1992) für nichtig zu erklären und als rechtswidrig aufzuheben."

Begründend wird in der Wahlanfechtung der Sache nach die Verfassungswidrigkeit des § 78 Abs 3 NÖ LWO behauptet und im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

"Wahlrechtliches Homogentitätsprinzip

Gemäß Art 95 Abs 2 B-VG dürfen die Landtagswahlordnungen die Bedingungen des Wahlrechtes und der Wählbarkeit nicht enger ziehen als die Bundesverfassung für Wahlen zum Nationalrat.

Dies wird als 'wahlrechtliches Homogenitätsgebot' oder 'Günstigkeitsprinzip' bzw. 'Grundsatz der Einheitlichkeit der Wahlrechtsgrundsätze' bezeichnet. Der Verfassungsgerichtshof hat festgehalten, dass der Verfassungsgesetzgeber für alle Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern ein in den Grundzügen einheitliches Wahlrecht schaffen wollte (vgl VfSlg 3426/1958, 3560/1959).

Bestimmungen der Landtagswahlordnungen[,] die dem Homogentitätsprinzip widersprechen sind verfassungswidrig und haben von den Behörden unangewendet zu bleiben.

ln der Folge wird dargestellt, dass die Regelung der Gültigkeit von Vorzugsstimmen in der NÖ-Landtagswahlordnung 1992 konträr zur Nationalratswahlordnung l992 geregelt ist und der Landesgesetzgeber dabei seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum im Rahmen der Grenzen der Bundesverfassung überschritten hat.

1. 'Bedingungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit'

Über die Frage was genau unter die 'Bedingungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit' gemäß Art 95 Abs 2 B-VG und damit unter das Homogenitätsprinzip zu subsumieren ist, herrscht in der Lehre Uneinigkeit.

Durch die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist jedoch klargestellt, dass bei Fragen der Einschränkung des aktiven oder passiven Wahlrechts die Länder jedoch jedenfalls an das Homogenitätsprinzip gebunden sind.

Die gegenständliche Frage, ob Vorzugsstimmen, die einem Bewerber gegeben werden[,] gültig sind, obwohl eine andere Parteiliste gleichzeitig gewählt wurde, ist eine Einschränkung des aktiven Wahlrechts und somit vom Homogenitätsprinzip erfasst.

Um es klarer zu sagen: Die Anfechtungswerberin macht geltend, dass der Landesgesetzgeber bei der Frage der Ausgestaltung der Vorzugsstimmen an verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden ist.

2. Das Listensystem als von der Bundesverfassung vorgegebener Grundpfeiler der Wahlordnung

Art26 Abs 2 B-VG knüpft im Hinblick auf die Wahl zum Nationalrat an die Existenz von wahlwerbenden Parteien an. Aus diesem Umstand schließt der Verfassungsgerichtshof, dass der Verfassungsgesetzgeber von einem Verhältniswahlrecht in Form eines Listenwahlrechts ausgegangen ist (vgl VfSlg 1930/1950). Der Verfassungsgerichtshof hat auch die Unabdingbarkeit eines Listensystems im Verhältniswahlrecht begründend zur Aufhebung eines Gemeindewahlgesetzes angeführt und somit festgehalten, dass das Listenwahlrecht als Grundpfeiler jeder Wahlordnung zu allgemeinen Vertretungskörpern eingehalten werden muss (vgl VfSlg 9912/1984).

Aus Sicht der Anfechtungswerberin ist die Regelung der Gültigkeit von Vorzugsstimmen Teil des Listenwahlrechts. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass durch die Möglichkeit der Vergabe von Vorzugsstimmen in die bestehenden Listen der Parteien eingegriffen werden kann. And[e]rerseits kann jemand der sich auf keiner Liste einer politischen Partei befindet[,] nicht durch Vorzugsstimmen gewählt werden.

Aus Sicht der Anfechtungswerberin gehört daher die Frage der Regelung der Gültigkeit von Vorzugsstimmen zu einem Grundpfeiler der Wahlordnung, nämlich dem Listensystem, das […] unabdingbar für die Gewährleistung des Verhältniswahlrechts ist.

In der Sprache der Bundesverfassung bedeutet dies, [dass] eine Regelung, die im Hinblick auf die Nationalratswahlordnung dem Art 26 Abs 2 B-VG zuzurechnen wäre, unter die [Bedingungen] des Wahlrechts und der Wählbarkeit im Sinne des Art 95 Abs 2 B-VG fällt.

Die Lehre hat für die Beantwortung der Frage[,] welche Bestimmungen der Wahlordnung vom Homogenitätsprinzip umfasst sind, eine Unterscheidung zwischen Wahlrecht im objektiven Sinn und Wahlrecht im subjektiven Sinn vorgenommen. Jene Regelungen, die das verfassungsgesetzlich gewährleistete subjektive Wahlrecht betreffen, dürfen – im Sinne dieser Unterscheidung – keinesfalls durch die Länder geschmälert werden.

[…]

3. Judikatur des Verfassungsgerichtshof[es] zur niederösterreichischen Gemeinderatswahlordnung

Der Verfassungsgerichtshof hat sich mit einer ähnlich gelagerten Anfechtung betreffend die niederösterreichische Gemeindewahlordnung im Jahr 1995 [auseinandergesetzt] und dieser nicht stattgegeben, da der rechtspolitische Spielraum des Landesgesetzgebers nicht überschritten worden sei. Er hat sich jedoch in diesem Erkenntnis [–] mangels […] Vorbringen der dortigen Anfechtungswerberin – nicht mit der hier geltend gemachten Verfassungswidrigkeit der Regelung [auseinandergesetzt], wonach die Stimme für den Bewerber als abgegeben gilt, wenn gleichzeitig eine andere Partei angekreuzt wurde[.]

4. Personalisierung der Wahlordnung

Ob eine Personalisierung der Wahlordnungen zu den allgemeinen Vertretungskörpern wünschenswert ist oder nicht, ist eine rechtspolitische Entscheidung, die auf Grund des Homogenitätsprinzips nicht auf Landesebene autonom entschieden werden kann.

Die Regelung des § 78 Abs 3 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 überschreitet die Grenzen der Personalisierung der Wahl, da der Landesgesetzgeber durch diese Regelung letztlich folgende Vermutung aufstellt:

Der Wähler hätte jene wahlwerbende Parteiliste gewählt, der der Bewerber angehört, dem der Wähler seine Vorzugsstimme gibt, und zwar selbst dann, wenn dieser ausdrücklich eine andere wahlwerbende Parteiliste gewählt hat.

[…]

5. Stellung der Nationalratswahlordnung 1992 im Stufenbau

Dem Homogenitätsprinzip folgend hat sich der Landesgesetzgeber […] an jene wichtigsten Grundsätze des Wahlrechts zu halten, die nach der Verfassung gleich für die Wahlen zum Nationalrat, den Landtagen und den Gemeindevertretungen gelten.

Den [einfachgesetzlichen] Bestimmungen der Nationalratswahlordnung 1992 kommt im Stufenbau der Rechtsordnung durch die Verfassungsbestimmung Art 46 Abs 2 und Art 60 Abs 1 B-VG eine besondere Stellung im Stufenbau der Rechtsordnung zu. 'Alle Bundes- und Landesgesetze einschließlich Bestimmungen des Landesverfassungsrechts, die der Durchführung des bundesverfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahl-, Stimm- und Initiativrechts dienen, müssen sich bei sonstiger Verfassungswidrigkeit an den in der NRWO niedergelegten Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts orientieren.' (vgl Manfred Novak, Forschungen aus Staat und Recht 78/79, politische Grundrechte S 274).

Die Nationalratswahlordnung 1992 regelt in § 79 die Frage der Gültigkeit der Vorzugstimmen[.]

[…]

Gemäß § 78 Abs 2 letzter Tatbestand Nationalratswahlordnung 1992 ist eine Stimme gültig für eine Partei abgegeben, wenn der Wille des Wählers auf andere Weise, zum Beispiel durch Bezeichnung mindestens eines Bewerbers einer Parteiliste (§79 Nationalratswahlordnung 1992) eindeutig zu erkennen ist.

Gemäß § 79 Abs 1 Nationalratswahlordnung 1992 kann der Wähler jeweils eine Vorzugsstimme für einen Bewerber der Landesparteiliste und der Regionalparteiliste der von ihm gewählten Partei vergeben. Es ist somit ein 'Stimmensplitting' verboten.

Dies wurde auch vom Verfassungsgerichtshof festgehalten: [VfSlg 17.075/2003]

Die Regelung der Gültigkeit der Vorzugsstimmen ist auch in anderen Bundesländern gleich der Nationalratswahlordnung 1992 geregelt, beispielhaft wird hier die Regelung der Steiermärkische Landtags-Wahlordnung 2004 angeführt[.]

[…] Recht[s]lage nach der NÖ-Landtagswahlordnung 1992

Die NÖ-Landtagswahlordnung 1992 regelt in § 78 dem Homogenitätsprinzip widersprechend verfassungswidrig wie nachstehend ausgeführt:

Abgabe von Vorzugsstimmen und Parteistimmen

[…]

[Danach] ist gemäß § 78 Abs 1 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 eine Vorzugsstimme nur dann gültig abgegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden:

1. Der Wähler muss den Bewerber im hiefür vorgesehenen Kreis oder sonst wo auf dem amtlichen Stimmzettel eindeutig bezeichnen.

2. Der Wähler darf nur je einen Bewerber der Landesliste und/oder der Wahlkreisliste bezeichnen. Bezeichnet er auf einer der beiden Listen keinen oder mehrere Bewerber, ist die Vorzugsstimme der anderen Liste dennoch gültig.

3. Der Wähler muss grundsätzlich Bewerber, die auf [derselben] Parteiliste aufscheinen, bezeichnen. Werden aber Bewerber bezeichnet, die auf verschiedenen Parteilisten aufscheinen, so gilt die Vorzugsstimme nur für den/die Bewerber, dessen/deren Partei zusätzlich bezeichnet wurde.

Gemäß § 78 Abs 3 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 gilt jedoch der Stimmzettel als gültige Stimme für diese Partei, wenn eine gültige Vorzugsstimme für Bewerber [derselben] Parteiliste (Abs2) abgegeben wurde[…], selbst wenn eine andere Partei bezeichnet wurde.

Gemäß § 80 Abs 1 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 ist der Stimmzettel […] ungültig, wenn ohne gültige Vorzugsstimme zwei oder mehrere Parteien bezeichnet wurden (Z2), oder auch sonst der Wählerwille nicht eindeutig zu erkennen ist (Z6).

[…]

[…] Postulat der Reinheit der Wahlen/[w]ahrer Wählerwille

1. Das Postulat der Reinheit der Wahlen besagt, dass in deren Ergebnis der wahre Wählerwille zum Ausdruck kommen soll. Zur Ausgestaltung dieses tragenden Grundsatzes des Wahlrechts wird auf diese ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes verwiesen (VfSlg 2936, 2037).

2. Auch § 80 Abs 1 Z 6 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 trägt diesem Postulat Rechnung, wenn er vorsieht, dass ein Stimmzettel ungültig ist, wenn der Wählerwille nicht eindeutig zu erkennen ist.

3. § 78 Abs 3 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 steht im klaren Widerspruch zum Postulat der Reinheit der Wahlen, da bei einem unklaren Wählerwillen, nämlich der Entscheidung für eine wahlwerbende Parteiliste und einer Vorzugsstimme für eine Bewerberin/einen Bewerber einer anderen Liste, dennoch die Vorzugsstimme für gültig erklärt wird.

[…] Verfassungskonformes Vorgehen der Landeswahlbehörde

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist die Wahlbehörde durch die Formalvorschriften der Wahlordnungen streng gebunden. Die Bestimmungen der Wahlordnungen müssen strikt nach ihrem Wortlaut ausgelegt werden (vgl W I-5/74).

[…]

Die Wahlbehörde hätte daher die NÖ-Landtagswahlordnung 1992 nur soweit anwenden dürfen, als sie im Einklang mit der Bundesverfassung steht. Die Bestimmung des § 78 Abs 3 NÖ-Landtagswahlordnung 1992 hätte unangewendet bleiben müssen." (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original)

3. Die Landeswahlbehörde legte die Wahlakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie im Wesentlichen Folgendes ausführt:

"Es besteht kein Grund, weshalb diese Bestimmung dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Verhältniswahlrechtes widersprechen sollte.

Vielmehr handelt es sich bei der angefochtenen Bestimmung lediglich um eine Regelung des Ermittlungsverfahrens, das entsprechend dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes Slg. 299/1924 zu den technischen Voraussetzungen für die Ausübung des Wahlrechtes zählt und bei dessen Normierung der einfache Gesetzgeber ungebunden ist.

Ebenso wenig ist nachvollziehbar, weshalb nach den Ausführungen der Anfechtungswerberin die Regelungen der NÖ Landtagswahlordnung 1992 betreffend die Wertung von Stimmzetteln den Grundsätzen eines demokratischen Wahlrechts widersprechen sollten.

[…]

Die Anfechtungswerberin übersieht […], dass durch die relevierten Bestimmungen in § 78 LWO nicht das Wahlsystem festgelegt wird, sondern dass diese Bestimmungen lediglich technische Regelungen über die Frage der Gültigkeit und der Wertung der Stimmzettel enthalten. Es widerspricht absolut nicht dem Wesensgehalt der Bundesverfassung, wenn der Landesgesetzgeber in der NÖ Landtagswahlordnung 1992 festlegt, dass bei Nennung einer Partei und eines Bewerbers einer anderen als der bezeichneten Wahlpartei der Stimmzettel als gültige Stimme für die Wahlpartei des vom Wähler eingetragenen Bewerbers gilt. Ebenso wäre es dem Landesgesetzgeber nicht verwehrt gewesen, zu bestimmen, dass ein derartiger Stimmzettel als ungültig zu werten sei.

[…] Aus dem Homogenitätsprinzip gemäß Art 95 Abs 2 B-VG ergibt sich, dass die Landtagswahlordnungen die Bedingungen des Wahlrechtes und der Wählbarkeit nicht enger ziehen dürfen als die Bundesverfassung für Wahlen zum Nationalrat. Art 26 B-VG statuiert für die Wahl des Nationalrates die Grundsätze des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Wahlrechts. Laut den Art 95 und 117 B-VG gelten diese Grundsätze auch für die Wahlen zu den Landtagen und zu den Gemeinderäten. Damit wollte der Verfassungsgesetzgeber für alle Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern in Österreich ein in den Grundzügen einheitliches Wahlrecht schaffen ('Homogenitätsprinzip') (VfGH G218/03). Eine weitergehende Auswirkung des Homogenitätsprinzips auf die in der Anfechtung inkriminierte Bestimmung des § 78 LWO ist aber implizit aus den Bestimmungen des Art 26 B-VG nicht ableitbar. Die Bestimmungen über die Gültigkeit und Ungültigkeit von Stimmzetteln sind unzweifelhaft den 'technischen Regelungen' der Wahlordnung zuzuordnen, solange solche Regelungen sich im Rahmen der allgemeinen Leitlinien der demokratischen Wahlgesetzgebung bewegen. Sie sind sicher nicht elementarer Bestandteil der dem Homogenitätsprinzip unterworfenen Regelung der Prinzipien des Wahlrechtes, wie von der Anfechtungswerberin behauptet.

Die Bedingungen des Wahlrechtes umfassen It. Lehre (vgl. Walter-Mayer, Grundriss des Österreichischen Verfassungsrechtes, Seite 103 ff) folgende Prinzipien:

Allgemeines Wahlrecht Gleiches Wahlrecht Unmittelbares Wahlrecht Persönliches Wahlrecht Freies Wahlrecht Geheimes Wahlrecht sowie das Verhältniswahlrecht.

[…]

Die NÖ Gemeinderatswahlordnung 1994 (GRWO) sah schon in ihrer Stammfassung die Bestimmung über die Bewertung von Vorzugsstimmen versus anderer Parteibezeichnung vor und war auch Grund für eine Anfechtung vor dem Verfassungsgerichtshof im Jahr 1995 [WI-11/95, VfSlg 14.265/1995].

[…]

Im Gegensatz zur Ansicht der Anfechtungswerberin hat der Verfassungsgerichtshof in dem zitierten Erkenntnis sehr wohl die grundsätzliche Verfassungskonformität der Bestimmungen der §§47 und 48 Abs 5 GRWO geprüft und die Ausgestaltung der Bestimmungen über die Gültigkeit des Stimmzettels bei Benennung eines Bewerbers einer Wahlpartei und einer anderen Wahlpartei als im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Landesgesetzgebers liegend beurteilt; sie ist bundesverfassungsgesetzlich (Art117 Abs 2 B-VG) nicht vorentschieden.

Nicht zuletzt aufgrund der Ausführungen des Verfassungsgerichtshofes in dem gegenständlichen Erkenntnis zur Verfassungskonformität der §§47 und 48 Abs 5 GRWO hat der NÖ Landesgesetzgeber u. a. die Novelle des § 78 der LWO im Jahre 2001 beschlossen.

Wenn die Anfechtungswerberin weiters vermeint, dass der Landesgesetzgeber die Grenzen der Personalisierung der Wahl überschritten hätte, da er mit der Regelung des § 78 Abs 3 LWO die Vermutung aufstelle, dass der Wähler jene wahlwerbende Parteiliste gewählt hätte, welcher der Bewerber angehört, dem der Wähler seine Vorzugsstimme gibt, und zwar selbst dann, wenn dieser ausdrücklich eine andere wahlwerbende Parteiliste gewählt hat, ist dem zu entgegnen, dass diese Argumentation nach Ansicht der NÖ Landeswahlbehörde nicht zutreffend ist, da im Umkehrschluss die Anfechtungswerberin selbst die Vermutung aufstellt, dass der Wähler entweder die Parteiliste der von ihm angekreuzten Partei 'bevorzugen' wollte oder gänzlich ungültig wählen wollte. Die Annahme einer solchen Vermutung ist aber aus der Sicht des Wählers wenig schlüssig, da der Wähler, hätte er bewusst ungültig wählen wollen, viel eindeutigere Möglichkeiten der Bekundung seines Wählerwillens zur Verfügung hat (leerer Stimmzettel, Durchstreichen, mehrere Parteien ankreuzen usw.).

[…] Zum von der Anfechtungswerberin […] angeführten Postulat der Reinheit der Wahlen wird festgestellt, dass It. ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes in diesem Postulat der wahre Wille der Wählerschaft zum Ausdruck kommen soll. Es ist aber so, dass die Beurteilung des 'wahren Willens des Wählers' lediglich nach der in der Wahlbehörde bei Auszählung vorhandenen Willensbezeugung in Form des Stimmzettels vorliegt und daher auch unter den engen Grenzen der Gültigkeits- und Ungültigkeitsbestimmungen der Wahlordnungen eine bestimmte Gewichtung bei vordergründig widersprechenden Bekundungen des Wählers vonnöten ist. Selbst die Nationalrats-Wahlordnung 1992 nimmt eine Gewichtung im § 79 Abs 5 NRWO vor (Parteistimme steht über einer Bewerberstimme einer anderen Partei).

[…]

Es widerspricht absolut nicht dem Wesensgehalt der Bundesverfassung, wenn der Landesgesetzgeber in der NÖ Landtagswahlordnung 1992 – durchaus abweichend von § 79 Abs 5 NRWO – festlegt, dass bei Nennung einer Partei und eines Bewerbers einer anderen als der bezeichneten Wahlpartei der Stimmzettel als gültige Stimme für die Wahlpartei des vom Wähler eingetragenen Bewerbers gilt. Ebenso wäre es dem Landesgesetzgeber nicht verwehrt gewesen, zu bestimmen, dass ein derartiger Stimmzettel als ungültig zu werten sei. Gleichgültig wie diese Frage gelöst wird, wird es stets Aspekte geben, die den Wählerwillen als verfälscht interpretiert erscheinen lassen. Es ist daher dem Landesgesetzgeber aus Sicht der NÖ Landeswahlbehörde unbenommen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Beurteilung von Stimmzetteln, welche divergierende Bezeichnungen einer Vorzugsstimme eines Bewerbers und Bezeichnung einer anderen wahlwerbenden Partei enthalten, festzulegen (dies selbstverständlich unter der Prämisse, dass eine zusätzliche Bezeichnung eines angekreuzten Bewerbers – Parteibezeichnung dieses Bewerbers – dazu führt, dass der Stimmzettel als gültig für den an[ge]kreuzten Bewerber und der ihn als Bewerber nominierenden wahlwerbenden Partei gilt)."

4. Die Anfechtungswerberin replizierte auf diese Gegenschrift und führte im Wesentlichen aus, dass nach dem Telos des Gesetzes primär auf die Partei abzustellen sei, wobei die Vorzugsstimme nur als zusätzlich personalisierendes Element hinzutreten solle. In diesen Grundsatz des Listenwahlrechts werde aber durch § 78 Abs 3 NÖ LWO massiv eingegriffen.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgeblichen – in Verfassungsrang stehenden – Be-stimmungen der NÖ LWO stellen sich wie folgt dar:

" 7. Abschnitt Amtlicher Stimmzettel des Wahlkreises

§77 Gültige Ausfüllung

Der amtliche Stimmzettel des Wahlkreises ist gültig ausgefüllt, wenn der Wählerwille aus ihm eindeutig zu erkennen ist. Dieser Wählerwille kann durch Abgabe jeweils einer Vorzugsstimme auf der Landesliste und/oder der Wahlkreisliste (§78 Abs 1) und/oder einer Parteistimme (§78 Abs 2) ausgedrückt werden.

§78 Abgabe von Vorzugsstimmen und Parteistimmen

(1) Eine Vorzugsstimme ist nur dann gültig abgegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden:

1. Der Wähler muss den Bewerber im hiefür vorgesehenen Kreis oder sonst wo auf dem amtlichen Stimmzettel eindeutig bezeichnen.

2. Der Wähler darf nur je einen Bewerber der Landesliste und/oder der Wahlkreisliste bezeichnen. Bezeichnet er auf einer der beiden Listen keinen oder mehrere Bewerber, ist die Vorzugsstimme der anderen Liste dennoch gültig.

3. Der Wähler muss grundsätzlich Bewerber, die auf der selben Parteiliste aufscheinen, bezeichnen. Werden aber Bewerber bezeichnet, die auf verschiedenen Parteilisten aufscheinen, so gilt die Vorzugsstimme nur für den/die Bewerber, dessen/deren Partei zusätzlich bezeichnet wurde.

(2) Eine Stimme ist für eine Partei dann gültig abgegeben, wenn eine der drei folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:

1. Der Wähler hat eine gültige Vorzugsstimme für Bewerber der selben Parteiliste abgegeben (Abs1).

2. Der Wähler hat zwar keine gültige Vorzugsstimme abgegeben, aber zwei oder mehrere Bewerber auf der Landesliste und/oder der Wahlkreisliste einer Parteiliste im hiefür vorgesehenen Kreis oder sonst wo auf dem amtlichen Stimmzettel eindeutig bezeichnet und zusätzlich keine Bezeichnung einer anderen Partei vorgenommen.

3. Der Wähler hat keinen Bewerber bezeichnet, aber in einem der unter jeder Parteibezeichnung vorgedruckten Kreis oder sonst wo auf dem amtlichen Stimmzettel eine Partei eindeutig bezeichnet.

(3) Wenn eine gültige Vorzugsstimme für Bewerber der selben Parteiliste (Abs2) abgegeben wurden, so gilt der Stimmzettel als gültige Stimme für diese Partei, selbst wenn eine andere Partei bezeichnet wurde.

[…]

§80 Ungültige Stimmzettel

(1) Der Stimmzettel ist ungültig, wenn

1. ein anderer als der amtliche Stimmzettel zur Abgabe der Stimme verwendet wurde, oder

2. der Stimmzettel durch Abreißen eines Teiles derart beeinträchtigt wurde, dass nicht eindeutig hervorgeht, welche Partei und/oder welchen Bewerber der Wähler wählen wollte, oder

3. überhaupt keine Partei oder kein Bewerber bezeichnet wurde, oder

4. ohne gültige Vorzugsstimme zwei oder mehrere Parteien bezeichnet wurden, oder

5. eine Liste bezeichnet wurde, die nur eine Listennummer, aber keine Parteibezeichnung enthält, oder

6. auch sonst der Wählerwille nicht eindeutig zu erkennen ist.

(2) Leere Wahlkuverts zählen als ungültige Stimmzettel.

(3) Worte, Bemerkungen oder Zeichen, die auf den amtlichen Stimmzetteln außer zur Kennzeichnung der wahlwerbenden Partei oder eines Bewerbers angebracht wurden, beeinträchtigen die Gültigkeit eines Stimmzettels nicht, wenn sich hiedurch nicht einer der vorangeführten Ungültigkeitsgründe ergibt. Im Wahlkuvert befindliche Beilagen aller Art beeinträchtigen die Gültigkeit des amtlichen Stimmzettels nicht."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit der Anfechtung

1.1. Gemäß Art 141 Abs 1 lita B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof u.a. über Anfechtungen von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern, so auch zum Landtag. Nach Art 141 Abs 1 Satz 2 B-VG kann eine solche Anfechtung auf die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens gegründet werden.

1.2. Nach § 67 Abs 2 VfGG sind zur Anfechtung der Wahl grundsätzlich jene Wählergruppen berechtigt, die der Wahlbehörde rechtzeitig Wahlvorschläge vorlegten.

1.3. Nach § 68 Abs 1 VfGG muss die Wahlanfechtung binnen vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfahrens, wenn aber in dem anzuwendenden Wahlgesetz ein Instanzenzug vorgesehen ist, binnen vier Wochen nach Zustellung des in letzter Instanz ergangenen Bescheides eingebracht werden.

1.4. Nun sieht zwar § 102 Abs 1 NÖ LWO administrative Einsprüche an die Landeswahlbehörde – iS eines Instanzenzugs nach § 68 Abs 1 VfGG – vor, doch nur gegen die ziffernmäßigen Ermittlungen einer Kreis- bzw. der Landeswahlbehörde. Zur Geltendmachung aller anderen (das sind sämtliche nicht ziffernmäßige Ermittlungen betreffende) Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens steht die unmittelbare Anfechtung der Wahl beim Verfassungsgerichtshof binnen vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfahrens (erster Teilsatz des § 68 Abs 1 VfGG) offen.

Vorliegend strebt die Anfechtungswerberin in ihrer Wahlanfechtungsschrift nicht die Nachprüfung ziffernmäßiger Ermittlungen einer Wahlbehörde an; sie rügt vielmehr sonstige Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens, wofür die sofortige Wahlanfechtung nach Art 141 Abs 1 lita B-VG eröffnet wird.

1.5. Maßgebender Zeitpunkt für den Beginn des Laufes der vierwöchigen Anfechtungsfrist ist die Beendigung des Wahlverfahrens, das ist im vorliegenden Fall die Kundmachung (Verlautbarung) des Wahlergebnisses durch Anschlag an der Amtstafel des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung.

Aus den vorgelegten Wahlakten ergibt sich, dass die Landeswahlbehörde das Wahlergebnis gemäß § 100 NÖ LWO am kundgemacht hat.

1.6. Die am zur Post gegebene Wahlanfechtung erweist sich daher als rechtzeitig.

1.7. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen zutreffen, ist die Wahlanfechtung zulässig.

2. In der Sache

2.1. Die Wahlanfechtung ist nicht begründet.

2.2. Vorauszuschicken ist, dass der Verfassungsgerichtshof ein Wahlverfahren nur in den Grenzen der von der Anfechtungswerberin – in der Anfechtungsschrift – behaupteten Rechtswidrigkeiten nachzuprüfen hat, es ihm darüber hinaus aber verwehrt ist, die Rechtmäßigkeit eines Wahlverfahrens – von Amts wegen – einer weiteren Überprüfung zu unterziehen (vgl. zB VfSlg 17.589/2005 und 19.245/2010).

2.3. Mit den in ihrer Anfechtung dargelegten Bedenken behauptet die Anfechtungswerberin der Sache nach die Verfassungswidrigkeit des § 78 Abs 3 NÖ LWO, wonach eine gültige Vorzugsstimme für Bewerber derselben Parteiliste als gültige Stimme für diese Partei gilt, selbst wenn eine andere Partei bezeichnet wurde. Die Anfechtungswerberin vermeint zum einen, dass diese Bestimmung dem wahlrechtlichen Homogenitätsprinzip widersprechen würde.

2.3.1. Der Verfassungsgerichtshof hat zu der in Niederösterreich vorherrschenden Gesetzeslage ("Vorzugsstimme schlägt Parteistimme") im Zusammenhang mit einer Anfechtung der Wahl zu einem niederösterreichischen Gemeinderat (VfSlg 14.265/1995) Folgendes ausgesprochen:

"Der Landesgesetzgeber verstößt nicht gegen Art 117 B-VG, wenn er Stimmzettel, auf denen eine oder mehrere Wahlparteien und die Namen eines oder mehrerer Bewerber einer dieser oder einer anderen Wahlpartei angekreuzt wurden, als gültig betrachtet und der Partei des oder der genannten Bewerber zurechnet, sofern alle bezeichneten Bewerber derselben Wahlpartei zuzuzählen sind. Die Entscheidung dieser Frage liegt innerhalb des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Landesgesetzgebers, sie ist bundesverfassungsgesetzlich (Art117 Abs 2 B-VG) nicht vorentschieden. Die Landeswahlbehörde weist in ihrer Gegenschrift zutreffend darauf hin, daß insbesondere auch von einer Verletzung des in Art 117 Abs 2 B-VG statuierten Unmittelbarkeitsprinzips […] keine Rede sein kann. Denn das Unmittelbarkeitsprinzip besagt, daß ein sogenanntes Wahlmännersystem unzulässig ist und die Wahlberechtigten – um den Wählerwillen verläßlich zum Ausdruck zu bringen – jene Personen, die sie wählen wollen, selbst bezeichnen müssen. Inwieweit die Bestimmungen der §§47 Abs 3 und 48 Abs 5 GWO dagegen verstoßen sollen, macht die anfechtende Wählergruppe nicht deutlich und ist auch sonst nicht zu ersehen."

2.3.2. Der Verfassungsgerichtshof sieht sich auch unter Berücksichtigung der Argumente der Anfechtungswerberin nicht veranlasst, von dieser – auf § 78 Abs 3 NÖ LWO übertragbaren – Judikatur abzuweichen:

Gemäß Art 95 Abs 2 B-VG dürfen die Landtagswahlordnungen die Bedingungen des Wahlrechtes nicht enger ziehen als die Bundesverfassung für Wahlen zum Nationalrat. Der Nationalrat wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (Art26 Abs 1 B-VG). Auf Grund der Art 95 und 117 B-VG gelten diese Grundsätze auch für die Wahlen zu den Landtagen und zu den Gemeinderäten. Damit wollte der Verfassungsgesetzgeber für alle Wahlen zu diesen allgemeinen Vertretungskörpern in Österreich ein in den Grundzügen einheitliches Wahlrecht schaffen (vgl. VfSlg 17.264/2004 mwH; "Homogenitätsprinzip" oder "Grundsatz der Einheitlichkeit der Wahlrechtsgrundsätze"). Das Homogenitätsprinzip bedeutet demnach, dass die Landtags- und Gemeinderatswahlordnungen zwar den in Art 26 Abs 1 B-VG enthaltenen Grundsätzen, nicht aber den für die Wahlen zum Nationalrat geltenden einfachgesetzlichen Bestimmungen entsprechen müssen.

Im Hinblick auf das im vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Verhältniswahlsystem hat der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkannt, dass für das Wesen dieses Verhältniswahlsystems iSd Art 26 Abs 1 B VG zwei Umstände charakteristisch sind: "1. dass Träger des Rechts auf verhältnismäßige Vertretung nicht das Individuum, sondern die politische Partei ist und 2. dass die Idee der Proportionalität darauf gerichtet ist, zwar womöglich allen politischen Parteien eine verhältnismäßige Vertretung zu gewähren, jedoch mit Ausschluss jener kleinen Gruppen, welche die Mindestzahl von Stimmen, die sogenannte Wahlzahl nicht erreichen, über die eine Partei verfügen muss, um wenigstens einen Abgeordneten zu erhalten" (vgl. VfSlg 3653/1959, 8700/1979). Ein Wahlsystem, das Wahlvorschläge und damit eine Beteiligung wahlwerbender Parteien – als Summe von kandidierenden Personen (Liste) – nicht kennt, ist sohin mit dem verfassungsgesetzlich gebotenen System der Verhältniswahl unvereinbar (vgl. VfSlg 9912/1984). Dem Verfassungsgerichtshof obliegt es, die vom einfachen Gesetzgeber vorgenommene Gestaltung des Wahlrechts dahin zu prüfen, ob es in seiner Gesamtheit – in seinen einzelnen Komponenten (Wahlkreiseinteilung, Zuweisung der Mandate an die Wahlkreise, Zuteilung der Mandate an die Parteien) – in einer Weise geregelt ist, dass dem Grundsatz der Verhältniswahl entsprochen ist, Parteien von zahlenmäßig erheblicher Bedeutung eine Vertretung im Parlament zu sichern (VfSlg 8700/1979).

Die Anfechtungswerberin vertritt nun die Ansicht, dass die Regelung des § 78 Abs 3 NÖ LWO die Grenzen der Personalisierung der Wahl überschreite und in die bestehenden Listen der Parteien eingegriffen werden könne, weil durch die Möglichkeit der Vergabe von Vorzugsstimmen die wahlwerbende Partei gewählt wird, welcher der Bewerber angehört, und dies selbst dann, wenn ausdrücklich eine andere wahlwerbende Partei gewählt wird.

2.3.3. Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden: Das System der Vorzugsstimmen stellt einen wesentlichen Aspekt der Personalisierung der Parteilisten dar. So hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass die Personalisierung den wahlwerbenden Parteien (VfSlg 10.178/1984) insbesondere ermöglichen soll, im Wege der Kandidatur von für die Wähler besonders attraktiven Bewerbern die Parteienpräferenz der Wähler zu beeinflussen; ein Effekt, der durch das Fehlen des "Stimmensplitting" und die Regelung, wonach eine Stimme für eine wahlwerbende Partei auch dann gültig ist, wenn zwar nicht diese, wohl aber mindestens ein Bewerber einer Parteiliste, bezeichnet ist, noch verstärkt wird (vgl. VfSlg 14.556/1996, Punkt 3.1.3.).

Durch die Regelung des § 78 Abs 3 NÖ LWO wird nicht in die Liste der wahlwerbenden Partei als Gesamtheit der kandidierenden Personen eingegriffen, sondern es wird eine Regelung getroffen, welcher wahlwerbenden Partei eine Stimme zuzuzählen ist, wenn eine Vorzugsstimme vergeben und gleichzeitig eine andere wahlwerbende Partei gewählt wird.

Die Bundesverfassung enthält keine ausdrücklichen Vorschriften über die Frage der Gültigkeit bzw. Zurechenbarkeit von Stimmzetteln insgesamt und der von Vorzugsstimmen im Speziellen. Auch bilden die in der Nationalrats-Wahlordnung 1992 enthaltenen Bestimmungen keinen abschließenden Maßstab für die Ausgestaltung des Verhältniswahlsystems durch die Landesgesetzgeber (vgl. Punkt 2.3.2.), sodass sie beispielsweise an kein bestimmtes Wahlsystem gebunden sind und ihnen auch die Regelung der Wahlkreise sowie der Wahlzahl überlassen bleibt (zB VfSlg 8852/1980). Die Entscheidung, wie die Frage der Gültigkeit eines Stimmzettels, auf dem sowohl eine Partei angekreuzt als auch ein Bewerber einer anderen Wahlpartei bezeichnet ist, geregelt wird, liegt ebenso innerhalb des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des jeweiligen Gesetzgebers, weshalb sich auch ein Vergleich mit den anderen Bundesländern und der Nationalrats-Wahlordnung 1992 erübrigt.

2.3.4. Wie die Frage der Gültigkeit von Vorzugsstimmen darüber hinaus – wie von der Anfechtungswerberin behauptet – das aktive und passive Wahlrecht einschränken kann (dieses besagt, dass alle Bürger, die ein gewisses Mindestalter erreicht und keinen Wahlausschließungsgrund verwirklicht haben, wählen bzw. gewählt werden können müssen), ist für den Verfassungsgerichtshof nicht ersichtlich.

2.4. Zum anderen behauptet die Anfechtungswerberin die Verletzung des Postulats der Reinheit der Wahlen und des wahren Wählerwillens.

Den Art 26, 95 und 117 Abs 2 B-VG liegt das Prinzip der "Reinheit", verstanden im Sinn von "Freiheit" der Wahlen (zum Nationalrat, zu den Landtagen und zu den Gemeinderäten) zugrunde. Art 3 des 1. ZPMRK verpflichtet ausdrücklich zur Abhaltung freier (und geheimer) Wahlen unter Bedingungen, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Organe gewährleisten. Die Wahlwerbung darf nicht sinnwidrig beschränkt und der Wähler in der Freiheit seiner Wahl nicht in rechtlicher oder faktischer Weise beeinträchtigt werden (vgl. VfSlg 17.418/2004 mwN).

Der Wähler wird durch § 78 Abs 3 NÖ LWO in rechtlicher oder faktischer Weise nicht in der Freiheit seiner Wahl beeinträchtigt: Um sowohl den Wählern als auch den Wahlbehörden möglichst klare Vorgaben dafür zu geben, wann eine "eindeutige" Wahlentscheidung vorliegt, haben alle Wahlordnungen Regelungen betreffend die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit von Stimmzetteln getroffen. Dabei kommt dem jeweiligen Gesetzgeber – wie bereits oben dargestellt – ein Gestaltungsspielraum zu, der dort seine Grenzen erfährt, wo die Bestimmung zu einer Umdeutung des Wählerwillens führen würde. Diese Grenze des Gestaltungsspielraumes ist nicht überschritten, wenn der Gesetzgeber – wie im vorliegenden Fall – einen Stimmzettel, auf dem sowohl eine Partei angekreuzt als auch ein Bewerber einer anderen Wahlpartei bezeichnet ist, als gültig für diese Partei wertet. Aus dem freien Wahlrecht ist – entgegen der Ansicht der Anfechtungswerberin – nicht abzuleiten, dass ein solcher Stimmzettel als ungültig zu werten ist.

2.5. Es bestehen daher keine Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 78 Abs 3 NÖ LWO. Die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens hat daher nicht stattgefunden.

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Der Wahlanfechtung ist daher nicht stattzugeben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

European Case Law Identifier

ECLI:AT:VFGH:2013:WI2.2013