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VfGH vom 02.03.1990, V34/89

VfGH vom 02.03.1990, V34/89

Sammlungsnummer

12290

Leitsatz

Feststellung der Gesetzwidrigkeit einer Verordnung, mit der eine Geschwindigkeitsbegrenzung verfügt wurde, mangels Erforderlichkeit; Pflicht der Behörde zur Überprüfung und Anpassung solcher Verordnungen

Spruch

Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom , Z X-L-35/1-1966, mit der "auf der ehemaligen Bundesstraße 16 im Bereich des Erholungszentrums der Laxenburg Betriebsges.m.b.H. eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h jeweils 100 m vor den Einfahrten" verfügt wurde, war gesetzwidrig.

Die Niederösterreichische Landesregierung ist zur Kundmachung dieses Ausspruchs im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B1188/88 eine Beschwerde gegen ein im Berufungswege bestätigtes Verwaltungsstraferkenntnis anhängig, mit dem die Beschwerdeführerin bestraft wurde, weil sie am als Lenkerin eines PKWs im Gemeindegebiet von Laxenburg auf der Landesstraße 154 gegenüber dem Erholungszentrum die aufgrund des zum damaligen Zeitpunkt dort angebrachten Vorschriftszeichens "Geschwindigkeitsbeschränkung" erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten habe.

2. Aus Anlaß dieser Beschwerde hat der Verfassungsgerichtshof beschlossen, die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom , mit der "auf der ehemaligen Bundesstraße 16 im Bereich des Erholungszentrums der Laxenburg Betriebsges.m.b.H. eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h jeweils 100 m vor den Einfahrten" verfügt wurde und wegen deren Übertretung die Beschwerdeführerin bestraft worden ist, von Amts wegen gemäß Art 139 Abs 1 B-VG auf ihre Gesetzmäßigkeit zu überprüfen.

Der Verfassungsgerichtshof hegte das Bedenken, daß die genannte Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom gesetzwidrig war, weil sie - jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Übertretung und der darauf gestützten Bestrafung der Beschwerdeführerin - nicht mehr im Sinne des § 43 Abs 1 litb StVO 1960 erforderlich gewesen sei.

3. Während die Niederösterreichische Landesregierung ausdrücklich beschloß, zum Gegenstand keine Äußerung zu erstatten, verteidigt die Bezirkshauptmannschaft Mödling die von ihr erlassene Verordnung vom . Sie führt aus, daß bei der Geschwindigkeitsbeschränkung gemäß der Verhandlungsschrift vom

"nur von der Frage der Zu- und Abfahrten für die bestehenden Parkplätze (also die ostseitig gelegenen) ausgegangen wurde. An dieser Situation hat sich im wesentlichen bis zum heutigen Tag nichts verändert. Die in dieser Verhandlungsschrift in Frage stehenden westseitigen Parkplätze wurden niemals errichtet..."

Nach Meinung der Bezirkshauptmannschaft Mödling kann somit davon ausgegangen werden, "daß sich am baulichen Zustand des in Frage stehenden Straßenzuges zwischen 1966 und 1986 keine zu berücksichtigende Änderung ergeben hat." Ferner verweist die Bezirkshauptmannschaft Mödling auf eine 1979/80 durchgeführte Verkehrszeichenüberprüfung gemäß § 96 Abs 2 StVO 1960, bei der die die Geschwindigkeitsbeschränkung betreffenden Verkehrszeichen im Beschilderungsplan des Gendarmeriepostens Laxenburg verzeichnet worden seien, ohne "durch den verkehrstechnischen Amtssachverständigen beanstandet" zu werden.

Im Februar 1987 sei mehrfach angeregt worden, die bestehende Geschwindigkeitsbeschränkung während der Wintermonate aufzuheben. Aufgrund dieser Anregungen sei nunmehr am eine Verkehrsverhandlung abgehalten worden, "bei der die dem Amt der NÖ. Landesregierung zur Verfügung stehenden Unfallsberichte zugrundegelegt wurden." Die verkehrstechnischen Amtssachverständigen seien zu den in der Verordnung vom festgelegten Maßnahmen gekommen, aufgrund derer die 50 km/h-Geschwindigkeitsbeschränkung durch eine

70 km/h-Geschwindigkeitsbeschränkung für die Zeit vom 1.4. bis 31.10. eines jeden Jahres ersetzt, im übrigen die Geschwindigkeitsbeschränkung jedoch überhaupt beseitigt worden sei. Zur Begründung dieser geänderten Verkehrssicherungseinrichtung führt die Bezirkshauptmannschaft Mödling an,

"daß ein Wechsel in den Personen der Amtssachverständigen eingetreten ist, woraus sich eine in Teilen divergierende Gutachtenserstellung ergeben kann. Bei der Begutachtung im Jahre 1966 war von einem Planungs- bzw. von einem Errichtungsstadium auszugehen. Die damaligen Maßnahmen wurden somit eher vorsichtig gefaßt, da Erfahrungswerte erst gesammelt werden mußten."

Außerdem sei erst ab etwa 1985/86 eine computermäßige und somit genaue Auswertung der Unfallsberichte erfolgt, auf die sich dann die Änderung der fraglichen Geschwindigkeitsbeschränkung laut der Verhandlungsschrift der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom gestützt habe.

4. Die Beschwerdeführerin im Anlaßbeschwerdeverfahren stimmt den vom Verfassungsgerichtshof in seinem Prüfungsbeschluß aufgeworfenen Bedenken gegen die Verordnung zu und versucht deren Gesetzwidrigkeit insbesondere damit zu begründen, daß die Behörde ihrer Verpflichtung zur regelmäßigen Verkehrszeichenüberprüfung gemäß § 96 Abs 2 StVO 1960 nicht hinreichend nachgekommen sei.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Es bestehen keine Zweifel an der Zulässigkeit des Verordnungsprüfungsverfahrens.

2. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom , Z X-L-35/1-1966, mit der "auf der ehemaligen Bundesstraße 16 im Bereich des Erholungszentrums der Laxenburg Betriebsges.m.b.H. eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h jeweils 100 m vor den Einfahrten" verfügt wurde, beruht auf § 43 Abs 1 litb StVO 1960 in der Fassung der Novelle zur StVO 1960 BGBl. 209/1969. Dieser Vorschrift zufolge können als dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen auch Geschwindigkeitsbeschränkungen von der Behörde durch Verordnung verfügt werden, "wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage ... oder Beschaffenheit der Straße oder die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes erfordert." Im Zuge der Errichtung des Erholungszentrums Laxenburg wurde die Geschwindigkeitsbeschränkung als "provisorische Sicherheitsmaßnahme" (so die Verhandlungsschrift der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom ) erlassen, um eine klaglose Ein- und Ausfahrt, sowie die Sicherheit der Besucher des Erholungszentrums zu gewährleisten. Ausdrücklich wurde von der Behörde die Absicht bekundet, "im Zusammenhang mit der Schaffung der Parkplätze auf der rechten Seite der ehem. BS 16 die Verkehrssituation einer neuerlichen Überprüfung zu unterziehen".

Wie das von der Bezirkshauptmannschaft Mödling vorgelegte verkehrstechnische Gutachten des Amtes der NÖ. Landesregierung vom zu Z B/4-S-62/168-1979, erweist, wurde bei dem am vorgenommenen Lokalaugenschein zur Verkehrszeichenüberprüfung in den Gemeindegebieten Achau, Biedermannsdorf und Laxenburg bezüglich der fallgegenständlichen Geschwindigkeitsbeschränkung keine Notwendigkeit einer abändernden oder ergänzenden Maßnahme erblickt, sondern mit der allgemeinen Feststellung das Auslangen gefunden, "daß die Verkehrszeichen und sonstigen Einrichtungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs im wesentlichen den gesetzlichen Bestimmungen und den verkehrstechnischen Notwendigkeiten entsprechen".

Aufgrund einer (durch Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom festgehaltenen) Anregung "von verschiedenen Seiten", "die derzeit bestehende Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h im Bereich des Erholungszentrums Laxenburg im Zuge der Münchendorferstraße zumindest in den Wintermonaten aufzuheben", wurde am von der Bezirkshauptmannschaft Mödling eine Verhandlung zwecks Überprüfung der Verkehrssituation verbunden mit einem Lokalaugenschein durchgeführt. Dabei wurde gutachtlich festgestellt:

"Aufgrund des nur sehr geringen Unfallgeschehens sowie der vorhandenen sehr guten Übersichtlichkeit erscheint es nicht notwendig, die dzt. Beschränkungen im vollen Umfang aufrecht zu erhalten. Während der Wintermonate zur Zeit des geringsten Verkehrsaufkommens können diese zur Gänze entfallen. Zu Zeiten des verstärkten Besucherstromes insbesonders zum Campingplatz, das ist vom 1.4. bis 31.10. wären folgende Verbote zu erlassen:


Tabelle in neuem Fenster öffnen
1.
........
2.
Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h ..."

Gestützt auf diese Feststellungen wurde durch Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom zur Z 10-D-8703/1 "in der Zeit vom 1. April bis 31. Oktober eines jeden Jahres" im hier in Betracht kommenden Bereich der Münchendorferstraße (LH 154) "das Überschreiten einer höchstzulässigen Geschwindigkeit von 70 km/h verboten" und wurden im übrigen "sämtliche mit dieser Verordnung in Widerspruch stehenden Verordnungen", sohin auch die vom Verfassungsgerichtshof in Prüfung gezogene Verordnung vom außer Kraft gesetzt.

3. Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner bereits in den Erkenntnissen VfSlg. 8212/1977 und 8329/1978 vertretenen Rechtsauffassung, wonach in Fällen, in denen das Gesetz dem Verordnungsgeber aufträgt, seine Entscheidung an sich ändernden Situationen zu orientieren, der Verordnungsgeber verhalten ist, nach Verordnungserlassung fallweise zu untersuchen, ob die Annahmen, von denen er bei Verordnungserlassung ausgegangen ist, noch zutreffen. Eine Verordnung wird sohin gesetzwidrig, wenn der Grund zu ihrer Erlassung inzwischen weggefallen ist. Für straßenpolizeiliche Verordnungen hat der Gerichtshof insbesondere in VfSlg. 9588/1982 dargetan, daß diese durch Änderung des Sachverhaltes gesetzwidrig werden können, mögen sie auch im Zeitpunkt ihrer Erlassung gesetzmäßig gewesen sein. Zwar muß die Anpassung einer Verordnung an den geänderten Sachverhalt nicht unverzüglich erfolgen. Vielmehr ist dem Verordnungsgeber hiefür eine gewisse Zeitspanne zuzubilligen. Die Verzögerung ist jedoch im allgemeinen nur solange tolerabel, bis der Verordnungsgeber von der Änderung des Sachverhaltes Kenntnis erlangte oder erlangen mußte, und es ihm sodann zumutbar ist, die Anpassung der Norm vorzunehmen.

4. Anders als die Beschwerdeführerin des Anlaßbeschwerdeverfahrens meint, begründet die Verletzung der durch § 96 Abs 2 StVO 1960 ausgesprochenen Verpflichtung der Behörde, alle zwei Jahre alle angebrachten Einrichtungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs auf ihre Erforderlichkeit zu überprüfen, für sich allein noch keine Gesetzwidrigkeit jener Verordnungen zur Regelung und Sicherung des Verkehrs, bei denen die Kontrolle nach § 96 Abs 2 StVO 1960 unterblieben ist. Vielmehr ist § 96 Abs 2 StVO 1960, wie der Verfassungsgerichtshof bereits in VfSlg. 9588/1982 feststellte, nur zu entnehmen,

"daß eine derartige Verordnung zwei Jahre hindurch (ab ihrer Erlassung oder ihrer letzten Überprüfung) vom Gesetz regelmäßig auch dann gedeckt ist, wenn die zum Zeitpunkt ihrer Erlassung gegebenen Voraussetzungen in der Folge wegfallen; es sei denn, daß der Behörde früher aufgrund besonderer Umstände bekannt war oder bekannt sein mußte, der der Verordnung zugrundeliegende Sachverhalt habe sich geändert;"

5. Mag sohin auch die fehlende regelmäßige Überprüfung der in Prüfung genommenen Geschwindigkeitsbeschränkung gemäß § 96 Abs 2 StVO 1960 für deren Gesetzmäßigkeit unbeachtlich sein, so ist die betreffende Verordnung dennoch gesetzwidrig, weil sie zumindest zum Zeitpunkt ihrer Übertretung durch die Beschwerdeführerin im Anlaßbeschwerdeverfahren, das war am , im Sinne des § 43 Abs 1 litb StVO 1960 von den dort aufgezählten Voraussetzungen her nicht mehr erforderlich war.

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die mangels besonderer Erwähnung im verkehrstechnischen Gutachten vom von der Behörde behauptete Gesetzmäßigkeit der Geschwindigkeitsbeschränkung zu diesem Zeitpunkt noch gegeben war. Ausgehend von der ausdrücklichen Bezeichnung der Geschwindigkeitsbeschränkung als eine von mehreren "provisorischen Sicherheitsmaßnahmen" (in der Verhandlungsschrift der Bezirkshauptmannschaft Mödling vom ) im Verein mit der Tatsache, daß dieses Provisorium innerhalb angemessener Zeit weder der notwendigen, sorgfältigen Überprüfung unterzogen, noch durch auf Dauer berechnete straßenpolizeiliche Maßnahmen abgelöst wurde, nimmt der Verfassungsgerichtshof an, daß die in der Verhandlungsschrift vom festgestellte Verkehrssituation einschließlich des in den Jahren zuvor beobachteten Unfallgeschehens lediglich eine

70 km/h-Geschwindigkeitsbeschränkung für die Zeit vom 1.4. bis 31.10. eines jeden Jahres im Sinne des § 43 Abs 1 litb StVO 1960 "erforderte". Gerade der Umstand, daß jedenfalls zwischen dem Zeitpunkt der Übertretung der Geschwindigkeitsbeschränkung durch die Beschwerdeführerin im Anlaßbeschwerdeverfahren und den gutachtlichen Feststellungen vom keinerlei Änderung der Verkehrs- oder Straßensituation eintrat, erweist, daß schon zu jenem Zeitpunkt, also am , die Voraussetzungen gemäß § 43 Abs 1 litb StVO 1960 für die Aufrechterhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung in unverändertem Umfang nicht (mehr) vorlagen.

Da hinsichtlich der sachverhaltsmäßigen Voraussetzungen für den Erlaß der Geschwindigkeitsbeschränkung zwischen dem und dem keine Änderung eingetreten ist, war die 50 km/h-Geschwindigkeitsbeschränkung zu jenem Zeitpunkt für "die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage ... der Beschaffenheit der Straße oder die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes" nicht erforderlich. Sie war sohin gesetzwidrig, wie der Verfassungsgerichtshof gemäß Art 139 Abs 4 B-VG auszusprechen hatte.

6. Die Verpflichtung der Niederösterreichischen Landesregierung zur Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit der in Prüfung gezogenen Verordnung stützt sich auf Art 139 Abs 5 B-VG.

Die Entscheidung konnte vom Verfassungsgerichtshof gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nicht öffentlicher Sitzung beschlossen werden.