VfGH vom 10.06.2003, g62/03

VfGH vom 10.06.2003, g62/03

Sammlungsnummer

16872

Leitsatz

Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Regelung der Ambulanzgebühr in der Fassung des Sozialversicherungs-Währungsumstellungs-Begleitgesetzes (Ersatz der Schilling- durch Euro-Beträge) wegen Verstoßes gegen das Gebot der vollständigen Publikation von Gesetzesbeschlüssen im Bundesgesetzblatt

Spruch

§ 135a des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, in der Fassung des Art 1 Z 2 des Bundesgesetzes, mit dem das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz, das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz, das Bauern-Sozialversicherungsgesetz und das Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz geändert werden, BGBl. I Nr. 35/2001, sowie des Art 1 Z 52 und Z 53 des Bundesgesetzes, mit dem das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz, das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz, das Bundesgesetz über die Sozialversicherung freiberuflich selbständig Erwerbstätiger, das Bauern-Sozialversicherungsgesetz, das Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz, das Notarversicherungsgesetz 1972 und das Sozialversicherungs-Ergänzungsgesetz geändert werden (Sozialversicherungs-Währungsumstellungs-Begleitgesetz - SV-WUBG), BGBl. I Nr. 67/2001, war verfassungswidrig.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu B1439/02 und B1444/02 Beschwerden gegen Bescheide des Landeshauptmannes von Wien anhängig, mit denen den Beschwerdeführern für die Inanspruchnahme einer ambulanten Behandlung im AKH bzw. im Krankenhaus Lainz der Stadt Wien im zweiten Quartal 2002 ein Behandlungsbeitrag-Ambulanz gemäß § 135a ASVG vorgeschrieben worden ist.

2. Bei Behandlung dieser Beschwerden sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 135a des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955, idF des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 35/2001 sowie des Sozialversicherungs-Währungsumstellungs-Begleitgesetzes (SV-WUBG), BGBl. I Nr. 67/2001, entstanden, weshalb er am beschlossen hat, hiezu von Amts wegen ein Gesetzesprüfungsverfahren einzuleiten.

In diesem Beschluß äußerte der Verfassungsgerichtshof - unter Hinweis auf sein Erkenntnis vom , G218-221/02, G364-367/02, mit dem § 135a ASVG idF des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 35/2001 als verfassungswidrig erkannt worden ist - das Bedenken, daß § 135a ASVG auch in seiner nunmehr in Prüfung genommenen, am in Kraft getretenen Fassung mangels Übereinstimmung des kundgemachten Textes mit der vom Nationalrat am beschlossenen Fassung des § 135a ASVG mit einem Kundmachungsmangel behaftet und deshalb verfassungswidrig sei.

3. Die Bundesregierung hat mit Schreiben vom mitgeteilt, keine Äußerung zum Gegenstand zu erstatten. Die beiden Anlaßverfahren als beteiligte Partei beigezogene Wiener Gebietskrankenkasse hat eine schriftliche Stellungnahme zu den beiden Anlaßverfahren erstattet.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

1. Es hat sich nichts ergeben, was an der Zulässigkeit des von Amts wegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens zweifeln ließe.

Der Verfassungsgerichtshof bleibt dabei, daß die Änderungen des § 135a ASVG durch das SV-WUBG als Neuerlassung des § 135a ASVG anzusehen sind, der damit - idF des SV-WUBG - auch in seinen gegenüber dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 35/2001 unverändert gebliebenen Teilen Gegenstand eines eigenen Gesetzesprüfungsverfahrens sein kann (ebenso ua. Zlen., gegenüber ua. Zlen. - beide zu § 15 KommStG idF nach bzw. vor Inkrafttreten des Abgabenänderungsgesetzes 2001, mit dem die in dieser Bestimmung enthaltenen Schilling- durch Euro-Beträge ersetzt worden sind).

2. § 135a ASVG idF der Bundesgesetze BGBl. I Nr. 35/2001 sowie BGBl. I Nr. 67/2001 lautete wie folgt:

"Behandlungsbeitrag - Ambulanz

§135a. (1) Für jede Inanspruchnahme einer ambulanten Behandlung nach diesem Abschnitt

1. in Krankenanstalten, die über Land[e]sfonds finanziert werden,

2. in bettenführenden Vertragskrankenanstalten,

3. in bettenführenden eigenen Einrichtungen der Versicherungsträger (mit Ausnahme der Sonderkrankenanstalten für Rehabilitation), soweit es sich nicht um eine Rehabilitationsmaßnahme oder Jugendlichen- oder Vorsorge-(Gesunden-)Untersuchung handelt,

ist pro Ambulanzbesuch ein Behandlungsbeitrag zu zahlen. Liegt ein entsprechender Überweisungsschein vor, so beträgt der Behandlungsbeitrag 10,90 Euro, sonst 18,17 Euro. Der Behandlungsbeitrag darf pro Versicherten (Angehörigen) 72,67 Euro im Kalenderjahr nicht übersteigen. Der Behandlungsbeitrag ist jeweils für ein Quartal im Nachhinein, erstmalig spätestens am , einzuheben.

(2) Der Behandlungsbeitrag darf nicht eingehoben werden

1. für Kinder nach § 123 Abs 2 Z 2 bis 6 und Abs 4 sowie Kinder nach § 260 ohne anderes Einkommen,

2. wenn in medizinischen Notfällen, wegen Lebensgefahr oder aus anderen Gründen unmittelbar eine stationäre Aufnahme erfolgt,

3. in Fällen, in denen ein Auftrag eines Sozialversicherungsträgers oder eines Gerichts im Zusammenhang mit einem Verfahren über Leistungssachen zur Einweisung in eine Ambulanz zwecks Befundung und Begutachtung (§22 Abs 3 zweiter Halbsatz KAG in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 5/2001) vorliegt,

4. für Personen, die auf Grund der Richtlinien nach § 31 Abs 5 Z 16 von der Rezeptgebühr befreit sind,

5. für Personen, die Leistungen infolge einer Schwangerschaft im Rahmen des Mutter-Kind-Passes oder Leistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft in Anspruch nehmen,

6. für Personen, die Teile des Körpers nach § 120 Abs 2 oder Blut(plasma) spenden,

7. bei Behandlung für Dialyse oder bei Strahlen- oder Chemotherapie in Ambulanzen,

8. wenn der (die) Versicherte (Angehörige) im Zusammenhang mit ein und demselben Behandlungsfall an Ambulanzen anderer Fachrichtungen weiterüberwiesen wird.

Dies gilt nicht, wenn der Ambulanzbesuch durch schuldhafte Beteiligung an einem Raufhandel bedingt ist oder sich als unmittelbare Folge von Trunkenheit oder Missbrauch von Suchtgiften erweist.

(3) Die Einhebung des Behandlungsbeitrages erfolgt durch die zuständigen Krankenversicherungsträger, denen auch die Feststellung jener Fälle obliegt, in denen nach Abs 2 kein Behandlungsbeitrag eingehoben werden darf. Der Krankenversicherungsträger hat nach Maßgabe der sozialen Schutzbedürftigkeit des Versicherten auf Antrag von der Einhebung des Behandlungsbeitrages abzusehen oder einen bereits entrichteten Behandlungsbeitrag rückzuerstatten.

(4) Die mit der Einhebung des Behandlungsbeitrages verbundenen Verwaltungskosten der Krankenversicherungsträger dürfen je Kalenderjahr mit nicht mehr als 6,5% der Summe der in diesem Kalenderjahr vorgeschriebenen Behandlungsbeiträge verrechnet werden und sind bei der Rückführung des Verwaltungs- und Verrechnungsaufwandes nach § 588 Abs 14 außer Acht zu lassen."

Wie aus den dem Verfassungsgerichtshof in dem zu G368-371/02, V81-84/02 geführten Verfahren vorliegenden Akten des Bundeskanzlers hervorgeht, stimmt die unter BGBl. I Nr. 35/2001 kundgemachte Fassung des zweiten Satzes des § 135a ASVG nicht mit dem zugrunde liegenden Gesetzesbeschluß des Nationalrates vom überein, der nämlich folgenden Wortlaut hatte:

"(3) ... Der Krankenversicherungsträger hat nach Maßgabe der vom Hauptverband hiezu erlassenen Richtlinien (§31 Abs 5 Z 16b) bei Vorliegen einer besonderen sozialen Schutzbedürftigkeit des Versicherten auf Antrag von der Einhebung des Behandlungsbeitrages abzusehen oder einen bereits entrichteten Behandlungsbeitrag rückzuerstatten."

Bei Kundmachung des Gesetzesbeschlusses war die oben hervorgehobene Wortfolge entfallen.

Mit Erkenntnis vom , G218-221/02, G364-367/02, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, daß § 135a ASVG idF des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 35/2001 wegen dieses Kundmachungsmangels - zur Gänze - verfassungswidrig war (s. dazu die Kundmachung des Bundeskanzlers BGBl. I Nr. 21/2003).

3. Das Bedenken des Verfassungsgerichtshofes hat sich als zutreffend herausgestellt:

§ 135a ASVG idF des SV-WUBG ist mangels Übereinstimmung mit dem (auch dieser Fassung zugrunde liegenden) Gesetzesbeschluß des Nationalrates vom , somit wegen Verstoßes gegen das sich aus Art 49 Abs 1 B-VG ergebende Gebot der vollständigen Publikation von Gesetzesbeschlüssen im Bundesgesetzblatt, zur Gänze als verfassungswidrig zu erkennen (vgl. - zu § 135a ASVG idF des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 35/2001 - schon , G364-367/02).

Da das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 155/2002 die Bestimmung des § 135a ASVG in ihrer in Prüfung stehenden Fassung in wesentlichen Punkten geändert hat, hatte es gemäß Art 140 Abs 4 B-VG bei der Feststellung zu bleiben, daß § 135a ASVG idF des SV-WUBG verfassungswidrig war.

4. Die Kundmachungspflicht des Bundeskanzlers ergibt sich aus Art 140 Abs 5 erster und zweiter Satz B-VG sowie aus § 65 iVm § 64 Abs 2 VfGG.

5. Dies konnte gemäß § 19 Abs 4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.