VfGH vom 29.09.1988, G72/88
Sammlungsnummer
11829
Leitsatz
Art44 Abs 3 B-VG; Verpflichtung zur baugesetzkonformen Interpretation einer Verfassungsbestimmung; auch bloß partiell wirkende Maßnahmen können - gehäuft vorgenommen - im Effekt zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung führen; keine Bedenken gegen die Verfassungsbestimmung des letzten Satzes des § 103 Abs 2 KraftfahrG idF BGBl. 106/1986
KraftfahrG idF der 10. KraftfahrG-Nov., BGBl. 106/1986; "Lenkerauskunft"; verfassungsrechtliche Deckung des ersten bis dritten Satzes im § 103 Abs 2 sowie der Wendung "Abs2", im § 103a Abs 1 Z 3, welche Bestimmungen ebenso auf eine dem Anklageprinzip widersprechende Verpflichtung zur Selbstbeschuldigung hinauslaufen wie die mit Erk. VfSlg. 9950/1984 und 10394/1985 aufgehobenen Vorgängerbestimmungen, durch die Verfassungsbestimmung des letzten Satzes des § 103 Abs 2 - keine Verletzung des Art 90 Abs 2 B-VG bzw. des Art 6 MRK
Spruch
Der erste bis dritte Satz im § 103 Abs 2 sowie die Wendung "Abs2," im § 103a Abs 1 Z 3 des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl. Nr. 267, in der Fassung der 10. Kraftfahrgesetz-Nov., BGBl. Nr. 106/1986, werden nicht als verfassungswidrig aufgehoben.
Der VwGH wird mit seinen Anträgen zu G143/88, G 159/88 und G160/88 auf diese Entscheidung verwiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Beim VfGH sind (zu B774/87, B1135/87, B1219/87, B20/88, B252/88, B835/88, B860/88, B861/88, B889/88, B891/88, B982/88 und B1033/88) zwölf Verfahren über Beschwerden anhängig, die sich gegen je einen vom zuständigen Landeshauptmann im Instanzenzug erlassenen Bescheid richten, mit dem der jeweilige Bf. wegen des Nichterteilens einer Lenkerauskunft als Zulassungsbesitzer einer Übertretung nach § 103 Abs 2 des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl. 267, idF der 10. Kraftfahrgesetz-Nov., BGBl. 106/1986, schuldig erkannt und bestraft wurde. Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle hat der VfGH beschlossen, von Amts wegen Verfahren zur Prüfung des ersten bis dritten Satzes in dieser Gesetzesstelle auf ihre Verfassungsmäßigkeit einzuleiten.
2. Beim VwGH ist eine gleichgelagerte Beschwerdesache anhängig; die Beschwerde richtet sich gleichfalls gegen einen vom zuständigen Landeshauptmann im Instanzenzug erlassenen Bescheid, mit dem der Bf. des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wegen des Nichterteilens einer Lenkerauskunft als Zulassungsbesitzer eine Übertretung nach § 103 Abs 2 KFG 1967 (in der erwähnten Fassung) schuldig erkannt und bestraft wurde. Auf Grund dieses Beschwerdefalles stellt der VwGH (zu A31/88) den (hg. unter G122/88 protokollierten) Antrag, dieselben Gesetzesbestimmungen als verfassungswidrig aufzuheben.
3. Des weiteren sind beim VwGH fünf Verfahren über je eine Beschwerde gegen vom Landeshauptmann von Salzburg im Instanzenzug erlassene Bescheide anhängig, mit denen der Bf. des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wegen des Nichterteilens einer Lenkerauskunft als Mieter eines PKWs einer Übertretung nach § 103a Abs 1 Z 3 iVm § 103 Abs 2 des KFG 1967 (in der erwähnten Fassung) schuldig erkannt und bestraft wurde. Aus Anlaß dieser Beschwerdesachen stellt der VwGH (zu A32/88 bis A35/88 und zu A37/88) die (hg. unter G123/88 bis G126/88 und G136/88 eingetragenen) Anträge, sowohl den ersten bis dritten Satz im § 103 Abs 2 als auch die Wendung "Abs2," im § 103a Abs 1 Z 3 des KFG 1967 (gleichfalls in der Fassung BGBl. 106/1986) als verfassungswidrig aufzuheben.
4. Im Einleitungsbeschluß zu B774/87 (auf den in den übrigen Prüfungsbeschlüssen verwiesen wurde) legte der VfGH bezüglich der Prozeßvoraussetzungen sowie der verfassungsrechtlichen Bedenken folgendes dar:
"1. Der Gerichtshof nimmt vorläufig an, daß der meritorischen Erledigung der Beschwerde keine Prozeßhindernisse entgegenstehen sowie daß er bei der zu treffenden Entscheidung die bezogene, anscheinend eine sprachlich und sachlich nicht trennbare Einheit bildende Gesetzesvorschrift anzuwenden hätte, welche die materielle Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides bildet.
2.a) Hinsichtlich der Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit bezieht sich der VfGH zunächst auf sein Erkenntnis G7/80 (und Folgezahlen) vom (VfSlg. 9950/1984) und sein Erkenntnis G149/84 (und Folgezahlen) vom (VfSlg. 10394/1985), mit denen der zweite Halbsatz im zweiten Satz des § 103 Abs 2 des Kraftfahrgesetzes 1967 idF des BG BGBl. 615/1977 und sodann der restliche Teil dieses Satzes als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Der Gerichtshof nahm in beiden Fällen einen Verstoß der geprüften Gesetzesbestimmung gegen Art 90 Abs 2 B-VG, in der zweiten Gesetzesprüfungssache überdies einen solchen gegen das Gleichheitsgebot an. Im einzelnen weist der VfGH auf die Entscheidungsgründe der beiden Erkenntnisse hin. Hervorgehoben sei hier, daß der Gerichtshof im wesentlichen den Standpunkt einnahm, eine Gesetzesbestimmung stehe mit dem in seiner materiellen Bedeutung auch für das Verwaltungsstrafverfahren maßgeblichen Anklageprinzip (Art90 Abs 2 B-VG) dann nicht in Einklang, wenn sie den Beschuldigten unter Strafsanktion zwingt, ein Geständnis seines strafbaren Verhaltens abzulegen; die (durch § 103 Abs 2 KFG angeordnete) Mitteilung an die Behörde, ein Kraftfahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst gelenkt zu haben, beinhalte dann, wenn - wie im Regelfall - die Frage auf die Feststellung des einer verwaltungsbehördlich ahndbaren Tat Verdächtigen abziele, das Einbekenntnis, (der bisher unbekannte) Täter im Sinne des bestehenden Tatverdachts zu sein.
b) Durch die (mit in Kraft getretene)
10. KFG-Nov. erhielt § 103 Abs 2 KFG eine neue Fassung, welche im folgenden der früheren, mit den zitierten Erkenntnissen als verfassungswidrig befundenen gegenübergestellt wird:
Fassung BGBl. 615/1977 Fassung 10. KFG-Novelle (bzw.
BGBl. 362/1982)
(2) Der Zulassungsbesitzer darf (2) Die Behörde kann Auskünfte
das Lenken seines Kraftfahrzeuges darüber verlangen, wer zu
oder die Verwendung seines An- einem bestimmten Zeitpunkt ein
hängers nur Personen überlassen, nach dem Kennzeichen bestimmtes
die die erforderliche Lenker- Kraftfahrzeug gelenkt
berechtigung, bei Kraftfahr- oder einen nach dem Kennzeichen
zeugen für deren Lenken keine bestimmten Anhänger
Lenkerberechtigung vorgeschrie- verwendet hat bzw. zuletzt vor
ben ist, das erforderliche einem bestimmten Zeitpunkt an
Mindestalter besitzen. Er hat einem bestimmten Ort abge-
der Behörde auf Verlangen unver- stellt hat. Diese Auskünfte,
züglich, im Falle einer schrift- welche den Namen und die An-
lichen Aufforderung binnen zwei schrift der betreffenden
Wochen nach Zustellung, Auskunft Person enthalten müssen, hat
darüber zu erteilen, wem er je- der Zulassungsbesitzer - im
weils das Lenken seines Kraft- Falle von Probe- oder von
fahrzeuges oder die Verwendung Überstellungsfahrten der Be-
seines Anhängers überlassen hat, sitzer der Bewilligung - zu
und entsprechende Aufzeichnungen erteilen; kann er diese Aus-
führen, wenn er ohne diese die kunft nicht erteilen, so hat
verlangte Auskunft nicht er- er die Person zu benennen, die
teilen kann; dies gilt sinnge- die Auskunft erteilen kann, mäß,
mäß, wenn ein Zulassungsbe- diese trifft dann die Aus-
sitzer selbst das Kraftfahrzeug kunftspflicht; die Angaben des
gelenkt oder den Anhänger Auskunftspflichtigen ent-
verwendet hat. binden die Behörde nicht,
diese Angaben zu überprüfen,
wenn dies nach den Umständen
des Falles geboten erscheint.
Die Auskunft ist unverzüglich,
im Falle einer schriftlichen
Aufforderung binnen zwei
Wochen nach Zustellung zu
erteilen; wenn eine solche
Auskunft ohne entsprechende
Aufzeichnungen nicht gegeben
werden könnte, sind diese Aufzeichnungen zu führen. (Verfassungsbestimmung) Gegenüber
der Befugnis der Behörde, derartige Auskünfte zu verlangen,
treten Rechte auf Auskunftsverweigerung zurück.
Diese Gegenüberstellung zeigt, daß die Vorschriften dieselbe Zielrichtung haben und in den wesentlichen Belangen übereinstimmen, so insbesondere darin, daß sie den Zulassungsbesitzer verpflichten, auch seine eigene Person der Behörde als Fahrzeuglenker zu einem bestimmten Zeitpunkt bekanntzugeben. Da mithin die neue Fassung des Gesetzes diese Rechtspflicht des Zulassungsbesitzers ebenfalls vorsieht, ist sie wenn man sich auf die Betrachtung des ersten bis dritten Satzes im § 103 Abs 2 beschränkt, also die Verfassungsbestimmung im letzten Satz dieses Paragraphen vorläufig beiseite läßt - mit dem im materiellen Sinn verstandenen Anklageprinzip nicht vereinbar. Der VfGH neigt nun zur Meinung, daß die eben erwähnte Verfassungsbestimmung diesen Widerspruch nicht berührt und daher auch nicht beseitigt. Ein "Recht auf Auskunftsverweigerung" können nämlich - wie der Gerichtshof vorläufig annimmt - nur solche Rechtsvorschriften begründen, die eine Rechtspflicht zur Auskunftserteilung aufheben oder einschränken; sie setzen also den Bestand einer Rechtsvorschrift, die zur Auskunft verpflichtet, begrifflich voraus. (Z.B. setzt die Berechtigung, sich als Zeuge (zur Gänze oder teilweise) der Aussage zu entschlagen, die Verpflichtung zur Zeugenaussage überhaupt voraus.) So gesehen, erfaßt der letzte Satz im § 103 Abs 2 nF überhaupt nicht den Fall einer Selbstbeschuldigung hinsichtlich einer strafbaren Handlung (außerhalb einer förmlichen Zeugenaussage); die Weigerung, eine derartige Beschuldigung der eigenen Person vorzunehmen, kann nicht das Ergebnis der Entbindung von einer Rechtspflicht sein, weil eine derartige Rechtspflicht (wie etwa in § 202 StPO oder § 33 Abs 2 VStG 1950 festgehalten ist) keineswegs besteht.
c) Der VfGH übersieht nicht, daß der VwGH in seinem Erkenntnis vom , Z 86/02/0127, zur eben erörterten Frage folgendes ausgeführt hat:
'Dieser letzte Satz des § 103 Abs 2 KFG 1967 stellt ausdrücklich eine Verfassungsbestimmung dar und bezieht sich auf jedwedes Recht einer Auskunftsverweigerung und daher - entgegen der Auffassung des Bf. - auch auf ein solches des Beschuldigten nach § 33 Abs 2 VStG 1950. Dies entspricht auch dem Bericht des Verkehrsausschusses zur 10. Kraftfahrgesetz-Nov. (897 Blg. Nr. XVI, GP), in dem bei der Begründung, warum diese Bestimmung 'vorsorglich' in Verfassungsrang zu erheben wäre, auf die einzelnen 'Entschlagungsrechte', darunter auch jenes des § 33 Abs 2 VStG 1950, Bezug genommen wird.'
Im Rahmen einer vorläufigen Beurteilung der Verfassungsrechtslage ist der VfGH jedoch der Auffassung, daß die vom VwGH den Gesetzesmaterialien entnommene Absicht im maßgebenden Wortlaut der Verfassungsbestimmung nicht zum Ausdruck gekommen ist.
d) Der VfGH nimmt weiters vorläufig an, daß sich die Grundgedanken der unter 2/a dargelegten Position auch aus Art 6 MRK ableiten lassen; die in Prüfung genommenen Vorschriften widersprechen sohin anscheinend auch dieser Konventionsbestimmung."
5. Der VwGH schloß sich in seinen Anträgen den vom VfGH geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken inhaltlich zur Gänze an. Er hält aus den gleichen Gründen auch die von ihm angefochtene Wendung "Abs2," im § 103a Abs 1 Z 3 KFG 1967 für verfassungsrechtlich bedenklich, welche (im Zusammenhang wiedergegeben) folgendermaßen lautet:
"1. Bei der Vermietung eines Fahrzeuges ohne Beistellung eines Lenkers
...
3. hat der Mieter die im § 103 Abs 1 Z 1 hinsichtlich des Zustandes der Ladung und der zu erfüllenden Aufgaben, Z 2 und 3, Abs 2, 3, 4, 5a und 6 und § 104 Abs 3 angeführten Pflichten anstelle des Zulassungsbesitzers zu erfüllen."
6. Die Bundesregierung erstattete Äußerungen, in denen sie beantragt, die in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmungen nicht als verfassungswidrig aufzuheben. Im einzelnen führt sie folgendes aus:
"A. Es ist dem Verfasungsgerichtshof zuzustimmen, wenn er meint, daß die Fassungen des § 103 Abs 2 KFG vor und und nach der 10. Kraftfahrgesetz-Nov. dieselbe Zielrichtung haben und in den wesentlichen Belangen übereinstimmen, insbesondere darin, daß sie den Zulassungsbesitzer verpflichten, auch seine eigene Person der Behörde als Fahrzeuglenker zu einem bestimmten Zeitpunkt bekanntzugeben. Grundsätzlich scheinen somit auf erste Sicht auch die vom VfGH seinerseits in seinen Erkenntnissen G7/80 (und Folgezahlen) vom (VfSlg. 9950/1984) und G149/84 (und Folgezahlen) vom (VfSlg. 10394/1985) geäußerten Bedenken rein inhaltlich auch auf die in Prüfung genommenen Teile des § 103 Abs 2 KFG idF der 10. Kraftfahrgesetz-Nov. zuzutreffen.
Die Bundesregierung meint jedoch, daß die vom VfGH in seinem Unterbrechungsbeschluß vom , B774/87-9, angenommene Verfassungswidrigkeit der in Prüfung gezogenen Sätze des § 103 Abs 2 KFG aus den nachstehend angeführten Gründen nicht zutrifft.
B.1. Der VfGH nimmt vorläufig an, daß nur solche Rechtsvorschriften ein 'Recht auf Auskunftsverweigerung' begründen können, die eine Rechtspflicht zur Auskunftserteilung aufheben oder einschränken. Solche Vorschriften setzen somit - nach Auffassung des VfGH - den Bestand einer Rechtsvorschrift, die zur Auskunft verpflichtet, begrifflich voraus. Er meint weiters, so gesehen erfasse der letzte Satz im § 103 Abs 2 neuer Fassung überhaupt nicht den Fall einer Selbstbeschuldigung hinsichtlich einer strafbaren Handlung (außerhalb einer förmlichen Zeugenaussage); die Weigerung eine derartige Beschuldigung der eigenen Person vorzunehmen, könne nicht das Ergebnis der Entbindung von einer Rechtspflicht sein, weil eine derartige Rechtspflicht (wie in § 202 StPO oder § 33 Abs 2 VStG 1950 festgehalten sei) keineswegs bestehe.
Hiezu ist folgendes zu bemerken:
Die vom VfGH - nach Auffassung der Bundesregierung zu Recht - geforderte Rechtspflicht zur Auskunftserteilung ergibt sich aus den ersten drei Sätzen des § 103 Abs 2 KFG. Fraglich kann daher nur sein, ob diese Regelung mit dem nach Auffassung des VfGH aus dem Art 90 Abs 2 B-VG abzuleitenden materiellen Anklagegrundsatz vereinbar ist, der - zufolge der Auffassung des VfGH insbesondere ein Verbot gesetzlicher Regelungen enthält, die auf eine Selbstbeschuldigung abzielen. Nach Meinung der Bundesregierung ist im Hinblick auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen den ersten drei Sätzen des § 103 Abs 2 KFG und dem letzten Satz dieser Regelung eine verfassungsgesetzliche Ausnahme auch von dem erwähnten verfassungsgesetzlichen Grundsatz statuiert.
B.2. In die gleiche Richtung weisen nach Auffassung der Bundesregierung auch teleologische Erwägungen: In seinem Unterbrechungsbeschluß vom , B774/87-9 (Pkt II/1), hat der VfGH zu Recht hervorgehoben, daß die in Prüfung gezogenen Sätze eine untrennbare Einheit darstellen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß auch der letzte (im Verfassungsrang stehende) Satz dieses Absatzes, der sich seinem Inhalt nach sogar ausdrücklich auf die beiden vorangegangenen Absätze bezieht, in einem untrennbaren systematisch-teleologischen Zusammenhang mit den vorangegangenen beiden Sätzen steht.
Angesichts dieser inhaltlichen Bezugnahme durch den Verfassungsgesetzgeber stellt sich nachhaltig die Frage, weshalb diese Regelung im Verfassungsrang erlassen wurde. Geht man davon aus, daß der VfGH die seinerzeitige Anordnung einer Auskunftspflicht gemäß § 103 Abs 2 KFG als verfassungswidrig aufgehoben hat, so war es offenbar die Absicht des Verfassungsgesetzgebers, eine umfassende Auskunftspflicht auch für jene Fälle sicherzustellen, in denen diese ansonsten im Lichte der beiden aufhebenden Erkenntnisse des VfGH (Slg. 9950/1984 und 10394/1985) verfassungswidrig wäre. Ausgehend von dem weiten Wortsinn des dritten Satzes im § 103 Abs 2 KFG ist nicht anzunehmen, daß der Verfassungsgesetzgeber Rechte auf Auskunftsverweigerung nur in jenen Fällen zurücktreten lassen wollte, in denen ohnedies keine Auskunftspflicht bestünde. Vielmehr sollen schon nach der Textierung dieser Verfassungsbestimmung offenbar für alle in den vorangehenden Sätzen erwähnten Auskünfte Befugnisse der Behörde und Pflichten der Rechtsunterworfenen zur Auskunftserteilung bestehen. Eine Auslegung, die diesen engen systematisch-teleologischen Zusammenhang außer acht ließe, würde die diesbezügliche Verfassungsbestimmung weitgehend ihres Sinngehaltes berauben. Dem Verfassungsgesetzgeber kann aber nicht unterstellt werden, daß er eine weitgehend sinnlose Regelung treffen wollte.
C.1. Zum besseren Verständnis der prüfungsgegenständlichen Regelung sei auch auf deren historische Vorgeschichte hingewiesen.
Bereits mit V RGBl. Nr. 156/1905 wurde bestimmt, daß die Kraftfahrzeuge 'mit den von der Behörde bestimmten Erkennungszeichen versehen sein' (§26) müssen. Hiebei hat die Rechtsordnung seit über 80 Jahren den Weg gewählt, dem Fahrzeug ein individuelles Kennzeichen (Nummer) zuzuweisen, auf Grund dessen der Zulassungsbesitzer ermittelt werden kann, welcher erforderlichenfalls den Lenker zu benennen hat. Somit war es seit Anbeginn eine wesentliche Funktion von Kraftfahrzeugkennzeichen, auf dem Umweg über die Feststellung des Zulassungsbesitzers den Lenker zu ermitteln. Der Umstand, daß nicht auch die Identität des Lenkers selbst bereits auf der Fahrzeugaußenseite sichtbar auszuweisen ist, erklärt sich nur daraus, daß eine derartige Vorgangsweise nicht praktikabel erschiene.
Auch eine historische Betrachtungsweise spricht somit dafür, die Verfassungsbestimmung des § 103 Abs 2 letzter Satz KFG im Sinne einer auch das strafrechtliche Vorfeld erfassenden Auskunftspflicht des Zulassungsbesitzers zu verstehen.
C.2. Der einfache Gesetzgeber war in jüngster Zeit bemüht, der Schwierigkeit einer Ausforschung von Tätern im anonymen Massen-Straßenverkehr, insbesondere durch Einführung der Anonymverfügung (§49a VStG i.d.F. der Verwaltungsstrafgesetz-Nov. 1987, BGBl. Nr. 516), Rechnung zu tragen. Dennoch verbleiben für den Fall der Nichtbezahlung eines mit Anonymverfügung vorgeschriebenen Strafbetrages oder bei vom Tatbestand der Anonymverfügung nicht erfaßten schweren Straftaten so gut wie keine Möglichkeiten zur Ausforschung des Täters bei Tatbegehung im anonymen Massenverkehr. Der Gesetzgeber hat sich daher im allgemeinen Interesse an der Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit dazu entschlossen, zumindest den letzten Satz des § 103 Abs 2 KFG 1967 im Verfassungsrang zu beschließen. Im Bewußtsein der rechtspolitischen Problematik dieser Maßnahme hat der Gesetzgeber dabei getrachtet, die Verfassungsnorm auf das unumgänglich Notwendige zu beschränken. Darauf zielen auch die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien, wie sie auf den Seiten 5 und 6 des Unterbrechungsbeschlusses des VfGH zitiert werden. Auch wenn zweifellos die Gesetzesmaterialien für sich allein betrachtet nicht hinreichen würden, die von der Bundesregierung vertretene Auslegung des § 103 Abs 2 KFG, insbesondere auch der in Prüfung gezogenen Sätze, zu erweisen, so ist doch folgendes hervorzuheben: Wie dargelegt, erscheint auf Grund des Normtextes die von der Bundesregierung vertretene Auslegung keineswegs als ausgeschlossen. Wenn darüberhinaus historische und historisch-teleologische Indizien gleichfalls in die Richtung der von der Bundesregierung vertretenen Auffassung deuten, so vermag dies diese Auslegung durchaus zu stützen. Insofern kommt aber auch den Gesetzesmaterialien - ebenso wie dem historischen Zusammenhang eine maßgebliche Bedeutung bei der inhaltlichen Beurteilung der in Prüfung gezogenen Gesetzesbestimmung zu."
7. Der beteiligte Landeshauptmann von Salzburg erstattete ebenfalls eine Äußerung, in welcher er den verfassungsrechtlichen Bedenken folgendermaßen entgegentritt:
"Wie sich aus dem Wortlaut des ersten Satzes des § 103 Abs 2 KFG in der Fassung der 10. Kraftfahrgesetz-Nov. unmißverständlich ergibt, bezieht sich das behördliche Auskunftsverlangen, welches der Zulassungsbesitzer bei sonstiger Strafbarkeit zu beantworten hat, ausschließlich darauf, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt ein nach dem Kennzeichen bestimmtes Kraftfahrzeug gelenkt oder einen nach dem Kennzeichen bestimmten Anhänger verwendet hat bzw. zuletzt vor einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort abgestellt hat. Selbst wenn nun der Zulassungsbesitzer diese Anfrage dahingehend beantwortet, daß er selbst zum fraglichen Zeitpunkt sein Kraftfahrzeug gelenkt bzw. abgestellt hat, so hindert ihn dies nicht, in einem allfälligen Verwaltungsstrafverfahren den der Lenkeranfrage zugrundeliegenden Tatvorwurf zu bestreiten. Dies wird besonders bei einer Kennzeichenanzeige wegen einer mittels Radarmessung festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung deutlich, wo der Zulassungsbesitzer in Entsprechung eines auf § 103 Abs 2 KFG gestützten behördlichen Auskunftsverlangens seine Lenkereigenschaft zum Tatzeitpunkt zugibt, im übrigen aber die Geschwindigkeitsüberschreitung mit der Behauptung einer vorliegenden Fehlmessung bestreitet. Die Verwaltungsstrafbehörde ist in einem solchen Fall keineswegs davon befreit, die Rechtfertigung des Beschuldigten zu überprüfen und entsprechende Ermittlungen zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes anzustellen. In anderen Fällen, in welchen der Zulassungsbesitzer zwar seine Lenkereigenschaft zum Tatzeitpunkt zugibt, im übrigen aber den Tatvorwurf bestreitet, wird es sich in der Regel als unumgänglich erweisen, etwa den Privatanzeiger oder den Meldungsleger bzw. unter Umständen auch andere Personen zeugenschaftlich zum Tatvorwurf zu vernehmen. Nach Ansicht der hiesigen Behörde zeigen diese Ausführungen, daß es unzutreffend ist, daß die dem Zulassungsbesitzer unter Strafsanktion aufgetragene Mitteilung an die Behörde, ein Kraftfahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt selbst gelenkt zu haben, das Einbekenntnis beinhaltet, der Täter im Sinne des bestehenden Tatverdachtes zu sein, wenn das behördliche Auskunftsverlangen auf die Feststellung des einer verwaltungsbehördlich ahndbaren Tat Verdächtigen abzielt. Weiters ist festzuhalten, daß es nicht Voraussetzung eines auf § 103 Abs 2 KFG gestützten behördlichen Auskunftsverlangens ist, daß zu dem bestimmten Zeitpunkt mit dem bestimmten Kraftfahrzeug eine Verwaltungsübertretung oder sonstige strafbare Handlung begangen wurde und im übrigen die Behörde eine solche Auskunft auch dann verlangen kann, wenn eine Bestrafung wegen des Anlaßdeliktes etwa aus dem Grunde der eingetretenen Verjährung nicht mehr erfolgen kann. Weiters könnte die Behörde die ihr im § 103 Abs 2 KFG eingeräumte Befugnis dazu benützen, einen Zeugen zu suchen, wenn lediglich feststeht, daß der unbekannte Lenker eines dem Kennzeichen nach bestimmten Kraftfahrzeuges zu einem bestimmten Zeitpunkt für ein allfälliges Strafverfahren relevante Beobachtungen gemacht haben könnte.
Schließlich handelt es sich bei der vom VfGH in Prüfung gezogenen Rechtsvorschrift des § 103 Abs 2 KFG um ein unentbehrliches Instrument zur Kontrolle und Überwachung des fließenden Verkehrs bzw. zur Überwachung der Einhaltung der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung und des Kraftfahrgesetzes. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß zahlreiche Vorschriften der Straßenverkehrsordnung und des Kraftfahrgesetzes letztendlich ebenfalls dem Schutz von Rechtsgütern bzw. Rechten dienen, welche durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger bzw. durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert sind."
II. Die Prozeßvoraussetzungen der - zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen - Prüfungsverfahren liegen vor.
Es haben sich insbesondere keine Anhaltspunkte ergeben, welche gegen die Annahme sprechen, daß die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in den jeweils bei ihnen anhängigen Beschwerdeverfahren die in Prüfung gezogenen Gesetzesvorschriften anzuwenden hätten; dies gilt aus der Sicht der Prüfungsfälle G123/88 bis G126/88 und G136/88 (s. oben I/3) auch für die in § 103a Abs 1 Z 3 KFG enthaltene Wendung "Abs2,".
III. Die verfassungsrechtlichen Bedenken erweisen sich jedoch als nicht begründet:
1. Der VfGH hält an der im Prüfungsbeschluß (- das Vorliegen mehrerer Einleitungsbeschlüsse wird der Einfachheit wegen vernachlässigt; die hinsichtlich der Bedenken inhaltlich entsprechenden Antragsausführungen des VwGH sind mitgemeint -) dargelegten Ansicht fest, daß die in Prüfung genommenen Vorschriften (sowohl des § 103 Abs 2 als auch des § 103a) dieselbe Zielrichtung haben wie jene, die mit den Erkenntnissen VfSlg. 9950/1984 und 10394/1985 als verfassungswidrig aufgehoben wurden, und mit ihnen auch in den wesentlichen Belangen übereinstimmen. Daraus folgt im Hinblick auf die eben erwähnte einschlägige Vorjudikatur, daß die in Prüfung stehenden Gesetzesstellen - isoliert betrachtet - mit den in seiner materiellen Bedeutung auch für das Verwaltungsstrafverfahren geltenden Anklageprinzip des Art 90 Abs 2 B-VG ebenfalls nicht im Einklang stehen. Der Gerichtshof findet keinen Anlaß, von seiner zitierten, auch hier maßgebenden Rechtsprechung abzugehen, welche weder durch die von der Bundesregierung dargestellte "historische Vorgeschichte" der geprüften Regelung noch durch die Ausführungen des Landeshauptmannes von Salzburg sowie das Vorbringen der Vertreterin des Landeshauptmannes von Wien in der mündlichen Verhandlung der Sache nach in Frage gestellt ist. Auf die "historische Vorgeschichte" der geprüften Regelung kommt es nämlich nicht an, vielmehr ausschließlich auf den gegebenen normativen Inhalt der auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu beurteilenden Gesetzesbestimmungen. Die namens der Landeshauptmänner erhobenen Einwendungen enthalten aber insgesamt bloß eine Wiederholung von Argumenten, die schon in den beiden abgeschlossenen Gesetzesprüfungsverfahren vorgebracht und dort widerlegt wurden.
Unter diesen Prämissen hängt das Schicksal der in Prüfung stehenden Vorschriften davon ab, welche Bedeutung dem als Verfassungsbestimmung erlassenen letzten Satz im § 103 Abs 2 KFG idF der 10. Nov., BGBl. 106/1986, zukommt.
2. Der als Verfassungsbestimmung erlassene letzte Satz des § 103 Abs 2 KFG idF der 10. Nov. enthält nicht - wie es der Wortlaut dieser Bestimmung zunächst vermuten lassen würde - bloß eine an die Vollziehung gerichtete Norm. Er ist vielmehr - wie sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung und aus ihrer Stellung im Zusammenhang mit den in Prüfung gezogenen Sätzen des § 103 Abs 2 KFG idF BGBl. 106/1986 erweist (vgl. die Hinweise der Bundesregierung in ihrer Äußerung) - eine an den (einfachen) Gesetzgeber gerichtete Ermächtigung, eine Regelung vorzusehen, die der Behörde die Befugnis überträgt, Auskünfte der Art zu verlangen, wie sie in den ersten drei Sätzen des § 103 Abs 2 KFG idF BGBl. 106/1986 vorgesehen sind.
Mit dieser Ermächtigung wollte der Verfassungsgesetzgeber die Realisierung eines bestimmten rechtspolitischen Anliegens ermöglichen, von dem er - ob zu Recht oder zu Unrecht, hat der VfGH nicht zu beurteilen - annahm, daß ihm nicht anders als durch das Institut der sog. Lenkerauskunft entsprochen werden könne. Der Verfassungsgesetzgeber hat mit dieser Ermächtigung auch die Durchbrechung des aus dem Anklageprinzip des Art 90 Abs 2 B-VG auch für Verwaltungsstrafverfahren - erfließenden Grundsatzes in Kauf genommen, daß niemand unter Strafsanktion gezwungen werden darf, ein Geständnis seines strafbaren Verhaltens abzulegen (VfSlg. 9950/1984, 10394/1985). Auf eine Verpflichtung zur Selbstbeschuldigung laufen nämlich - wie schon dargetan wurde - die in Prüfung gezogenen Bestimmungen ebenso hinaus wie die durch die zitierten Erkenntnisse aufgehobenen Vorgängerbestimmungen des § 103 Abs 2 KFG idF BGBl. 106/1986; daß die in Prüfung stehende gesetzliche Regelung mit diesen in Zielrichtung und allen wesentlichen Bestimmungen übereinstimmt, wurde von allen Parteien dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens anerkannt.
3. Der VfGH bleibt bei seinem in der bisherigen Judikatur (zuletzt ua) eingenommenen Standpunkt, daß - angesichts der Verpflichtung zur baugesetzkonformen Interpretation (vgl. etwa VfSlg. 11403/1987) - einer Verfassungsbestimmung im Zweifel kein Inhalt beizumessen ist, der sie in Widerspruch zu den leitenden Grundsätzen des Bundesverfassungsrechts (Art44 Abs 3 B-VG) stellen würde. Zu einem solchen Widerspruch könnten Eingriffe in die Grundprinzipien der Bundesverfassung, wie etwa eine Einschränkung der Gesetzesprüfungskompetenz des VfGH oder eine Durchbrechung der Grundrechtsordnung, nicht nur führen, wenn schwerwiegende und umfassende Eingriffe in die Grundprinzipien vorgenommen werden; vielmehr können auch bloß partiell wirkende Maßnahmen - gehäuft vorgenommen - im Effekt zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung führen (vgl. ua).
Der VfGH sieht sich aber im vorliegenden Fall angesichts der - der Sache und des Anwendungsbereichs der in Rede stehenden Verfassungsbestimmung nach - eng begrenzten Ermächtigung des letzten Satzes des § 103 Abs 2 KFG idF BGBl. 106/1986 und angesichts der Tatsache, daß die Erlassung dieser Verfassungsbestimmung noch keineswegs zu einer (baugesetzwidrigen) Häufung von die leitenden Grundsätze des Bundesverfassungsrechts berührenden Maßnahmen führt, nicht veranlaßt, den durch die Entstehungsgeschichte und die Bedachtnahme auf die Notwendigkeit einer systematischen und teleologischen Interpretation der 10. KFG-Nov., BGBl. 106/1986, naheliegenden, unter III/1 dargelegten Inhalt dieser Bestimmung im Hinblick auf das Erfordernis einer baugesetzkonformen Auslegung von Verfassungsnormen in Zweifel zu ziehen.
4. Aus dem Gesagten folgt, daß die in Prüfung stehende Regelung durch die Verfassungsbestimmung des letzten Satzes des § 103 Abs 2 KFG idF BGBl. 106/1986 verfassungsrechtlich gedeckt ist, weshalb sie weder Art 90 Abs 2 B-VG noch Art 6 MRK - den der VfGH (bloß) in seiner innerstaatlichen Maßstabfunktion anzuwenden hat - verletzt. Sie ist daher nicht als verfassungswidrig aufzuheben.
IV. Beim VwGH sind überdies drei Beschwerdeverfahren anhängig, welche der unter I/2 beschriebenen Beschwerdesache entsprechen. Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle stellt der VwGH (zu A52/88 und A51/88) die (hg. unter G159/88 und G160/88 protokollierten) Anträge, den ersten bis dritten Satz im § 103 Abs 2 des Kraftfahrgesetzes 1967 idF der 10. Nov., sowie (zu A40/88) den (hg. unter G143/88 eingetragenen) Antrag, jeweils den ersten Halbsatz des zweiten und dritten Satzes im erwähnten Absatz als verfassungswidrig aufzuheben.
Hinsichtlich dieser Anträge, welche nicht in das Gesetzesprüfungsverfahren einbezogen wurden, ist der VwGH auf die getroffene Sachentscheidung zu verweisen.