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VfGH vom 26.06.2020, G302/2019

VfGH vom 26.06.2020, G302/2019

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung der BAO betreffend die Einschränkung der Gewährung von Verfahrenshilfe auf Fälle, deren zu entscheidende Rechtsfragen besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweisen; verfassungskonforme Interpretation der Bestimmung möglich und geboten

Spruch

§292 Abs 1 Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl Nr 194/1961, in der Fassung BGBl I Nr 117/2016 wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zur Zahl E2851/2018 eine auf Art 144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

1.1. Die vom Beschwerdeführer gegen den von der zuständigen Abgabenbehörde erlassenen Einkommensteuerbescheid 2012 erhobene Beschwerde (vormals: Berufung) wurde mit Beschwerdevorentscheidung vom als unbegründet abgewiesen. Die dagegen eingebrachte Beschwerde wurde von der Abgabenbehörde als Vorlageantrag gewertet und an das Bundesfinanzgericht weitergeleitet.

1.2. Mit Ladung vom wurde der Beschwerdeführer zu der mit anberaumten mündlichen Verhandlung vor das Bundesfinanzgericht vorgeladen. Mit Eingabe vom brachte der zu diesem Zeitpunkt steuerlich nicht mehr vertretene Beschwerdeführer beim Bundesfinanzgericht im Hinblick auf diese Verhandlung einen Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ein, da er bloß € 1.106,31 im Monat verdiene und ihm nach Abzug der Lebenshaltungskosten nur ein Betrag von € 400,– verbliebe. Er sei Geschäftsführer einer GmbH gewesen und habe im Sommer 2013 für seine Firma Konkurs anmelden müssen. Danach sei er sehr krank gewesen, könne sich nach einem Schlaganfall nicht mehr an die Sache erinnern, sei zu 60 % behindert und auch nicht geistig fit, um sich zu dieser Sache zu äußern, aber sein ehemaliger steuerlicher Vertreter wisse darüber Bescheid.

1.3. Mit Beschluss vom wies das Bundesfinanzgericht den Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ab und begründete dies damit, dass die zu entscheidende Rechtsfrage keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweise und deshalb die Voraussetzungen zur Gewährung von Verfahrenshilfe gemäß § 292 Abs 1 BAO nicht vorlägen. Die im zugrunde liegenden Abgabenverfahren zu entscheidende Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen unter Beachtung der dazu ergangenen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ein Wechsel der Gewinnermittlung nach § 4 Abs 3 EStG 1988 mit Basispauschalierung zur Gewinnermittlung nach § 4 Abs 1 EStG 1988 zulässig sei, sei keine ungeklärte, besonders komplexe Rechtsfrage, sondern es handle sich um eine "vorerst rein auf Sachverhaltsebene zu lösende Beweiswürdigung"; auch seien vom Antragsteller keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art aufgezeigt worden.

2. Bei der Behandlung der gegen diese Entscheidung gerichteten Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 292 Abs 1 Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl 194/1961, in der Fassung BGBl I 117/2016 entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am beschlossen, diese Gesetzesbestimmung von Amts wegen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"[…]

Nach § 292 Abs 1 BAO ist einer Partei, wenn zu entscheidende Rechtsfragen besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweisen, für das Beschwerdeverfahren Verfahrenshilfe vom Verwaltungsgericht insoweit zu bewilligen, als die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten und als die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

Die Vorschrift wurde mit BGBl I 117/2016 eingeführt und trat mit in Kraft. Nach den Materialien (Erläut zur RV 1352 BlgNR 25. GP, 18) geht der Begriff der 'besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art' auf die Regelung des § 282 Abs 1 BAO idF vor BGBl I 14/2013 zurück. Diese Bestimmung regelte die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Verfahren vor dem Unabhängigen Finanzsenat die Entscheidung über Berufungen dem Berufungssenat oblag. Nach den Materialien zu § 292 Abs 1 BAO soll die Vorschrift sicherstellen, dass Verfahrenshilfe nur in Fällen überdurchschnittlich schwieriger, durch ständige Judikatur noch nicht geklärter Rechtsfragen gewährt werden soll.

4. Eine solche Regelung, die die Gewährung von Verfahrenshilfe allein schon deshalb ausschließt, weil keine Rechtsfrage vorliegt, die besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweist, scheint aber gegen Art 47 GRC bzw Art 6 EMRK zu verstoßen:

4.1. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und auch des Gerichtshofes der Europäischen Union hat nähere Kriterien entwickelt, die in Verfahren, für die Art 6 EMRK bzw Art 47 GRC gilt, für die Gewährung von Verfahrenshilfe zu beachten sind:

Zunächst hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass der Zugang zum Gericht nicht bloß theoretisch und illusorisch sondern effektiv gewährleistet sein müsse (EGMR , Fall Del Sol, Appl 46.800/99, Z 21). Diesem Gebot entspreche es nicht, wenn es für einen effektiven Zugang zum Gericht (auch in Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche) unentbehrlich sei, dass der Partei eines Verfahrens ein unentgeltlicher Verfahrenshelfer beigestellt werde, eine solche Möglichkeit nach dem nationalen Recht jedoch nicht bestehe. Die unentgeltliche Beigebung eines Verfahrenshelfers könne beispielsweise geboten sein, wenn im konkreten Verfahren Anwaltszwang bestehe, das Verfahrensrecht kompliziert sei oder eine schwierig zu entscheidende Rechtsfrage vorliege. Zudem müsse der Anschein eines fairen Verfahrens gewahrt werden, wobei es auch auf die Bedeutung der Angelegenheit für die Partei ankomme (EGMR , Fall Laskowska, Appl 77.765/01, Z 51, 54).

Der effektive Zugang zum Gericht sei jedoch nicht absolut und könne auch beschränkt werden. Die Beigebung eines unentgeltlichen Verfahrenshelfers könne beispielsweise von der finanziellen Situation der Partei, deren (mangelnden) Erfolgsaussichten im Verfahren, den begrenzten Mitteln der öffentlichen Hand sowie der Rechte Dritter und der Beschleunigung des Verfahrens abhängig gemacht werden (EGMR, Fall Laskowska, Z 52). Grundsätzlich kein Gebot zur Beigebung eines unentgeltlichen Verfahrenshelfers bestehe dann, wenn ein Fall nicht derart komplex sei, sodass die Partei ihre Interessen selbstständig vertreten könne (EGMR , Fall Aliyeva, Appl 272/03 [Zulässigkeitsentscheidung]). Die in der älteren Rechtsprechung noch vertretene Auffassung, wonach auch ein genereller Ausschluss der Beigebung eines unentgeltlichen Verfahrenshelfers in bestimmten Verfahren gerechtfertigt sein könne (EGMR , Fall Winer, DR 48, 154 [171 f.], zu Verfahren wegen übler Nachrede), wurde mittlerweile aufgegeben; es komme stets auf die Umstände des Einzelfalles an (EGMR , Fall Steel and Morris, Appl 68.417/01, Z 61).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union erfordere der in Art 47 GRC verankerte Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der Prozesskostenhilfe eine Beschränkung des Rechtes auf Zugang zu den Gerichten darstellten, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigten, ob sie einem legitimen Zweck dienten und ob die angewendeten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stünden (, Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH, Slg. 2010, I-13849). Im Rahmen dieser Würdigung könne der Richter den Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers, die Bedeutung des Rechtsstreites für diesen, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die Fähigkeiten des Klägers berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu verteidigen.

4.2. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art 47 GRC und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art 6 EMRK kommt es somit für die Beurteilung, ob ein Anspruch auf Verfahrenshilfe besteht, auf die Umstände des Einzelfalles an.

Dabei ist zu beachten, dass die Garantien in Abhängigkeit von der Materie, dem Verfahrensgegenstand und von der Instanz in unterschiedlichem Maße gelten, das wiederum vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bestimmt ist (VfSlg 19.632/2012).

4.3. Soweit im jeweiligen Abgabenverfahren Art 47 GRC bzw Art 6 EMRK anzuwenden sein sollte, dürfte mit diesen Vorgaben eine gesetzliche Regelung wie jene des § 292 Abs 1 BAO nicht vereinbar sein: Die Vorschrift scheint – nach der vorläufigen Annahme des Verfassungsgerichtshofes – den Anspruch auf Verfahrenshilfe ausnahmslos auszuschließen, wenn keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art vorliegen. Dabei dürfte ohne Belang sein, ob im jeweiligen Einzelfall von vornherein Schwierigkeiten tatsächlicher Art, etwa im Hinblick auf die Ermittlung des Sachverhaltes, bestehen. Auch scheint es nicht auf die Fähigkeiten des Antragstellers anzukommen, sein Anliegen wirksam zu vertreten.

4.4. Außer im Fall des Vorliegens besonderer Schwierigkeiten rechtlicher Art, dürfte § 292 Abs 1 BAO damit auch entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zu Art 47 GRC bzw des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art 6 EMRK nicht erlauben, auf die Umstände des Einzelfalles hinreichend Bedacht zu nehmen.

5. Daran dürfte auch der Umstand, dass nach § 113 BAO Parteien, die nicht durch berufsmäßige Parteienvertreter vertreten sind, auf Verlangen hinsichtlich der Vornahme ihrer Verfahrenshandlungen die nötigen Anleitungen zu geben sind und gemäß § 115 BAO die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse von Amts wegen zu erforschen sind, nichts ändern. Auf Grund der Vielzahl der dem Bundesfinanzgericht zur Entscheidung übertragenen abgabenrechtlichen Rechtsfragen scheint es nicht ausgeschlossen, dass auch in bestimmten Verfahren mit Rechtsfragen geringerer Komplexität die Beigebung eines Verfahrenshelfers unumgänglich erscheinen kann, zumal Verwaltungsgerichten eine rechtsstaatliche Filterfunktion zukommt und die Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes im Instanzenzug seit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl I 51/2012, nur noch bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung erfolgt (VfSlg 19.989/2015). Vor diesem Hintergrund vermag der Verfassungsgerichtshof vorläufig keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, dass im Abgabenverfahren – anders als nach § 8a VwGVG – die Verfahrenshilfe ausnahmslos nur in jenen Fällen gewährt werden kann, die besonders schwierige Rechtsfragen aufwerfen.

Im Gesetzesprüfungsverfahren wird auch zu prüfen sein, ob der Tatbestand 'besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art' einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist, die eine umfassende Berücksichtigung sämtlicher rechtlich relevanter Umstände, die den effektiven Zugang zum Gericht beschränken können, erlaubt."

4. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken wie folgt entgegentritt (Hervorhebungen wie im Original):

"[…]

1. Zu den Bedenken im Hinblick auf Art 6 EMRK:

Was die Bedenken im Hinblick auf Art 6 EMRK anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung im Abgabenverfahren nach der BAO regelmäßig nicht anwendbar ist.

Abgaben sind im Allgemeinen keine 'zivilrechtlichen Ansprüche' iS des Art 6 Abs 1 EMRK; sie betreffen vielmehr den Kernbereich des öffentlichen Rechts (vgl dazu etwa Sutter/Urtz in FS Ritz, Die BAO im Zentrum der Finanzverwaltung (2015) 309 (311) mwN.).

Anders verhält es sich im Hinblick auf Finanzstrafverfahren: Die Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK kommen, weil es sich um eine 'strafrechtliche Anklage' iS des Art 6 Abs 1 leg. cit. handelt, im Finanzstrafverfahren regelmäßig zur Anwendung. Die Gewährung von Verfahrenshilfe wird in derartigen Verfahren insbesondere durch § 77 Abs 3 FinStrG sichergestellt.

Da sohin die Vorgaben des Art 6 EMRK für Abgabenverfahren grundsätzlich nicht einschlägig sind, geht die Bundesregierung in der Folge iW auf die sich aus Art 47 GRC ergebenden grundrechtlichen Verpflichtungen näher ein.

2. Zu den Bedenken im Hinblick auf Art 47 GRC:

Obgleich prima facie nicht ersichtlich ist, inwieweit der Sachverhalt, der dem Prüfungsbeschluss zugrunde liegt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl in diesem Sinne etwa , Pólus Vegas Kft, Rz. 24), führt – wie zu zeigen sein wird – § 292 Abs 1 BAO zu keiner Verletzung des Art 47 GRC.

a.) Allgemeines zu Art 47 GRC:

Art47 GRC garantiert jedem Rechtsunterworfenen, dessen durch das Unionsrecht gewährleistete Rechte verletzt worden sind, einen wirksamen [Rechtsbehelf] bei einem Gericht und eröffnet dem Rechtsunterworfenen den Zugang zu diesem Gericht (Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2, Art 47, Rz. 20 mwN.). In diesem Zusammenhang spielt das in Art 47 Abs 3 GRC verbriefte Recht auf Verfahrenshilfe eine wichtige Rolle; dieses ist an zwei Voraussetzungen geknüpft (vgl in diesem Sinne VfSlg 20.156/2017):

Erstens darf der Rechtsunterworfene, der Verfahrenshilfe anstrebt, nicht über ausreichende Mittel verfügen;

zweitens muss die Verfahrenshilfe erforderlich sein, um den Zugang zu Gericht wirksam zu gewährleisten.

Art47 Abs 3 GRC ist jedoch nicht als absolutes Recht ausgestaltet (vgl in diesem Sinne auch VfSlg 19.989/2015, worin auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abgestellt wird). Der Gesetzgeber ist vielmehr ermächtigt die Voraussetzungen für die Anwendung des Art 47 Abs 3 GRC näher zu determinieren und allfällige weitere Voraussetzungen festzulegen (vgl Kröll in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar2, Art 47, Rz. 81 mwN.).

Als Folge daraus hat der erkennende Richter im Einzelfall zu prüfen, 'ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe eine Beschränkung des Rechts auf Zugang zu den Gerichten darstellen, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigen, ob sie einem legitimen Zweck dienen und ob die angewandten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.

Im Rahmen dieser Würdigung kann der nationale Richter den Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers, die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die Fähigkeit des Klägers berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu verteidigen. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit kann der nationale Richter auch der Höhe der vorzuschießenden Gerichtskosten sowie dem Umstand Rechnung tragen, ob sie für den Zugang zum Recht gegebenenfalls ein unüberwindliches Hindernis darstellen oder nicht.' (, DEB, Rz. 60 und 61).

b.) Zum Kriterium der 'Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens':

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (, DEB, Rz. 61) – gleiches gilt für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl in diesem Sinne etwa EGMR , Airey, Nr 6289/73, Rz. 26; EGMR , Steel und Morris, Nr 68416/01, Rz. 61 uva) – ergibt sich sohin, dass unterschiedliche Kriterien berücksichtigt werden können, um festzustellen, ob ein Recht auf Verfahrenshilfe zuzuerkennen ist oder nicht. Dabei gilt die 'Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens' als ein zentraler Aspekt, der den Ausschlag für oder gegen die Gewährung von Prozesskostenhilfe geben kann.

Nach Ansicht der Bundesregierung widerspricht es nicht den Vorgaben des Art 47 GRC, wenn der Gesetzgeber dieses eine Kriterium explizit im Gesetzestext übernimmt. Hierdurch wird sichergestellt, dass im Fall der Erfüllung der Bedingungen des § 292 Abs 1 Z 1 und 2 BAO – sprich Fehlen ausreichender Mittel, Fehlen offenbarer Mutwilligkeit und Fehlen der Aussichtslosigkeit einer Rechtsverfolgung − bei komplexen Rechtsfragen eine Verfahrenshilfe zuzuerkennen ist, womit einhergehend der Zugang zum Gericht gewahrt wird.

Selbst der Verfassungsgerichtshof hat die Bedeutung des Kriteriums der 'Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens' anerkannt. So heißt es im Erkenntnis VfSlg 13.909/1994 (Hervorhebung nicht im Original): 'Der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann – so scheint es dem Verfassungsgerichtshof – sicher abstrakt in einer typisierenden Umschreibung Rechnung getragen werden (…)'. Wenn aber die Schwierigkeit der Rechtslage abstrakt umschrieben werden kann, sollte es auch zulässig sein dieses Kriterium im Gesetzestext aufzunehmen.

Das Fehlen des genannten Kriteriums im Gesetzestext hat offenbar nicht unwesentlich dazu beitragen, dass im damaligen Erkenntnis eine Verfassungswidrigkeit, genauer ein Verstoß gegen Art 6 Abs 3 litc EMRK, festgestellt wurde. Das FinStrG sah nämlich ursprünglich in § 77 Abs 3 vor, dass die Beigabe eines kostenlosen Verteidigers nur in Fällen der obligatorischen Zuständigkeit des Spruchsenates (vgl dazu § 58 Abs 2 lita FinStrG) möglich ist. Damit wurde die Beigabe eines Verteidigers in den Fällen der bloß fakultativen Zuständigkeit des Spruchsenates (vgl dazu § 58 Abs 2 litb FinStrG) selbst dann ausgeschlossen, wenn aufgrund des Auftretens diffiziler Rechtsfragen das 'Interesse der Rechtspflege' iS des Art 6 Abs 3 litc EMRK die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten hätte (vgl dazu insbesondere VfSlg 13.909/1994). Mit anderen Worten, hätte der Gesetzgeber von vornherein vorgesehen, dass für komplexe Sach- und Rechtsfragen jedenfalls ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden kann, wäre es wohl zu keiner Verletzung des Art 6 EMRK gekommen. Folglich dürfte auch das in § 292 Abs 1 BAO vorgesehene Anknüpfen an komplexe Rechtsfragen mit Art 47 GRC im Einklang stehen.

Würde – entgegen der hier vertretenen Ansicht − das Abstellen auf komplexe Rechtsfragen in § 292 Abs 1 BAO tatsächlich Art 47 GRC verletzen, müsste konsequenterweise selbiges für andere vom Europäischen Gerichtshof anerkannte Kriterien – zu denken ist etwa an 'die Erfolgsaussichten des Klägers' ua − gelten. Diesfalls wären zahlreiche Prozesskostenhilferegelungen grundrechtswidrig: So wären neben den in § 292 Abs 1 Z 2 BAO genannten Kriterien der fehlenden Mutwilligkeit bzw Aussichtslosigkeit einer Rechtsverfolgung etwa auch die in Art 146 Abs 2 der Verfahrensordnung des Gerichts (der Europäischen Union) genannten Aspekte der offensichtlichen Unzuständigkeit, Unzulässigkeit oder fehlenden rechtlichen Grundlage einer Rechtsverfolgung grundrechtswidrig. Gleiches gälte wohl auch für die Verfahrenshilferegelung in § 63 der Zivilprozessordnung (ZPO), die neben der Mittelosigkeit der Partei (bloß) auf die Mutwilligkeit und die Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung abstellt. Die Tatsache, dass weder in der Verfahrensordnung des Gerichts noch in der ZPO sämtliche von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (bzw des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte) entwickelten Kriterien angeführt werden, führt nicht zu deren Verfassungswidrigkeit (vgl im Übrigen , worin [der] Verwaltungsgerichtshof klargestellt hat, dass '(…) ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe bzw Verfahrenshilfe gegebenenfalls (…) direkt auf Basis von Art 47 Abs 3 GRC zu gewähren ist.')

Nach Auffassung der Bundesregierung ginge ein derartiges Verständnis des Art 47 Abs 3 GRC zu weit.

c.) Zum Vorliegen ausreichender Komplementär- bzw Alternativmechanismen:

Im Hinblick auf die vom Verfassungsgerichtshof im Gesetzesprüfungsbeschluss geäußerten Bedenken, dass auch die § 113 und 115 BAO an den Zweifeln bzgl. der Verfassungskonformität des § 292 Abs 1 BAO nichts zu ändern vermögen, ist Folgendes zu bemerken:

Wesentlich für die Ausgestaltung des § 292 BAO, insbesondere das Anknüpfen an 'besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art' bei der Entscheidung von Rechtsfragen, ist der Umstand, dass hinsichtlich des Zugangs zum Bundesfinanzgericht keine Anwaltspflicht – wie etwa in § 24 Abs 2 VwGG – besteht. Auch bestehen keine Schwellen finanzieller Natur, insbesondere sind für das Verfahren vor dem Bundesfinanzgericht (im Gegensatz zu den Verfahren vor den Landesverwaltungsgerichten bzw dem Bundesverwaltungsgericht) keine Pauschalgebühren auszulegen.

Darüber hinaus stellen die in § 115 BAO verankerte Offizialmaxime sowie der Untersuchungsgrundsatz – als ausgleichendes Element im Verhältnis Abgabepflichtiger/Fiskus – prägende, wesentliche Prinzipien des Abgabenverfahrensrechts dar. Ausgehend davon ist die BAO in einer Art und Weise ausgestaltet, dass auch der unvertretene Abgabepflichtige (in weniger komplexen Verfahren) in die Lage versetzt wird, seine Anbringen ohne Nachteile selbst vor die Behörde zu bringen sowie gegen Entscheidungen derselben ein Rechtsmittel ergreifen zu können.

Die Manuduktionspflicht der Behörde gegenüber der unvertretenen Partei in § 113 BAO ist eines der Instrumente, die jene in § 115 BAO statuierten Grundsätze ausgestalten. Darüber hinaus normiert § 85 BAO wesentliche Beschränkungen der Abgabenbehörde im Hinblick auf die Zurückweisung von Anbringen und sieht zugunsten der Parteien als Regelfall den Auftrag zur Behebung von Mängeln vor; ebenso erleichtert die prinzipielle Möglichkeit zur Erstattung mündlicher Anbringen den Zugang der Abgabepflichtigen zur Behörde. Zudem gilt im Abgabenverfahrensrecht unstrittig das aus § 115 BAO resultierende Prinzip, wonach bei Anbringen mit unklarem Inhalt die Absicht der Partei zu erforschen ist (so sowie Ritz, BAO6, § 85, Rz 1 mwN). Gerade aufgrund dieser Grundsätze des Abgabenverfahrensrechts, insbesondere des Amtswegigkeitsgrundsatzes und der Manuduktionspflicht, kommt daher nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes 'der Beigebung eines Rechtsanwaltes als Verfahrenshelfer im Verfahren der Verwaltungsgerichte Ausnahmecharakter zu.' (). Diese Schlussfolgerung deckt sich im Übrigen mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wonach Art 6 EMRK nicht dahin ausgelegt werden darf, dass die Vertragsstaaten verpflichtet sind, systematisch Verfahrenshilfe zu leisten (vgl in diesem Sinne etwa EGMR , Foltis, Nr 56778/10, Rz. 37 uva). Gleiches gilt sinngemäß für Art 47 GRC.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich nach Ansicht der Bundesregierung die skizzierten Alternativmechanismen (der BAO) als hinreichend effektiv, um einen effektiven Zugang zu Gericht iS des Art 47 GRC zu gewährleisten (vgl in diesem Sinne auch , worin der Verwaltungsgerichtshof unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen [Gerichtshofes] für Menschenrechte zur Rs Airey ua klarstellt (Hervorhebung nicht im Original):

'(…) allerdings folge aus der Verpflichtung, Zugang zum Gericht zu gewährleisten, nicht zwangsläufig die generelle Verpflichtung der Vertragsstaaten, in Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen Verfahrenshilfe zu gewähren; es stehe jedem Staat frei, in welcher Weise er seine Verpflichtung erfülle, dem Einzelnen wirksamen Zugang zu den Zivilgerichten zu verschaffen; die Gewährung von Prozesskostenhilfe sei nur eine von denkbaren Möglichkeiten; eine Vereinfachung des Verfahrens stelle eine weitere Möglichkeit dar, denn nicht in allen Fällen sei es dem Einzelnen unzumutbar, seinen Fall persönlich, ohne Hilfe eines Anwalts, dem Gericht vorzutragen.').

d.) Zur Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung:

Obwohl der Gesetzgeber bei Schaffung des § 292 Abs 1 BAO von einem ausdrücklichen Hinweis auf Art 6 Abs 1 und Abs 3 litc EMRK bzw Art 47 GRC, so wie in den § 8a und 40 VwGVG, Abstand genommen hat, schadet dies nicht. Die parlamentarischen Materialien iZm der Einführung einer Verfahrenshilfe in Abgabenverfahren legen vielmehr den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber in der BAO, im Vergleich zu den Bestimmungen des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, kein grundlegend anderes Verständnis der objektiven Voraussetzungen einer Verfahrenshilfe schaffen wollte (vgl ErläutRV 1352 BlgNR XXV. GP 1, wonach die Norm des § 292 BAO zur Herstellung einer dem Art 47 GRC entsprechenden Rechtslage dienen sollte).

Im Zuge einer unions- und verfassungsrechtskonformen Interpretation der in § 292 Abs 1 BAO verwendeten Wortfolge der 'besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art' werden für das Vorliegen dieser objektiven Voraussetzung der Bewilligung von Verfahrenshilfe (auch im Abgabenverfahren) daher die in der Rsp des EGMR zu Art 6 EMRK (zB EGMR , 12744/87, Quaranta/Schweiz, ÖJZ1991, 16) und EuGH zu Art 47 GRC (zB , DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH) herausgebildeten Kriterien, insbesondere jenes der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung, maßgeblich sein (vgl auch ErläutRV 1255 BlgNR XXV. GP 2, unter Hinweis auf ). Dabei ist die Bewilligung von Verfahrenshilfe in Abgabenverfahren davon abhängig, inwieweit die Beigebung eines Verfahrenshelfers aufgrund der Komplexität der strittigen Rechtsfragen zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung der Partei tatsächlich erforderlich ist (vgl in diesem Sinne ; , und , jeweils mwN).

Sollte es für grundrechtswidrig erachtet werden, dass der Tatbestand 'besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art' in § 292 Abs 1 BAO ein objektives Kriterium darstellt, das unabhängig vom den Umständen des Einzelfalles – sprich abstrakt (vgl dazu VfSlg 13.909/1994) – geprüft wird, so stellt die Bundesregierung zur Erwägung, das Kriterium subjektiv – d.h. abhängig von der jeweiligen Situation des betroffenen Beschwerdeführers – auszulegen.

4. Zusammenfassung:

Zusammenfassend wird festgehalten, dass der in Prüfung gezogene § 292 Abs 1 BAO nach Ansicht der Bundesregierung nicht verfassungswidrig ist. Die BAO enthält – ausgehend von den in § 115 BAO formulierten maßgeblichen Verfahrensgrundsätzen – ein ausgewogenes Instrumentarium zur Wahrung der Parteiinteressen, das in besonderem Maße darauf Bezug nimmt, dass Parteien unvertreten sind.

Sollten die Darlegungen der Bundesregierungen […] nicht überzeugen, besteht berechtigter Grund zur Annahme, dass eine verfassungskonforme Auslegung möglich und im Hinblick auf den historischen Willen des Gesetzgebers auch geboten ist (vgl Unger, Verfahrenshilfe in Abgabensachen Teil I: Fragen und Antworten, taxlex 2017, 163)."

II. Rechtslage

Die maßgebliche Bestimmung des § 292 Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl 194/1961, in der Fassung BGBl I 117/2016 lautet wie folgt (der in Prüfung gezogene Absatz ist hervorgehoben):

"27. Verfahrenshilfe

§292. (1) Auf Antrag einer Partei (§78) ist, wenn zu entscheidende Rechtsfragen besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweisen, ihr für das Beschwerdeverfahren Verfahrenshilfe vom Verwaltungsgericht insoweit zu bewilligen,

1. als die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten und

2. als die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

(2) Als notwendiger Unterhalt ist derjenige Unterhalt anzusehen, den die Partei für sich und ihre Familie, für deren Unterhalt sie zu sorgen hat, zu einer einfachen Lebensführung benötigt.

(3) Einer juristischen Person oder einer Personenvereinigung (Personengemeinschaft) ohne eigene Rechtspersönlichkeit ist die Verfahrenshilfe insoweit zu bewilligen,

1. als die zur Führung des Verfahrens erforderlichen Mittel weder von ihr noch von den an der Führung des Verfahrens wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und

2. als die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

(4) Ein wirtschaftlich Beteiligter (Abs3 Z 1) ist eine Person, auf deren Vermögenssphäre sich der Ausgang des Beschwerdeverfahrens nicht ganz unerheblich auswirkt und bei der es – auch aus diesem Grund – als zumutbar angesehen werden kann, von dieser Person eine Finanzierung der Verfahrenskosten zu verlangen.

(5) Offenbar aussichtslos ist eine Beschwerde insbesondere bei Unschlüssigkeit des Begehrens oder bei unbehebbarem Beweisnotstand. Bei einer nicht ganz entfernten Möglichkeit des Erfolges liegt keine Aussichtslosigkeit vor. Mutwillig ist eine Beschwerde dann, wenn sich die Partei der Unrichtigkeit ihres Standpunktes bewusst ist oder bewusst sein muss.

(6) Der Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ist bis zur Vorlage der Bescheidbeschwerde bei der Abgabenbehörde, ab Vorlage der Beschwerde beim Verwaltungsgericht einzubringen. Wird der Antrag vor Ablauf der Frist zur Einbringung einer Bescheidbeschwerde beim Verwaltungsgericht eingebracht, so gilt dies als rechtzeitige Einbringung. Für Verfahren über Maßnahmenbeschwerden (§283) und über Säumnisbeschwerden (§284) ist der Antrag beim Verwaltungsgericht einzubringen. Wird der Antrag vor Ablauf der Frist zur Einbringung einer Maßnahmenbeschwerde bei der Abgabenbehörde eingebracht, so gilt dies als rechtzeitige Einbringung.

(7) Der Antrag kann gestellt werden

1. ab Erlassung des Bescheides, der mit Beschwerde angefochten werden soll bzw

2. ab dem Zeitpunkt, in dem der Betroffene Kenntnis von der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt erlangt hat bzw

3. nach Ablauf der für Säumnisbeschwerden nach § 284 Abs 1 maßgebenden Frist.

(8) Der Antrag hat zu enthalten

1. die Bezeichnung des Bescheides (Abs7 Z 1) bzw der Amtshandlung (Abs7 Z 2) bzw der unterlassenen Amtshandlung (Abs7 Z 3),

2. die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt,

3. die Entscheidung der Partei, ob der Kammer der Wirtschaftstreuhänder oder der Rechtsanwaltskammer die Bestellung des Verfahrenshelfers obliegt,

4. eine Darstellung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers und der wirtschaftlich Beteiligten.

(9) Ein bei der Abgabenbehörde vor Vorlage der Bescheidbeschwerde eingebrachter Antrag ist unter Anschluss der Verwaltungsakten unverzüglich dem Verwaltungsgericht vorzulegen.

(10) Das Verwaltungsgericht hat über den Antrag mit Beschluss zu entscheiden. Hat das Gericht die Bewilligung der Verfahrenshilfe beschlossen, so hat es die Kammer der Wirtschaftstreuhänder bzw die Rechtsanwaltskammer hievon zu benachrichtigen.

(11) Die Kammer der Wirtschaftstreuhänder bzw die Rechtsanwaltskammer hat mit Beschluss den Wirtschaftstreuhänder bzw Rechtsanwalt zu bestellen, dessen Kosten die Partei nicht zu tragen hat. Wünschen der Partei über die Auswahl der Person des Wirtschaftstreuhänders oder Rechtsanwaltes ist im Einvernehmen mit dem namhaft gemachten Wirtschaftstreuhänder bzw Rechtsanwalt nach Möglichkeit zu entsprechen. Von der Bestellung sind die Abgabenbehörde und das Verwaltungsgericht zu verständigen.

(12) Wird der Antrag auf Verfahrenshilfe innerhalb einer für die Einbringung der Beschwerde (§243, § 283), des Vorlageantrages (§264) oder einer im Beschwerdeverfahren gegenüber dem Verwaltungsgericht einzuhaltenden Frist gestellt, so beginnt diese Frist mit dem Zeitpunkt, in dem

1. der Beschluss über die Bestellung des Wirtschaftstreuhänders bzw Rechtsanwaltes zum Vertreter und der anzufechtende Bescheid dem Wirtschaftstreuhänder bzw Rechtsanwalt bzw

2. der den Antrag nicht stattgebende Beschluss der Partei

zugestellt wurde, von neuem zu laufen.

(13) Die Bewilligung der Verfahrenshilfe ist vom Verwaltungsgericht zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für die Bewilligung nicht mehr gegeben sind oder wenn das Vorhandensein der Voraussetzungen auf Grund unrichtiger oder irreführender Angaben der Partei zu Unrecht angenommen worden ist.

(14) Der Bund hat der Kammer der Wirtschaftstreuhänder und dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag jährlich spätestens zum 30. September für die im abgelaufenen Kalenderjahr erbrachten Leistungen der nach Abs 11 bestellten Wirtschaftstreuhänder und Rechtsanwälte eine angemessene Pauschalvergütung zu zahlen, deren Höhe durch Verordnung des Bundesministers für Finanzen festzusetzen ist. Die Festsetzung hat anhand der Anzahl der jährlichen Bestellungen und des Umfanges der erbrachten Leistungen zu erfolgen."

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung im Anlassbeschwerdeverfahren zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Gesetzesprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 292 Abs 1 Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl 194/1961, in der Fassung BGBl I 117/2016 konnten im Gesetzesprüfungsverfahren zerstreut werden:

2.1. § 292 Abs 1 BAO sieht für die Gewährung von Verfahrenshilfe vor, dass zu entscheidende Rechtsfragen besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweisen. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes gingen dahin, dass die Regelung gegen Art 47 GRC bzw Art 6 EMRK verstoße, weil sie den Anspruch auf Verfahrenshilfe ausnahmslos auszuschließen scheine, wenn keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher Art vorlägen, wobei ohne Belang erscheine, ob im jeweiligen Einzelfall von vornherein Schwierigkeiten tatsächlicher Art, etwa im Hinblick auf die Ermittlung des Sachverhaltes, bestehen und es auch nicht auf die Fähigkeiten des Antragstellers anzukommen scheine, sein Anliegen wirksam zu vertreten.

2.2. Die Bundesregierung vertritt dazu in ihrer Stellungnahme, dass Art 47 Abs 3 GRC nicht als absolutes Recht ausgestaltet sei, sondern vielmehr der Gesetzgeber ermächtigt sei, die Voraussetzungen für die Anwendung des Art 47 Abs 3 GRC näher zu determinieren. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sei die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens ein zentraler Aspekt, der den Ausschlag für oder gegen die Gewährung von Prozesskostenhilfe geben könne. Nach Ansicht der Bundesregierung widerspreche es daher nicht den Vorgaben des Art 47 GRC, wenn der Gesetzgeber dieses Kriterium explizit im Gesetzestext übernehme. Wenn in der gesetzlichen Bestimmung nicht sämtliche von der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union bzw des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelten Kriterien angeführt werden, führe dies nicht zur Verfassungswidrigkeit der betreffenden Bestimmung.

Die Bundesregierung führt weiters aus, dass die in § 115 BAO verankerte Offizialmaxime sowie der Untersuchungsgrundsatz prägende wesentliche Prinzipien des Abgabenverfahrens seien und die Manuduktionspflicht gemäß § 113 BAO eines der Instrumente sei, die die in § 115 BAO statuierten Grundsätze ausgestalten. Auch nach der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes komme daher der Beigebung eines Rechtsbeistandes als Verfahrenshelfer im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten Ausnahmecharakter zu. Dementsprechend bestehe nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte für die Vertragsstaaten keine Verpflichtung, systematisch Verfahrenshilfe zu gewähren. Vor diesem Hintergrund würden sich die "Alternativmechanismen" der BAO als hinreichend effektiv erweisen.

Schließlich legten die parlamentarischen Materialien iZm der Einführung der Verfahrenshilfe in Abgabensachen den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber der BAO im Vergleich zu den Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes kein grundlegend anderes Verständnis der objektiven Voraussetzungen einer Verfahrenshilfe schaffen wollte. Im Zuge einer unions- und verfassungsrechtskonformen Auslegung der Wortfolge "besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art" seien daher die vom Gerichtshof der Europäischen Union herausgebildeten Kriterien, insbesondere jenes der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung, maßgeblich. Sollte es für grundrechtswidrig erachtet werden, dass der Tatbestand "besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art" ein objektives Kriterium darstelle, so stellt die Bundesregierung zur Erwägung, das Kriterium subjektiv, d.h. abhängig von der jeweiligen Situation des betroffenen Antragstellers, auszulegen.

2.3. Der Verfassungsgerichtshof geht mit der Bundesregierung davon aus, dass mit Blick auf Abgabenverfahren, in denen das Recht der Europäischen Union durchzuführen ist, zu prüfen ist, ob § 292 BAO den Vorgaben des Art 47 GRC – der insoweit mit Art 6 EMRK übereinstimmt – entspricht. Hiebei ist von folgenden Erwägungen auszugehen:

2.3.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in VfSlg 19.632/2012 ausgeführt, dass auch Rechte der Grundrechte-Charta als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art 144 B-VG geltend gemacht werden können und sie "im Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta" einen Prüfungsmaßstab im Verfahren der generellen Normenkontrolle, insbesondere nach Art 139 und Art 140 B-VG bilden (VfSlg 19.632/2012, 220 f.).

2.3.2. Art 47 Abs 3 GRC bestimmt, dass Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt wird, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.

2.3.3. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union – der sich dabei auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bezieht (EGMR , Fall Airey/Irland, Appl 6.6289/73, Z 26; , Fall McVicar/Vereinigtes Königreich, Z 48 und 49; , Fall P., C. und S./Vereinigtes Königreich, Appl 56.547/00, Z 91; , Fall Steel und Morris/Vereinigtes Königreich, Appl 68.416/01, Z 61) – erfordert der in Art 47 GRC verankerte Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes die Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der Prozesskostenhilfe eine Beschränkung des Rechtes auf Zugang zu den Gerichten darstellten, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigten, ob sie einem legitimen Zweck dienten und ob die angewendeten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stünden (, Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH, Slg. 2010, I-13849). Im Rahmen dieser Würdigung könne der Richter den Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Rechtsschutzsuchenden, die Bedeutung des Rechtsstreites für diesen, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die Fähigkeiten des Rechtsschutzsuchenden berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu vertreten.

2.4. Entgegen der vorläufigen Annahme des Verfassungsgerichtshofes kann § 292 Abs 1 BAO – wie dies auch von der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme vertreten wird – im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben im Einzelfall interpretiert werden:

2.4.1. Wenngleich der Wortlaut der Vorschrift zunächst nahelegen könnte, dass die Gewährung von Verfahrenshilfe nur zulässig ist, wenn im Verfahren objektiv schwierige Fragen rechtlicher Art zu entscheiden sind, steht er nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes – auch ausgehend davon, dass der Gesetzgeber die Einführung der Verfahrenshilfe für Verfahren vor dem Bundesfinanzgericht "zur Herstellung einer dem Art 47 GRC entsprechenden Rechtslage" intendiert hat (Erläut zur RV 1352 BlgNR 25. GP, 1) – einer Anwendung der Bestimmung im Einzelfall nicht entgegen, die den oben dargestellten Kriterien folgt:

Die Wendung "dass zu entscheidende Rechtsfragen besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweisen" erfordert und erlaubt eine Prüfung, ob im konkreten Einzelfall für den Antragsteller besondere Schwierigkeiten bestehen. Dabei sind alle Umstände des Falles wie der Streitgegenstand, die begründeten Erfolgsaussichten des Rechtsschutzsuchenden, die Bedeutung des Rechtsstreites für diesen, die Komplexität des geltenden Rechtes und des anwendbaren Verfahrens sowie die Fähigkeiten des Rechtsschutzsuchenden, sein Anliegen wirksam zu verteidigen, abzuwägen.

2.4.2. Damit schließt § 292 Abs 1 BAO die Gewährung von Verfahrenshilfe im Einzelfall nicht schon deshalb aus, weil objektiv keine komplexe, besonders schwierige Frage rechtlicher Art vorliegt. In verfassungskonformer Auslegung können zum einen auch besondere Schwierigkeiten bei der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes, also Fragen tatsächlicher Natur, einen Anspruch auf Verfahrenshilfe begründen, zumal Tatsachenfragen regelmäßig in Rechtsfragen münden; und zum anderen sind stets auch die Fähigkeiten des betroffenen Antragstellers zu berücksichtigen, sein Anliegen wirksam zu vertreten.

2.4.3. Schließlich ist, und damit folgt die Regelung auch insoweit den verfassungsrechtlichen Vorgaben, nach § 292 Abs 1 BAO Voraussetzung, dass die Partei außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhaltes zu bestreiten und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

2.5. Im Ergebnis ist eine verfassungskonforme Interpretation der Bestimmung des § 292 Abs 1 BAO in diesem Sinne im Einklang mit den Vorgaben der im Einzelfall anwendbaren verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien jedenfalls möglich und daher geboten.

IV. Ergebnis

1. Die in Prüfung gezogene Bestimmung des § 292 Abs 1 BAO, BGBl 194/1961, in der Fassung BGBl I 117/2016 ist somit nicht als verfassungswidrig aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß § 19 Abs 4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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ECLI:
ECLI:AT:VFGH:2020:G302.2019
Schlagworte:
Finanzverfahren, Verfahrenshilfe, Auslegung verfassungskonforme, EU-Recht, VfGH / Prüfungsgegenstand

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