VfGH vom 09.12.2015, G325/2015 ua
Leitsatz
Abweisung eines Gerichtsantrags auf Aufhebung von Bestimmungen des GOG und der ZPO betreffend den Fristenlauf bei elektronischer bzw physischer Zustellung gerichtlicher Schriftstücke; verlängerte Frist im Elektronischen Rechtsverkehr von einem bzw einigen wenigen Tagen sachlich gerechtfertigt
Spruch
Der Antrag wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag und Anlassverfahren
1. Gestützt auf Art 89 Abs 2 iVm Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG beantragt der Oberste Gerichtshof aus Anlass eines in der Pflegschaftssache einer Minderjährigen bei ihm anhängigen außerordentlichen Revisionsrekurses des Vaters der Minderjährigen, § 89d Abs 2 des Gesetzes vom 27. November 1896, womit Vorschriften über die Besetzung, innere Einrichtung und Geschäftsordnung der Gerichte erlassen werden (Gerichtsorganisationsgesetz – GOG), RGBl. 217/1896 idF BGBl I 26/2012, sowie § 125 Abs 1 und § 126 Abs 1 des Gesetzes vom 1. August 1895 über das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozessordnung – ZPO), RGBl. 113/1895, letzterer idF BGBl I 30/2012, als verfassungswidrig aufzuheben.
Es handelt sich um den zweiten in dieser Rechtssache gestellten Antrag. Der erste, zu G201/2014 protokollierte Antrag auf Aufhebung (bloß) der Worte "elektronisch übermittelter" und "elektronischen" in § 89d Abs 2 GOG, in eventu des § 125 Abs 1 und 2 Satz 1 und/oder des § 126 Abs 1 ZPO als verfassungswidrig, wurde mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom , G201/2014, als zu eng gefasst zurückgewiesen; vor dem Hintergrund der vom Obersten Gerichtshof vorgetragenen Bedenken wären beide Regelungskomplexe kumulativ anzufechten gewesen.
2. Begründend führt der Oberste Gerichtshof, der offensichtlich über die Rechtzeitigkeit des an ihn gerichteten außerordentlichen Revisionsrekurses zu entscheiden hat, aus, dass die Entscheidung des Rekursgerichtes vom dem Revisionswerber am – einem Freitag – physisch an seiner Wohnanschrift zugestellt worden sei, nachdem seine damaligen Rechtsvertreter am die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses bekannt gegeben hatten. Die vierzehntägige Revisionsrekursfrist des § 65 Abs 1 AußStrG habe daher am Freitag, dem , geendet, weil die Frist gemäß § 125 Abs 1 und 2 Satz 1, § 126 Abs 1 ZPO iVm § 23 AußStrG mit der persönlichen Zustellung der Entscheidung am zu laufen begonnen habe. Der Tag der Zustellung werde nicht mitgerechnet, ein Samstag hindere den Beginn des Fristenlaufes nicht.
Am , einem Montag, habe der Revisionswerber – nunmehr wieder durch die vormals bevollmächtigten Rechtsanwälte vertreten – beim Erstgericht einen außerordentlichen Revisionsrekurs eingebracht, der im Hinblick auf den Ablauf der Revisionsrekursfrist am 25. Juli verspätet wäre.
Bei Anwendbarkeit der Bestimmung des § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012 auf den vorliegenden Sachverhalt – etwa, wenn die rechtsfreundlichen Vertreter des Revisionswerbers das Vollmachtsverhältnis nicht (vorübergehend) aufgelöst hätten und daher die Entscheidung des Rekursgerichtes am nicht dem Revisionswerber an seiner Adresse, sondern seinen Rechtsvertretern im Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) zugestellt worden wäre, – würde die Entscheidung des Rekursgerichtes erst als am 14. Juli, dem nachfolgenden Montag, zugestellt gelten; die Revisionsrekursfrist wäre diesfalls erst am Montag, dem , abgelaufen und der außerordentliche Revisionsrekurs fristgerecht.
II. Rechtslage
1. Nach § 65 Abs 1 Außerstreitgesetz (AußStrG), BGBl I 111/2003, beträgt die Frist für den Revisionsrekurs "vierzehn Tage" und beginnt mit der Zustellung der Entscheidung des Rekursgerichts.
Nach § 23 AußStrG sind im Verfahren außer Streit die Bestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO) über die Fristen, ausgenommen § 222 ZPO, sinngemäß anzuwenden (Abs1 idF BGBl I 111/2010). Fristen für die Einbringung u.a. eines Rechtsmittels sind Notfristen (Abs2). Weiters sind, soweit nichts anderes angeordnet ist, die Bestimmungen der ZPO über Zustellungen sowie das Zustellgesetz anzuwenden (§24 Abs 1 AußStrG).
Gemäß § 13 Zustellgesetz (ZustG), BGBl 200/1982 idF BGBl I 5/2008, erfolgt die Durchführung der Zustellung bei (hier aktueller) postalischer Zustellung in der Weise, dass der Zusteller dem von der Behörde bezeichneten Empfänger das Dokument (Schriftstück) an der von der Behörde bezeichneten Zustelladresse (Abgabestelle; gemäß § 2 Z 4 leg.cit. u.a. Wohnung, Betriebsstätte, Geschäftsraum, Kanzlei oder Arbeitsplatz) übergibt oder die Verfügungsbefugnis einräumt. Mit der Übergabe wird die Zustellung wirksam (vgl. N. Raschauer , in: Frauenberger-Pfeiler/Raschauer/Sander/Wessely [Hrsg.], Österreichisches Zustellrecht 2 , 2012, § 2, Rz 3b).
2. Die – teilweise angefochtenen – §§125 und 126 ZPO bestimmen Folgendes, wobei die erstgenannte Bestimmung in der Stammfassung (RGBl. 113/1895), die zweitgenannte idF BGBl I 30/2012 in Geltung steht (die angefochtenen Gesetzesstellen sind hervorgehoben):
"§. 125.
(1) Bei Berechnung einer Frist, welche nach Tagen bestimmt ist, wird der Tag nicht mitgerechnet, in welchen der Zeitpunkt oder die Ereignung fällt, nach der sich der Anfang der Frist richten soll.
(2) Nach Wochen, Monaten oder Jahren bestimmte Fristen enden mit dem Ablaufe desjenigen Tages der letzten Woche oder des letzten Monates, welcher durch seine Benennung oder Zahl dem Tage entspricht, an welchem die Frist begonnen hat. Fehlt dieser Tag in dem letzten Monate, so endet die Frist mit Ablauf des letzten Tages dieses Monates.
(3) Das Ende einer Frist kann auch durch Angabe eines bestimmten Kalendertages bezeichnet werden.
§126. (1) Der Beginn und Lauf von gesetzlichen und richterlichen Fristen werden durch Samstage, Sonntage, Feiertage oder den Karfreitag nicht behindert.
(2) Fällt das Ende einer Frist auf einen Samstag, Sonntag, Feiertag oder Karfreitag, so ist der nächste Tag, der nicht einer der vorgenannten Tage ist, als letzter Tag der Frist anzusehen."
Hinsichtlich der Zustellungen bestimmt § 87 Abs 1 ZPO idF BGBl I 111/2010, dass, soweit die ZPO nicht anderes vorsieht,
"[...] von Amts wegen nach den §§89a ff des Gerichtsorganisationsgesetzes, RGBl. Nr 217/1896, in der jeweils geltenden Fassung, sonst nach dem Zustellgesetz, BGBl Nr 200/1982, in der jeweils geltenden Fassung zuzustellen [ist]".
3.1. Die unter dem Titel "Elektronische Eingaben und Erledigungen (elektronischer Rechtsverkehr)" stehenden §§89a und 89d Gerichtsorganisationsgesetz idF BGBl I 26/2012 haben folgenden Wortlaut (die zur Aufhebung beantragte Gesetzesstelle ist hervorgehoben):
"§89a. (1) Eingaben können, soweit dies durch eine Regelung nach § 89b vorgesehen ist, statt mittels eines Schriftstücks elektronisch angebracht werden.
(2) Anstelle schriftlicher Ausfertigungen gerichtlicher Erledigungen sowie anstelle von Gleichschriften von Eingaben, die elektronisch angebracht worden sind, kann das Gericht die darin enthaltenen Daten an Einschreiter, die Eingaben elektronisch anbringen (Abs1), auch elektronisch übermitteln. Die Übermittlung von Rubriken an den Einbringer kann bei elektronischen Anbringen unterbleiben.
(3) Ist die Zustellung im elektronischen Rechtsverkehr nach den folgenden Bestimmungen nicht möglich, kann sie auch über elektronische Zustelldienste nach den Bestimmungen des 3. Abschnitts des Zustellgesetzes, BGBl Nr 200/1982, in der jeweils geltenden Fassung erfolgen."
"§89d. (1) Elektronische Eingaben (§89a Abs 1) gelten als bei Gericht angebracht, wenn ihre Daten zur Gänze bei der Bundesrechenzentrum GmbH eingelangt sind. Ist vorgesehen, daß die Eingaben über eine Übermittlungsstelle zu leiten sind (§89b Abs 2), und sind sie auf diesem Weg bei der Bundesrechenzentrum GmbH tatsächlich zur Gänze eingelangt, so gelten sie als bei Gericht mit demjenigen Zeitpunkt angebracht, an dem die Übermittlungsstelle dem Einbringer rückgemeldet hatte, daß sie die Daten der Eingabe zur Weiterleitung an die Bundesrechenzentrum GmbH übernommen hat.
(2) Als Zustellungszeitpunkt elektronisch übermittelter gerichtlicher Erledigungen und Eingaben (§89a Abs 2) gilt jeweils der auf das Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgende Werktag, wobei Samstage nicht als Werktage gelten. "
3.2. Die Bestimmungen über den Elektronischen Rechtsverkehr (§§89a ff.) wurden durch die Erweiterte Wertgrenzen-Novelle 1989, BGBl 343, mit Wirksamkeit in das GOG eingefügt. Nach § 89d Abs 2 GOG in der bis zur Novelle BGBl I 26/2012 geltenden Fassung galten
"[e]lektronisch übermittelte gerichtliche Erledigungen und Eingaben (§89a Abs 2) [...] als zugestellt, sobald ihre Daten in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangt [waren]".
Elektronische Zustellungen waren allerdings durch Verordnung zeitlich derart begrenzt, als sie in der Zeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr bzw. zwischen 16.00 Uhr und 24.00 Uhr sowie an Samstagen, Sonn- und gesetzlichen Feiertagen nicht zulässig waren (vgl. § 1 Abs 4 ERV 1995 und § 1 Abs 4 ERV 2006).
Zur Änderung durch BG BGBl I 26/2012 wurde in den Erläuterungen zur RV 1676 BlgNR 24. GP, 4, ausgeführt:
"Bisher erfolgen die Zustellungen im elektronischen Rechtsverkehr (ERV) nur einmal täglich gebündelt, und zwar erst kurz nach Mitternacht. Die Konsequenzen des Zugehens in den elektronischen Verfügungsbereich des/der Empfänger/in wurden daher erst nach Mitternacht ausgelöst, gleichsam so, als ob das Geschäftsstück erst nach Mitternacht in Papierform zugestellt worden wäre.
Im Laufe des Jahres 2012 soll nun der ERV so umgestellt werden, dass die meisten Zustellungen (wie im E-Mail-Verkehr üblich) sofort erfolgen. Das würde – ohne Anpassung der Zustellungsregelungen – bedeuten, dass z.B. ein an eine/n berufliche/n Parteienvertreter/in knapp vor Mitternacht im ERV zugestelltes Geschäftsstück als mit diesem Zeitpunkt in dessen/deren elektronischen Verfügungsbereich gelangt anzusehen wäre, obgleich zu solchen Zeiten Rechtsanwaltskanzleien in der Regel nicht mehr 'besetzt' sind.
Die mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf vorgeschlagene Verschiebung des Zustellungszeitpunkts auf den dem elektronischen Empfang folgenden Werktag (wobei Samstage hier nicht als Werktage gelten) löst diese Schwierigkeiten und vermeidet eine Verschlechterung des Status quo und damit eine mögliche Benachteiligung für die ERV-Teilnehmer/innen.
Überdies stellt die von Seiten der beruflichen Parteienvertreter/innen schon mehrfach geforderte Änderung eine Annäherung an die elektronische Zustellung nach dem Zustellgesetz dar, die im Hinblick auf die Koppelung von ERV und Zustellservice des Bundes, die ebenfalls im Laufe des Jahres 2012 erfolgen wird, erforderlich ist."
III. Bedenken des Obersten Gerichtshofes und Vorbringen der Bundesregierung
1. In der Sache schließt sich der Oberste Gerichtshof den in der Literatur ( Frauenberger-Pfeiler/Schmon , Physische Zustellung, elektronische Zustellung und verhandlungsfreie Zeit: Einfluss auf den Lauf der Rechtsmittelfristen, JAP 2012/2013, 5, und Gitschthaler , in: Rechberger [Hrsg.], Kommentar zur ZPO 4 , §§124 – 126 ZPO, Rz 2/1) dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 89d Abs 2 GOG an. Gerade der vorliegende Fall zeige exemplarisch die sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Zustellempfängern auf, je nachdem, ob eine elektronische Zustellung erfolgt sei oder nicht.
Den Bestimmungen der §§124 ff. ZPO liege die Überlegung zugrunde, dass dem Zustellungsempfänger (insbesondere bei Notfristen) die vierzehntägige oder die vierwöchige (Rechtsmittel-)Frist ungeschmälert zur Verfügung stehen und nicht durch Zufälligkeiten der tatsächlichen Zustellung verkürzt werden solle:
"Aus diesem Grund werden etwa auch die tatsächliche Zustellung an der Abgabestelle (§2 Z 4 ZustG) und die Zustellung durch Hinterlegung (§17 ZustG) gleich behandelt; in letzterem Fall beginnt die Frist nicht schon mit dem Zustellversuch zu laufen, sondern erst mit dem Abholtag. In diesem Fall erlangt der Empfänger aber regelmäßig tatsächlich erst mit dem Abholtag Kenntnis vom zugestellten Dokument, während bei der Zustellung nach § 89d Abs 2 GOG der Rechtsanwalt bereits vor dem festgelegten Zustellzeitpunkt Kenntnis erlangen kann.
Auch nach dem früheren System, bei dem Zustellungen im ERV gebündelt und meist kurz nach Mitternacht erfolgten (vgl die ErläutRV 1676 BlgNR 24. GP 3), stand dem Empfänger die Frist ungeschmälert zur Verfügung; er war jenem Empfänger vergleichbar, dem das Dokument (§2 Z 2 ZustG) in Papierform etwa am Vormittag postalisch zugestellt wurde. In beiden Fällen begann die Frist mit 00.00 Uhr des nächsten Tages zu laufen, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Samstag oder Feiertag handelte (§126 Abs 1 ZPO)."
Fristverlängerungen durch Zufälligkeiten der tatsächlichen Zustellung seien durch das alte System kaum denkbar gewesen, sie hätten allenfalls in der Dauer von wenigen Stunden (am Zustelltag selbst) gegeben sein können.
Diesen Grundsatz, dass es sowohl bei postalischer als auch bei Zustellung im ERV auf die tatsächliche Verfügbarkeit der Sendung für den Empfänger ankomme und so die von den Verfahrensgesetzen vorgesehenen Fristen allen Empfängern in annährend gleichem Ausmaß zur Verfügung stünden, habe § 89d Abs 2 GOG zu Lasten jener Empfänger, denen nicht im ERV zugestellt werde, aufgegeben. Ungeachtet dessen, dass der Empfänger, dem am Freitag im ERV zugestellt werde, jedenfalls ab Samstag auf das Dokument zugreifen könne, beginne für ihn die verfahrensrechtliche Frist erst um 00.00 Uhr des darauffolgenden Dienstags zu laufen. Bei einer vierzehntägigen Frist – die in Verfahren außer Streitsachen ebenso die Regel sei wie in Exekutions- und Insolvenzverfahren – bedeuteten die drei "gewonnenen" Tage (Samstag, Sonntag, Montag) eine Fristverlängerung um 20 %.
Die dem § 89d Abs 2 GOG möglicherweise zugrunde liegende Überlegung des Gesetzgebers, der Empfänger könnte bei einer Zustellung im ERV nach Ende der üblichen Geschäftszeiten am Freitag nicht (mehr) auf das Dokument zugreifen, gehe an der Lebensrealität vorbei und sei verfehlt. Der Zugriff auf elektronische Zustellungen sei quasi von überall aus möglich (praktisch jeder Rechtsanwalt oder Notar sei über Smartphone oder Tablet mit dem Server seiner Kanzlei online verbunden, sodass Zustellungen im ERV faktisch zeitgleich nicht nur in den Verfügungsbereich der Kanzlei, sondern auch – wie bei der postalischen Zustellung an den Empfänger – in seinen persönlichen Verfügungsbereich gelangten). Die Überlegungen der Bundesregierung in ihrer im Verfahren G201/2014 (über den mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom zurückgewiesenen ersten Antrag des Obersten Gerichtshofes in dieser Angelegenheit) erstatteten Äußerung, bei einer "Durchschnittsbetrachtung" könne nicht davon ausgegangen werden, dass Rechtsanwälte und Notare mit den Servern ihrer Kanzleien verbunden seien, entsprächen nicht den Lebenssachverhalten. Im Übrigen gehe es nicht um die Frage, ob der einzelne Rechtsanwalt oder Notar tatsächlich ständig, also auch an "Nichtwerktagen", seine ERV-Zustellungen abrufe; maßgeblich sei seine diesbezügliche Möglichkeit, die ihn etwa von Empfängern postalisch hinterlegter Sendungen unterscheide.
Jedenfalls vermögen alle Überlegungen zu den technischen Unterschieden zwischen einer postalischen Zustellung und einer Zustellung im Rahmen des ERV nicht zu erklären, warum zwar bei der postalischen Zustellung nach § 126 Abs 1 ZPO Beginn und Lauf einer Frist durch Samstage nicht behindert werden, wohl aber bei der Zustellung im Rahmen des ERV. Das von der Bundesregierung im Verfahren G201/2014 ins Treffen geführte Argument, dass von einem berufsmäßigen Parteienvertreter, an den im Rahmen des ERV zugestellt wird, nicht erwartet werden könne, dass dieser auch am Samstag die Zustellung zur Kenntnis nehme und reagiere, mache die Ungleichbehandlung zwischen vertretenen und unvertretenen Parteien eines Verfahrens noch zusätzlich deutlich. Gerade die unvertretene Partei bedürfe nach einer Zustellung häufig der Unterstützung durch einen berufsmäßigen Parteienvertreter, dem für die Reaktion auf die zugestellte Entscheidung diesfalls aber wesentlich weniger Zeit zur Verfügung stehe als einer (bereits) rechtsfreundlich vertretenen Partei, an deren Rechtsbeistand die Zustellung bereits im Rahmen des ERV erfolgt sei.
Durch die Nichtberücksichtigung des Umstands, dass § 89d Abs 2 GOG für den Zustellzeitpunkt nicht darauf abstelle, ob der ERV-Teilnehmer vom Inhalt des Dokuments Kenntnis hat oder nicht und die dadurch bei Zustellungen an Freitagen bewirkte dreitägige Verlängerung von Fristen gegenüber einem Empfänger, dem postalisch zugestellt werde, werde eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Empfängern gerichtlicher Erledigungen bewirkt, was sowohl gegen Art 7 B VG als auch gegen Art 6 EMRK verstoße.
2. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie den Bedenken des Obersten Gerichtshofes entgegentritt und die Abweisung des Antrages begehrt; im Fall einer Aufhebung wird für deren Inkrafttreten die Festlegung einer Frist von 18 Monaten beantragt.
2.1. Im Anschluss an die Darstellung der Rechtslage hält die Bundesregierung zunächst ihr Verständnis der angefochtenen Regelungen fest (Zitat ohne Hervorhebungen im Original):
"[...] Das GOG enthält nur besondere Regelungen über den Zustellungszeitpunkt elektronisch übermittelter gerichtlicher Erledigungen. Hingegen richten sich Beginn, Lauf und Ende von Fristen auch bei Zustellungen im ERV nach der ZPO. Auch bei dieser Form der Zustellung wird bei einer nach Tagen bestimmten Frist der Tag nicht mitgerechnet, an dem das fristauslösende Ereignis stattfindet; fristauslösendes Ereignis ist der gemäß § 89d Abs 2 GOG bestimmte Zustellungszeitpunkt. Die Frist beginnt also erst am Tag, der auf diesen Zustellungszeitpunkt folgt, zu laufen [...]. Zwar gilt auch für Zustellungen gerichtlicher Entscheidungen im ERV, dass der Beginn des Fristenlaufes durch Samstage, Sonntage und Feiertage nicht behindert wird (§126 Abs 1 ZPO). Der Fall, dass das fristauslösende Ereignis auf einen Samstag, einen Sonntag oder einen Feiertag fällt, kann auf Grund des § 89d Abs 2 GOG allerdings nicht eintreten; in so einem Fall gilt als Zustellungszeitpunkt nämlich der folgende Werktag. Ist der auf das fristauslösende Ereignis folgende Tag ein Samstag, Sonntag oder Feiertag, zählt er auch bei einer Zustellung im ERV als erster Tag der Frist.
[...] Für einen Sachverhalt, wie er dem Anlassfall zu Grunde liegt, ergibt sich somit Folgendes: Gelangt eine im elektronischen Rechtsverkehr übermittelte gerichtliche Erledigung an einem Freitag in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers (etwa einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwaltes), beginnt eine nach Tagen bestimmte Frist erst am nächsten Dienstag um 0.00 Uhr zu laufen, da als Zustellungszeitpunkt (fristauslösendes Ereignis) der nächste Montag gilt. Wird eine gerichtliche Erledigung hingegen einem – nicht anwaltlich vertretenen – Empfänger an einem Freitag postalisch zugestellt, beginnt die Frist am nächsten Samstag um 0.00 Uhr zu laufen.
Gelangt eine im elektronischen Rechtsverkehr übermittelte gerichtliche Erledigung etwa an einem Donnerstag in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers (etwa einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwaltes), beginnt eine nach Tagen bestimmte Frist am nächsten Samstag um 0.00 Uhr zu laufen, da als Zustellungszeitpunkt (fristauslösendes Ereignis) der nächste Freitag gilt, der Beginn des Fristenlaufes aber durch einen Samstag nicht gehindert wird. Wird eine gerichtliche Erledigung hingegen einem – nicht anwaltlich vertretenen – Empfänger an einem Donnerstag postalisch zugestellt, beginnt die Frist am nächsten Freitag um 0.00 Uhr zu laufen."
2.2. Den vorgetragenen Bedenken tritt die Bundesregierung mit folgenden Argumenten entgegen:
Die Fristenregelungen der ZPO seien uniform, sie unterschieden nicht danach, ob ein Dokument physisch oder elektronisch zugestellt wird. Für den Beginn des Fristenlaufes bleibe der Tag des fristauslösenden Ereignisses stets unberücksichtigt, womit darauf Bedacht genommen werde, dass das fristauslösende Ereignis zu unterschiedlichen Tageszeiten stattfinden könne. Der Fristenlauf beginne einheitlich mit dem Tag, der auf das fristauslösende Ereignis folgt, gleich, ob dieses eine physische Zustellung oder eine Zustellung im ERV sei. Die vom antragstellenden Obersten Gerichtshof dargelegten Unterschiede in der Länge der tatsächlich zur Verfügung stehenden Fristen ergäben sich nicht aus den Fristenregelungen der ZPO, sondern aus den unterschiedlichen Regelungen über den Zustellungszeitpunkt bei physischer Zustellung und bei Zustellung im ERV.
Nach Auffassung der Bundesregierung steht dem Gesetzgeber bei der Festlegung des fristauslösenden Ereignisses ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. Das zeige sich schon an den Regelungen des ZustellG über den Zustellungszeitpunkt bei physischer Zustellung:
"Bei einer Zustellung ohne Zustellnachweis gilt die Zustellung als am dritten Werktag nach der Übergabe an das Zustellorgan bewirkt (§26 Abs 2 ZustG). Wird also ein gerichtliches Dokument am Freitag an das Zustellorgan (etwa die Post) übergeben, gilt die Zustellung als am Dienstag bewirkt, sodass eine Frist nach der ZPO am Mittwoch um 0.00 Uhr zu laufen beginnt.
Bei einer Zustellung durch Hinterlegung wegen Abwesenheit des Empfängers gilt das hinterlegte Dokument mit dem ersten Tag, an dem das Dokument erstmals zur Abholung bereitgehalten wird, als zugestellt (§17 Abs 3 ZustG). Das ist bei einer Zustellung durch die Post regelmäßig der Tag, der auf den erfolglosen Zustellversuch folgt. Kann ein Dokument also an einem Freitag wegen Abwesenheit des Empfängers von der Abgabestelle – etwa wegen Berufstätigkeit – von der Post nicht zugestellt werden, ist es zu hinterlegen. Hat das Postamt, bei dem das Dokument hinterlegt wird, am Samstag geöffnet, gilt das Dokument als an diesem Tag zugestellt; die Frist beginnt also am Sonntag um 0.00 Uhr zu laufen. Hat das Postamt hingegen am Samstag geschlossen, gilt das Dokument als am Montag (bzw. dem ersten Tag, an dem das Postamt wieder geöffnet hat) zugestellt; die Frist beginnt also am Dienstag um 0.00 Uhr zu laufen. Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass das ZustG für physische Zustellungen jenen Tag als Zustellungszeitpunkt festlegt, an dem davon ausgegangen werden kann, dass der Empfänger von dem zuzustellenden Dokument tatsächlich Kenntnis erlangt hat oder Kenntnis erlangen könnte. Dass den entsprechenden Regelungen des ZustG – verfassungsrechtlich zulässige – typisierende Annahmen zu Grunde liegen, zeigt sich auch an der Rechtstechnik der Festlegung des Zustellungszeitpunktes in Form einer Fiktion (§17 Abs 3: 'gelten … als zugestellt'; § 26 Abs 2: 'Die Zustellung gilt … als bewirkt')."
Nach Ansicht der Bundesregierung weicht auch die angefochtene Regelung über den Zustellungszeitpunkt im ERV nicht von diesem Grundsatz ab:
"Der ERV weist gegenüber der physischen Zustellung gewisse Besonderheiten auf. So kann bei einer Durchschnittsbetrachtung davon ausgegangen werden, dass postalische Zustellungen kaum jemals später als 11.00 oder 12.00 Uhr erfolgen, während Erledigungen im ERV seit dem Jahr 2012 nicht mehr gebündelt zu einem bestimmten Zeitpunkt übermittelt werden, sondern zu jeder Tageszeit in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangen können und – abhängig von technischen und elektronischen Maßgaben – auch tatsächlich gelangen. Es liegt aber im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung, auf solche Besonderheiten des ERV bei der Festlegung des Zustellungszeitpunktes Bedacht zu nehmen (vgl. – für den Anwendungsbereich des ZustG – § 35 Abs 5 bis 7 iVm. § 36 ZustG über den Zustellungszeitpunkt bei elektronischer Zustellung).
§89d Abs 2 GOG soll verhindern, dass Teilnehmer am ERV in zeitlicher Hinsicht einen Nachteil dadurch erleiden, dass das Einlagen des zuzustellenden Dokumentes in ihren elektronischen Verfügungsbereich zu einer Tageszeit erfolgt, zu der bei einer Durchschnittsbetrachtung nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass der Empfänger davon unmittelbar Kenntnis erlangt. Entgegen den Ausführungen des Obersten Gerichtshofes entspricht es nach Auffassung der Bundesregierung nicht der 'Lebensrealität', dass berufsmäßige Parteienvertreter jederzeit so elektronisch mit ihrem Arbeitsplatz verbunden sind, dass sie von elektronischen Zustellungen zu jeder denkbaren Tageszeit Kenntnis erlangen. Ebenso wenig kann dies bei den anderen in § 89c Abs 5 GOG genannten Stellen und Einrichtungen, die ebenfalls zur Teilnahme am ERV verpflichtet sind, angenommen werden. Es entspricht auch nicht der Lebensrealität und kann auch nicht erwartet werden, dass Kanzleien von beruflichen Parteienvertretern 'rund um die Uhr', also insbesondere auch außerhalb üblicher Bürozeiten und an Nichtwerktagen, personell besetzt sind. Abgesehen davon wäre es – im Hinblick darauf, dass elektronische Zustellungen gerade auch außerhalb üblicher Bürozeiten erfolgen können – auch nicht gerechtfertigt, allein darauf abzustellen, dass die entsprechenden technischen Möglichkeiten vorliegen und daher theoretisch jederzeit (und nicht nur innerhalb üblichet Bürozeiten und Werktagen) von Dokumenten Kenntnis erlangt werden könnte.
So kann etwa bei einer elektronischen Übermittlung an einem Freitag abends, wie sie bei Zustellungen im ERV möglich und nicht unrealistisch ist, auch bei berufsmäßigen Parteienvertretern in einer Durchschnittsbetrachtung nicht davon ausgegangen werden, dass sie vor dem nächsten Werktag davon Kenntnis erlangen. Auch eine physische Zustellung an einem Freitag wird nur dann wirksam, wenn dem – unvertretenen – Empfänger rechtmäßig zugestellt werden konnte, sodass auch davon ausgegangen werden kann, dass er von dem zugestellten Dokument tatsächlich Kenntnis erlangt hat. Um aber in so einem Fall eine Ungleichbehandlung zwischen Teilnehmern am ERV und anderen Empfängern von gerichtlichen Dokumenten zu verhindern, legt § 89d Abs 2 GOG als Zustellungszeitpunkt nicht jenen Tag fest, an dem die Daten in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangt sind. Als Zustellungszeitpunkt fingiert wird der nächste Werktag, der dem auf den Eingang in den elektronischen Verfügungsbereich folgenden Tag entspricht, sofern es sich nicht um einen Samstag handelt. An einem Samstag kann bzw. muss nämlich nicht – ebenso wenig wie außerhalb üblicher Bürozeiten – davon ausgegangen werden, dass ein berufsmäßiger Parteienvertreter von dem zuzustellenden Dokument tatsächlich Kenntnis erlangt hat oder Kenntnis erlangen könnte (unabhängig davon, ob die technischen Gegebenheiten dafür vorliegen).
[…]
Zwar mag das Einlagen von gerichtlichen Erledigungen in den elektronischen Verfügungsbereich eines ERV-Teilnehmers zu einer Tageszeit, zu der nicht mehr angenommen werden kann, dass er von der übermittelten Erledigung tatsächlich Kenntnis erlangt, nicht den Regelfall von Zustellungen im ERV darstellen. Wie schon die bis zum geltenden Regelungen über die Unzulässigkeit von elektronischen Zustellungen in den Abendstunden zeigen […], handelt sich aber nicht um eine vernachlässigbare Fallgruppe. Nach Auffassung der Bundesregierung kann der Gesetzgebung daher nicht entgegen getreten werden, wenn sie für die Festlegung des Zustellungszeitpunktes nicht auf das tatsächliche Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich abstellt oder etwa danach differenziert, zu welcher Tageszeit ein elektronisch übermitteltes Dokument einlangt (also die Regelung des § 89d Abs 2 GOG etwa auf 'Randzeiten' beschränkt). Vielmehr liegt es im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum der Bundesgesetzgebung, eine einheitliche Regelung dahingehend zu treffen, dass die elektronische Zustellung erst mit dem auf das Einlagen in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgenden Werktag als bewirkt gilt."
Damit entspreche § 89d Abs 2 GOG aber – unter Berücksichtigung der Besonderheiten des elektronischen Rechtsverkehrs – dem Grundsatz des ZustellG über den Zustellungszeitpunkt bei physischer Zustellung: Die Zustellung gelte als an jenem Tag bewirkt, an dem davon ausgegangen werden könne, dass der Empfänger von dem zuzustellenden Dokument tatsächlich Kenntnis erlangt habe oder Kenntnis erlangen hätte können.
Soweit der Oberste Gerichtshof auch einen Verstoß gegen Art 6 EMRK behauptet, geht die Bundesregierung darauf mit der Begründung, dass der Antrag hiezu keinerlei Ausführungen enthalte, nicht näher ein.
3. Auch der Rechtsmittelwerber des Anlassverfahrens erstattete eine Äußerung, in der er sich den Bedenken des Obersten Gerichtshofes anschließt und die kostenpflichtige Aufhebung des § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012 begehrt.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art 139 Abs 1 Z 1 B VG bzw. des Art 140 Abs 1 Z 1 lita B VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
1.2. Es ist nichts hervorgekommen, was an der Präjudizialität der angefochtenen Gesetzesbestimmungen zweifeln ließe. Der Oberste Gerichtshof geht zumindest denkmöglich davon aus, dass er bei der Entscheidung im bei ihm anhängigen Anlassverfahren die – kumulativ – angefochtenen Bestimmungen, nämlich § 89d Abs 2 GOG sowie den jeweiligen Abs 1 der §§125 und 126 ZPO, anzuwenden hat bzw. dass diese in ihrem Zusammenspiel das nach Auffassung des Obersten Gerichtshofes verfassungswidrige Ergebnis bewirken (vgl. ).
Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art 140 B VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl. VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).
2.2. Auf das Wesentlichste zusammengefasst hegt der Oberste Gerichtshof das Bedenken, dass eine Regelung, der zufolge Fristen, abhängig von der Teilnahme am ERV – und damit in der Regel auch davon, ob die Partei anwaltlich vertreten ist oder nicht, – anders zu berechnen sind, insbesondere bei entsprechender Feiertags- und Wochenendkonstellation eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Parteien eines (zivil-)gerichtlichen Verfahrens bewirkt und damit gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz des Art 7 B VG sowie gegen das Gebot der Waffengleichheit als zentraler Bestandteil des nach Art 6 EMRK zu gewährleistenden fairen Verfahrens verstößt.
Dem hält die Bundesregierung entgegen, dass dem Gesetzgeber bei der Festlegung des fristauslösenden Ereignisses ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zukomme, der deshalb nicht überschritten sei, weil § 89d Abs 2 GOG – unter Berücksichtigung der Besonderheiten des elektronischen Zustellverkehrs – dem Grundsatz des Zustellgesetzes über den Zustellzeitpunkt bei physischer Zustellung entspreche: Die Zustellung gelte als an jenem Tag als bewirkt, an dem davon ausgegangen werden könne, dass der Empfänger von der übermittelten Erledigung tatsächlich Kenntnis erlangt habe oder Kenntnis erlangen hätte können.
2.3. Der Antrag ist nicht begründet.
2.3.1. Der Gleichheitsgrundsatz bindet auch den Gesetzgeber (s. etwa VfSlg 13.327/1993, 16.407/2001). Er setzt ihm insofern inhaltliche Schranken, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (vgl. zB VfSlg 14.039/1995, 16.407/2001). Innerhalb dieser Schranken ist es dem Gesetzgeber jedoch von Verfassungs wegen durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen (s. etwa VfSlg 16.176/2001, 16.504/2002). Diese Schranken sind im vorliegenden Fall nicht überschritten. Ob eine Regelung zweckmäßig ist und das Ergebnis in allen Fällen als befriedigend empfunden wird, kann nicht mit dem Maß des Gleichheitssatzes gemessen werden (zB VfSlg 14.301/1995, 15.980/2000 und 16.814/2003).
2.3.2. § 65 Abs 1 AußStrG legt – ebenso wie zahlreiche andere Bestimmungen (vgl. für Berufungen § 464 Abs 2 ZPO, für Revisionen § 505 Abs 2 ZPO, für Rekurse § 521 Abs 2 ZPO; zur Maßgeblichkeit der Zustellung des zu bekämpfenden Bescheides als fristauslösendes Ereignis s. § 63 Abs 5 AVG für das verwaltungsbehördliche Verfahren sowie § 7 Abs 1 Z 1 VwGVG für das verwaltungsgerichtliche Verfahren) – die Zustellung der Entscheidung des (Rekurs-)Gerichtes als fristauslösendes Ereignis für die Erhebung eines gegen diese Entscheidung zustehenden Rechtsmittels (in concreto eines Revisionsrekurses) fest. Daran anknüpfend sieht § 125 ZPO (iVm § 23 AußStrG) vor, dass der Fristenlauf mit dem fristauslösenden Ereignis (in concreto mit der Zustellung der gerichtlichen Entscheidung) beginnt, wobei bei nach Tagen bestimmten Fristen jener Tag, an dem das fristenauslösende Ereignis (die Zustellung) stattfindet, nicht mitgerechnet wird ( Buchegger , in: Fasching/Konecny [Hrsg.], Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, II/2 2 , 2003, § 125 ZPO, Rz 1; Gitschthaler , in: Gitschthaler/Höllwerth [Hrsg.], Kommentar zum Außerstreitgesetz, 2013, § 23 AußStrG, Rz 9).
Gemäß § 126 Abs 1 ZPO idF BGBl I 30/2012 werden gesetzliche Fristen, zu denen Rechtsmittelfristen regelmäßig zählen, (ebenso wie richterliche Fristen) in ihrem Beginn und Lauf durch Samstage, Sonn- und Feiertage oder den Karfreitag nicht gehemmt. Fallen das fristauslösende Ereignis und/oder der erste Tag einer Frist auf einen Samstag, Sonntag bzw. Feiertag oder auf einen Karfreitag, so ist dieser Umstand bei der Fristberechnung unbeachtlich ( Gitschthaler , aaO, § 23 AußStrG, Rz 10; ).
Bei Zustellungen im ERV gilt nach § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012 als Zustellungszeitpunkt nicht jener Tag, an dem die Daten in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers gelangen (so noch § 89d Abs 2 GOG idF BGBl 343/1989), sondern erst der auf dieses Ereignis folgende Werktag (wozu weder Samstage noch Sonn- und Feiertage noch der Karfreitag zählen).
Seit dem , dem Tag des Inkrafttretens des § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012, ist demnach für den Zustellungszeitpunkt und damit den Beginn des Fristenlaufes hinsichtlich physischer Zustellung einerseits und elektronischer Zustellung im ERV andererseits zu unterscheiden. Während die Sendung bei physischer Zustellung idR an jenem Tag als zugestellt gilt, an dem der Empfänger diese tatsächlich übernommen hat bzw. (bei Hinterlegung) die (erstmalige) Möglichkeit zur Abholung hatte, sieht die hier Bedenken auslösende Norm des § 89d Abs 2 GOG für Teilnehmer am ERV eine "Zustellfiktion" (am dem Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich folgenden – Samstage ausnehmenden – Werktag) vor.
2.3.3. Dies begegnet jedoch aus folgenden Gründen nicht den vom Obersten Gerichtshof geäußerten Bedenken:
Zwischen der Zustellung gerichtlicher Erledigungen in Form physischer Übermittlung einerseits und im Wege des ERV andererseits bestehen von vornherein Unterschiede im Tatsächlichen, insbesondere, was den Zeitpunkt der (Möglichkeit der) Kenntnisnahme vom Inhalt der Sendung und dessen Feststellbarkeit anlangt.
Der Verfassungsgerichtshof vermag daher dem Gesetzgeber nicht entgegenzutreten, wenn er – offenbar getragen von dem Bestreben, grundsätzlich jenen Tag als Zustellungszeitpunkt festzulegen, an dem regelmäßig davon ausgegangen werden kann, dass der Empfänger von dem (den) zuzustellenden Schriftstück(en) tatsächlich Kenntnis erlangt hat oder zumindest erlangen konnte (vgl. für physische Zustellungen etwa § 17 Abs 3, § 26 Abs 2 ZustG), – bei Zustellungen im ERV nicht schon das bloße Einlangen im elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers genügen lässt, sondern erst den folgenden Werktag als Zustellungszeitpunkt bestimmt.
Es ist dem Gesetzgeber nicht entgegenzutreten, wenn er auf einen planbaren, geordneten Kanzlei-, Büro- oder Geschäftsbetrieb bei Rechtsanwälten oder Notaren (der Samstage, Sonn- und Feiertage nicht notwendigerweise inkludiert) bzw. bei anderen (gemäß § 89c Abs 5 GOG) zur Teilnahme am ERV verpflichteten Institutionen oder auch bei freiwillig am ERV teilnehmenden Personen Rücksicht nimmt; da es für die tatsächliche Kenntnisnahme von in den elektronischen Verfügungsbereich gelangter Dokumente nicht nur entsprechender technischer Vorkehrungen, sondern für deren Abrufung regelmäßig auch des Einsatzes von entsprechend geschultem Personal bedarf, ist es – ausgehend von einer Durchschnittsbetrachtung – nicht unsachlich, den Zustellungszeitpunkt in § 89d Abs 2 GOG mit dem auf das Einlangen im elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgenden Werktag zu bestimmen und Samstage nicht als Werktage gelten zu lassen. Der dem Gesetzgeber zustehende rechtspolitischen Gestaltungsspielraum wurde damit nicht überschritten.
2.4. Auch die vom Obersten Gerichtshof lediglich kursorisch erfolgte Berufung auf den durch Art 6 EMRK verbürgten Grundsatz der Waffengleichheit vermag dem Antrag nicht zum Erfolg zu verhelfen, zumal dieses Prinzip erfordert, dass jede Partei ihre Sache dem Gericht darlegen kann, ohne gegenüber einer anderen Partei substantiell benachteiligt zu sein (vgl. allgemein zB EGMR , Fall Lagarder , Appl. 18.851/07, und im Besonderen , Fall Gacon , Appl. 1092/04, in dem eine Verletzung festgestellt wurde, weil dem Staatsanwalt eine zweimonatige, dem Verurteilten aber lediglich eine zehntägige Rechtsmittelfrist eingeräumt war). Von einer derartigen substantiellen Benachteiligung kann aber nicht die Rede sein, wenn sich die den Parteien eines gerichtlichen Verfahrens zur Verfügung stehende Frist auf Grund technischer Gegebenheiten faktisch um einen Tag (in Sonderkonstellationen allenfalls um einige wenige Tage) für diejenigen Parteien, die am ERV teilnehmen, gegenüber Parteien, denen nicht elektronisch zugestellt werden kann, verlängert.
V. Ergebnis
1. Die vom Obersten Gerichtshof geäußerten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 89d Abs 2 GOG idF BGBl I 26/2012 und der §§125 Abs 1 und 126 Abs 1 (letzterer idF BGBl I 30/2012) ZPO treffen nicht zu. Der Antrag ist daher abzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Der beteiligten Partei sind die für die abgegebene Äußerung begehrten Kosten nicht zuzusprechen, weil es im Falle eines auf Antrag eines Gerichtes eingeleiteten Normenprüfungsverfahrens Sache des antragstellenden Gerichtes ist, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (zB VfSlg 19.019/2010 mwN).
European Case Law Identifier
ECLI:AT:VFGH:2015:G325.2015